Festakt anlässlich 125 Jahre Gesamtmetall

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 12. Juni 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 12. Juni am Festakt anlässlich 125 Jahre Gesamtmetall im Berliner Ensemble teilgenommen. In seiner Rede sagte er: "Die Gelegenheit, unsere Wirtschaft stärker auf die länger lebende Gesellschaft auszurichten, diese Gelegenheit bietet sich jetzt – jetzt, an der Schwelle zum digitalen Industriezeitalter, da uns ohnehin einschneidende Veränderungen der Arbeitswelt bevorstehen."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede beim Festakt anlässlich 125 Jahre Gesamtmetall im Berliner Ensemble

Herzlichen Glückwunsch zum 125-jährigen Bestehen von Gesamtmetall! Ich freue mich, diesen Tag gemeinsam mit Ihnen feiern zu können. Tatsächlich habe ich nicht gewusst, dass zum ersten Mal ein Bundespräsident dabei ist. Und es hat sich so gefügt in meinem Terminplan, dass ich gestern in einem Unternehmen war, das Mitglied Ihres Verbandes ist.

Für diesen Festtag haben Sie sich einen merkwürdigen Ort ausgesucht. Ich weiß nicht so recht, welcher Hintersinn da waltete. Denn an diesem Ort, im Theater am Schiffbauerdamm, da fällt einem doch angesichts der vielen Stücke, die hier von Brecht und anderen gegeben wurden, erst einmal das Wort Klassenkampf ein. Und das ist ja ein Thema, das für die deutsche Gesellschaft nun Gott sei Dank nicht mehr im Vordergrund steht und für die Arbeitnehmer im Übrigen auch nicht. Wenn wir uns mit Staaten vergleichen, in denen der Ansatz gewerkschaftlicher Arbeit ein anderer ist und auch die unternehmerische Attitude, dann haben wir doch hier in Deutschland viel zu bieten. Auch darüber wird heute zu reden sein.

Ich bleibe aber noch einen Moment bei diesem Haus. Brecht zog hier 1954 ein. Stalin war gerade gestorben, und der Sozialismus wusste nicht wohin. Brecht war nicht immer angesehen bei denen, denen er sich zugewandt hatte, den herrschenden Kommunisten, weil er einen eigenwilligen Zugang zu den Stoffen gewählt hatte, die das Leben ihm bot. Brecht war also jemand, der mit dem sozialistischen Realismus nicht immer konform ging, aber im Grunde war er dann doch ein treuer Parteigänger und hat sich abgemüht, das Kapital so darzustellen wie es der kommunistischen Lehre entsprach.

Wir könnten aber noch weiter zurückgehen in die Geschichte dieses Hauses – bis in das Jahr 1893. Damals wurden hier erstmals Die Weber von Gerhart Hauptmann gezeigt. Das war damals so aufrührerisch und gesellschaftskritisch, dass die erste Aufführung als geschlossene Veranstaltung deklariert werden musste, als geschlossene Veranstaltung für Vereinsmitglieder, da die Zensurbehörde und das Establishment meinte, die Theateraufführung könnte auch als Aufruf zum Klassenkampf verstanden werden.

Ob nun die schlesischen Weberaufstände, die Gerhart Hauptmann in seinem Drama thematisiert, als Klassenkampf, als Maschinensturm oder als Hungerrevolte zu bewerten sind, darüber gehen die Meinungen auseinander. Den Webern ging es jedenfalls um Existentielles: ums Überleben in einer unbarmherzigen Gesellschaftsordnung und um ihre Arbeit in einer Zeit des Umbruchs. Über ersteres, ums Überleben, brauchen wir heutzutage in unserem Land nicht zu debattieren – Gott sei Dank. Aber der Wandel der Arbeitswelt, der ist auch in unseren Tagen immer wieder ein wichtiges Thema. Und darüber möchte ich heute mit Ihnen nachdenken.

Drei Jahre vor der Erstaufführung der Weber, also inmitten von Protesten und Streiks gegen die Folgen der Industrialisierung, wurde der Verband Deutscher Metallindustrieller gegründet. Diese erste Vorgängerorganisation des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall war die Antwort auf eine zunehmend selbstbewusst auftretende Arbeitnehmerschaft, deren Mai-Kundgebungen sich in diesem Jahr ebenfalls zum 125. Mal jährten. Alarmiert durch die Aktionen der Arbeiter wollten die Fabrikanten mit ihrem neuen Bündnis Stärke demonstrieren und sich mit einer gemeinsamen Streikkasse finanziell gegen Arbeitskämpfe absichern. Es waren konfliktreiche Zeiten, und es war alles andere als klar, dass aus den Bündnissen beider Seiten die gefestigte, produktive Sozialpartnerschaft werden sollte, die aus diesen Anfängen erwachsen ist. Heute blicken wir darauf mit einigem Selbstbewusstsein und einem gewissen Stolz zurück. Mittlerweile kommt es uns nämlich schon wie eine Selbstverständlichkeit vor, wenn Arbeitgeberverband und Gewerkschaft sogar zum Neujahrsempfang gemeinsam einladen, wie in diesem Jahr in Brüssel bei der Europäischen Union. Erst an der Verwunderung der Gäste aus ganz Europa merkten wir Deutsche, wie ungewöhnlich und auch wertvoll die Gemeinsamkeit der Sozialpartner ist. Ich kenne Berichte über ein solches Erstaunen übrigens auch von Unternehmern, die mir erzählen, wie sie angeschaut werden, wenn sie in den Vereinigten Staaten über Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft reden. Wozu das gut sei, werden sie dann gefragt. Dazu später mehr.

Die Geschichte Ihres Verbandes ist geprägt von dem Ringen, das Sie stets mit der IG Metall – ja, ich sage jetzt ganz bewusst – verbunden hat. Auch deren Erster Vorsitzender, Detlef Wetzel, ist heute zu Gast, ein schönes Zeichen, wir freuen uns alle darüber. Oft haben Arbeitgeber und Gewerkschafter nächtelang intensiv gestritten – und am Ende sind manches Mal Meilensteine der Tarifpartnerschaft gesetzt worden. Eines der frühesten und bedeutendsten Beispiele für diese Zusammenarbeit ist das Stinnes-Legien-Abkommen, mit dem Gewerkschafter und Unternehmer sich 1918 gegenseitig als Verhandlungspartner akzeptierten und eine historische Wende vom Klassenkampf zur Kooperation einleiteten. Dieses Abkommen bedeutete nicht nur eine Revolution im Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, es war überhaupt der sozialpolitische Gründungskompromiss der ersten deutschen Demokratie.

Ich muss an dieser Stelle noch einmal kurz innehalten. Denn ich stelle mir vor, was für aufgewühlte Zeiten das damals waren nach dem Kriege, und wie stark die Lager sich einander bekämpften. Das waren ja schon bürgerkriegsähnliche Situationen, wenn wir an den Kapp-Putsch denken, an die Kämpfe an der Ruhr, an eine stark deutsch-nationale Bürgerlichkeit und eine weit vom Kommunismus überzeugte Arbeiterschaft. Es gab große Schwierigkeiten und Differenzen innerhalb der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften. Welchen Weg sollte man gehen? Das alles nachzuzeichnen, würde eine ganze Seminarreihe füllen. Aber wir sollten uns doch zu diesem Jubiläum daran erinnern, denn heute sagt sich das so schnell: Stinnes-Legien-Abkommen. Welche große, auch kulturelle Leistung es gewesen ist, ein Einverständnis zu erzeugen, das der ganzen Gesellschaft nützt, das sollte man sich immer wieder vor Augen führen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der Neuerrichtung der Demokratie im Westen hat man sich wieder an dieses Kooperationsabkommen erinnert. Man konnte es wiederentdecken, musste es nicht neu erfinden.

Gruppeninteressen sind normal, aber wenn die einzelnen Gruppen ein Gemeinschaftsinteresse erkennen und sich dem zuwenden, dann sind Lösungswege möglich. In diesem Sinne bewerte ich auch ein Abkommen der jüngeren Zeit, das Pforzheimer Abkommen von 2004, das befristete Abweichungen vom Tarifvertrag zulässt, wenn damit Beschäftigung gesichert wird. Auch hier hat sich die Erfahrung bewährt, dass in einer sehr komplexen Situation eine Politik des Kopf durch die Wand nicht hilft, sondern wir uns besser auf Kompromisse verständigen. Mir ist bewusst, dass das oft eine schwierige Gratwanderung für die Sozialpartner ist, auch in den jeweils eigenen Reihen. Aber Sie haben es geschafft, und wir konnten immer sagen, es ist gelungen, mehr Menschen in Lohn und Brot zu behalten, die sonst ihren Arbeitsplatz verloren hätten.

Gratwanderungen erleben Sie auch auf anderen Feldern: Ich nenne das Wort Tarifbindung. Indem Ihr Verband sich auch für Unternehmen öffnet, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht länger tariflich binden können oder wollen, bleiben Sie doch eine starke Gemeinschaft. Zugleich riskieren Sie aber auch die kritische Anfrage, wofür diese Gemeinschaft steht. Ich beneide Sie nicht, ich beneide niemanden, der schwierige Kompromisse finden muss, und ich sehe schon, dass das manchmal in ein Dilemma führen kann. Aber ich bin dankbar, dass Sie um solche Kompromisse ringen – auch gemeinsam mit den Gewerkschaften, denen solche Schwierigkeiten in ihrem eigenen Bereich auch nicht fremd sind.

Das Erfolgsgeheimnis der Sozialpartnerschaft ist die gemeinsame Suche nach dem Kompromiss und das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft. Dass mit diesem Ansatz unternehmerischer Erfolg möglich ist, das zeigt die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl, wie es der frühere Gesamtmetall-Präsident Werner Stumpfe zum 100. Verbandsjubiläum gesagt hat, obwohl keine Seite die Gegnerstellung, so nannte er es, je aufgegeben hat, ist Arbeitnehmern und Arbeitgebern das Kunststück gelungen, dass alle profitieren: die Beschäftigten, die Unternehmen und unsere Gesellschaft als Ganzes. Die Sozialpartnerschaft hat unserem Land Wohlstand und sozialen Frieden beschert. Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich im europäischen Vergleich zuletzt glänzend entwickelt, in manchen Regionen herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Auch die Qualität unserer beruflichen Bildung gilt im Ausland als vorbildlich. Ihr Verband hat also allen Grund, dieses Jubiläum zu feiern.

Zur Bedeutung der Metall- und Elektroindustrie für den Wirtschaftsstandort Deutschland brauche ich Ihnen nichts zu erzählen. Ihr Motto sagt es ja schon: Wir sind das Herz der Wirtschaft! Dieses Selbstbewusstsein will ich nicht kritisieren. Aber ein Hinweis sei mir dennoch gestattet: Wenn Sie der Öffentlichkeit bei den nächsten Jubiläen in zehn oder zwanzig Jahren mit dem gleichen Selbstbewusstsein begegnen wollen, dann werden Sie das nur schaffen, wenn Sie die kommenden Jahre als Zeit neuer, großer Herausforderungen begreifen. Nur wenn wir deutlich Ja sagen zu Innovationen, zu bedeutenden Investitionen in Forschung und Neuentwicklung, und wenn uns nicht die Furcht vor Neuinvestitionen lähmt, nur dann wird die Erfolgsgeschichte der deutschen Unternehmen und Ihres Verbandes fortgeschrieben werden können.

Das heutige Jubiläum gibt mir auch die Gelegenheit darauf zu verweisen, dass die Mitbestimmung, ja der ganze Freiraum, in dem die Sozialpartner weitestgehend eigenverantwortlich handeln können, im unfreien Teil Deutschlands ein Gegenmodell hatte, in dem der Staat die Wirtschaft zentral steuerte. Das Ergebnis war Mangel, und zwar Mangel in jeder Hinsicht: Es mangelte nicht nur an Waren, es mangelte uns an Freiheit und Eigenverantwortung, an Unternehmergeist und an Lebenschancen. Als Deutschland dann wieder glücklich vereint war, konnten sich die Soziale Marktwirtschaft und die Sozialpartnerschaft auch in den östlichen Bundesländern bewähren. Aber wenn jahrzehntelang Unternehmersinn, Verantwortungsbereitschaft der einzelnen Individuen, Risikobereitschaft und Innovationsvermögen staatlich gelenkt werden, dann ist das doch eine ganz entscheidende Erfahrung, und es zeigt sich, sie führt zu dem Verlust einer lebendigen Wirtschaft. Der Untergang der Privatwirtschaft, der mittelständischen Unternehmen und jeder Form von unternehmerischer, aber auch gewerkschaftlicher Unabhängigkeit, dieser Untergang ist nicht nur ein ökonomischer Verlust gewesen, sondern auch ein kultureller Verlust. Von diesem Verlust haben sich die Menschen in den östlichen Ländern bis heute nicht völlig erholt. Was über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsen ist, das kann man nicht auf Knopfdruck wiederherstellen. Deshalb spreche ich allen Menschen, die nicht nur in der Verbandsarbeit, sondern auch bei der Errichtung gesunder Unternehmen im Osten des Landes mitwirken, meine besondere Hochachtung und meinen besonderen Respekt aus. Lassen Sie mich dies einfach 25 Jahre nach dem Mauerfall noch einmal erwähnen.

Die Soziale Marktwirtschaft und die Sozialpartnerschaft haben sich auch gegenüber Herausforderungen der jüngeren Zeit – ich denke an die Zeit der Finanzkrise – bewährt. In aller Bescheidenheit können wir feststellen, dass wir im Vergleich zu anderen Ländern auch dank umsichtiger Tarifpolitik und ausgewogener betrieblicher Vereinbarungen ganz gut durch diese Krise gekommen sind.

Aber wer eine Erfolgsgeschichte weiterschreiben will, darf neue Anstrengungen nicht scheuen. Eine alte und immer wieder neue Prüfung für die Sozialpartnerschaft ist der Wandel unserer Arbeitswelt. Vom Aus für die Arbeit, vom Ende der Arbeitsgesellschaft – wie oft war davon schon die Rede. Was, so fragte Hannah Arendt 1958, was könnte verhängnisvoller sein, als die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht? Damals, zu Zeiten des aufblühenden Wirtschaftswunders im Westen fanden ihre Überlegungen noch keinen großen Widerhall. Man konnte sich nicht vorstellen, was Hannah Arendt antizipierte. Das änderte sich aber dramatisch, als die Zeit hoher Arbeitslosenzahlen kam. Manche Autoren landeten Bestseller mit der These, dass es der Kapitalismus selbst sei, der die Arbeit abschaffe. Bewahrheitet haben sich diese Prophezeiungen allerdings bisher nicht. Wenn nicht alles trügt, werden wir auf absehbare Zeit eine Erwerbsgesellschaft bleiben. Aber wir erleben natürlich zugleich dramatische Verschiebungen und Umbrüche in der Arbeitswelt.

Lassen Sie mich auf eine Veränderung eingehen, auf die Industrie 4.0, also die digitale Vernetzung der Industrieproduktion. Sodann beschäftigt uns, dass unsere Erwerbsgesellschaft vor den großen Herausforderungen anderer Art steht, nämlich vor der Herausforderung des demographischen Wandels. Und beides hat vielleicht doch durchaus etwas miteinander zu tun. An der Schwelle zu einem neuen Produktionszeitalter ist unsere Gesellschaft dringend auf Pioniergeist und Innovationsfreude angewiesen, also auf Eigenschaften, die gewöhnlich der jungen Generation zugeschrieben werden. Doch die deutsche Bevölkerung wird nun, das wissen wir alle, bedingt durch Geburtenrückgang und durch eine höhere Lebenserwartung – eigentlich etwas Schönes – sie wird im Ganzen immerfort älter.

Im Jahr 2030 wird bereits ein knappes Drittel der Bürger das 65. Lebensjahr erreicht haben. Für mich ist das ein schönes, blühendes Alter, und ich bin nun der Letzte, der behaupten würde, dass ältere Menschen weniger klug oder innovativ wären. Trotzdem wirft die Alterung unserer Gesellschaft Fragen auf: Etwa, wie organisieren wir das vielgerühmte lebenslange Lernen? Oder, wie erhalten wir uns Neugierde? Wie organisieren wir den Dialog von Alt und Jung? Wie bringen wir die Erfahrung der Alten und die Unbekümmertheit der Jungen zusammen? Ich weiß, in manchen Unternehmen gibt es schon gute Erfahrungen und Antworten. Meine Bitte heute an Sie ist: Behalten Sie diese Antworten, diese positiven Beispiele, nicht für sich. Werben Sie dafür – auch im Kreis Ihrer Kollegen und in unserer Gesellschaft insgesamt!

Die demographischen und digitalen Veränderungen konfrontieren alle, auf die es bei der Gestaltung der Arbeitswelt ankommt, mit weiteren schwierigen Fragen, zum Beispiel: Wie muss sich Arbeit verändern, damit Unternehmen und Mitarbeiter weiterhin den Wohlstand erwirtschaften können, den wir uns alle wünschen? Oder, was muss sich ändern, wenn wir unsere Position im globalen Wettbewerb gerade mit jüngeren und aufstrebenden Gesellschaften halten wollen? Oder, welche Folgen werden diese Veränderungen für uns haben? Für jene, die Arbeitskräfte brauchen, und für jene, die ihre Arbeitskraft anbieten? Und was bedeutet der Wandel der Arbeitswelt für uns alle, die wir Arbeit ja nicht nur als Produktionsfaktor und Einnahmequelle und uns selbst nicht nur als Humankapital sehen?

Diese Fragen richten sich nicht in eine ferne Zukunft, sondern der Wandel, den ich beschrieben habe, er hat längst begonnen. Zahlreiche Menschen, deren Tätigkeiten und Berufsbilder sich ändern, bekommen ihn unmittelbar zu spüren. Viele Arbeiten können theoretisch zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort mit Internetanschluss erledigt werden. Unsere Arbeitswelt wird immer flexibler und immer vielfältiger. Auch wenn das klassische Normalarbeitsverhältnis weiterhin dominiert, verdienen neue Formen der Beschäftigung unsere Aufmerksamkeit. Wie wird sich die Vergabe von Aufträgen über das Internet an sogenannte Click- oder Crowdworker entwickeln? Handelt es sich dabei nur um ein temporäres Phänomen oder werden die Internetplattformen, die als Vermittler zwischen Unternehmern und Crowdworkern agieren, werden sie weiter wachsen? Wir wissen es noch nicht.

Die Veränderungen der Arbeitswelt, sie machen uns besorgt, aber neben Risiken bergen sie doch wohl auch Chancen. Über beides sollte man offen und ehrlich reden. Gerne darf auch Pioniergeist dabei sein und Zuversicht, dass es gelingen wird, die Herausforderungen gemeinsam im Interesse der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu meistern. Nicht nur in manchen Betrieben ist Überzeugungsarbeit nötig. Die Bevölkerung insgesamt muss mitgenommen werden bei einem Großprojekt wie der Arbeit 4.0, mit dem manche die Erwartung verbinden, dass ein neues Kapitel im Verhältnis von Mensch und Maschine aufgeschlagen werde.

Bereits in der Antike, bei Aristoteles können wir lesen, dass an Automatisierung revolutionäre Erwartungen geknüpft werden. Aristoteles schrieb: Wenn jedes Werkzeug auf Geheiß, oder auch vorausahnend, das ihm zukommende Werk verrichten könnte, […] so bedürfte es weder für den Werkmeister der Gehilfen, noch für die Herren der Sklaven. Das klingt schon fast nach der schönen neuen Welt. Aber wir wissen, eine solche gibt es nicht. Das hat schon Hegel erkannt, der darauf hinwies, dass nicht nur der Knecht von seinem Herrn, sondern auch der Herr von seinem Knecht abhängig ist. Damit sind wir schon wieder in diesem Raum hier, bei Herrn Brecht, der diese Einsicht in dem sinnenfrohen Lehrstück vom Herrn Puntila und seinem Knecht Matti noch einmal kräftig zugespitzt hat. Um Computer ging es in den alten Zeiten noch nicht – wohl aber um die Einsicht, dass das soziale Miteinander sich nicht oder nicht einfach in den Kategorien von oben oder unten beschreiben lässt.

Ich erwähne diese gedankliche Genealogie von Aristoteles bis Brecht auch deshalb, weil wir manchmal auf vermeintlich neue Entwicklungen starren wie das vielzitierte Kaninchen auf die Schlange. Weil wir uns von Heilserwartungen genauso blenden lassen wie von Schreckensszenarien. Und wir wollen keine Geblendeten sein, sondern Handlungsfähige.

Vielleicht fehlt vielen von uns noch ein konkretes Bild, wenn von der Verschmelzung virtueller und realer Prozesse durch cyber-physische Systeme die Rede ist. Eine solche Wortschöpfung klingt doch selbst schon wie ein Gespenst. Also sollten wir aus unseren Lebens- und Arbeitswelten ermutigende Beispiele vor die Augen der Gesellschaft stellen, damit uns Zukunftsphänomene nicht nur ängstigen, sondern auch anreizen, unsere eigene Energie und unsere eigenen Potenziale einzubringen.

Was wird aus den Arbeitnehmern, die Maschinen bedienen und warten, wenn Nachschub und Reparaturarbeiten zunehmend automatisch gesteuert werden? Was wird aus Fahrern und Lagerarbeitern, wenn es doch bereits Transportroboter gibt, die sich auf dem Werksgelände prima zurechtfinden und von anderen Robotern be- und entladen werden? Was wird aus Facharbeitern, wenn sogenannte intelligente Produkte während ihrer Bearbeitung vom Rohling bis zur Endware mit den einzelnen Arbeitsstationen darüber kommunizieren, in welcher Menge und zu welchen Bedingungen produziert werden soll? Manche befürchten, es werde künftig praktisch menschenleere Fabriken geben.

Fachleute und Führungskräfte versichern uns, auch in den intelligenten Fabriken der Zukunft seien menschliche Arbeitskraft und Menschenverstand unverzichtbar. Aber in den Werkshallen, in den Büros, in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen wird zweifellos vieles anders werden. Manche, vor allem einfache Arbeiten werden überflüssig, zugleich entstehen komplexe neue Arbeitsfelder mit neuen Aufgaben und neuen Anforderungen. Wo bislang eine einzelne Maschine zu bedienen war, könnte künftig ein ganzes Produktionssystem zu steuern und zu managen sein. Freilich weiß noch niemand genau, auf welche Arbeitsplätze sich der Wandel konkret auswirken wird, welche neuen beruflichen Perspektiven sich womöglich eröffnen. Damit stellt sich dann auch die Frage, wie eine Berufsausbildung der Zukunft aussehen sollte.

Gewiss werden auch künftig Planer, Lenker und Tüftler gebraucht, hochqualifizierte Fachleute, die sich mit Software und Informationstechnik auskennen. In der vernetzten Produktion sind außerdem Mitarbeiter gefragt, die komplexe Zusammenhänge durchschauen, die Organisationstalent haben und die kooperieren und kommunizieren können. Freilich müssen wir doch auch an andere denken, an Beschäftige mit geringer Qualifikation oder mit beruflichen Fähigkeiten, die in der Industrie 4.0 weniger oder gar nicht gefragt sind.

Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Sozialpartner sich diesen Fragen stellen, indem sie sich an Forschungsvorhaben, Pilotprojekten und am gesellschaftlichen Dialog zur Zukunft der Arbeit und zur Arbeit der Zukunft beteiligen. Auch Gesamtmetall beobachtet und begleitet die Entwicklung. Aber ich denke und wünsche mir, da ließe sich durchaus noch mehr machen. Wir brauchen mehr Unternehmen, die Pionierarbeit für den Wandel der Arbeitswelt leisten. Auch kleine und mittelständische Betriebe sollten eingebunden werden. Das Zauberwort für die Industrie 4.0 lautet doch Vernetzung. Und die Metall- und Elektroindustrie nennt sich stolz Ideenschmiede. Ich nehme Sie also beim Wort: Entwickeln, fördern und verbreiten Sie Ideen zur künftigen Arbeitswelt.

Dazu gehört für mich auch, Weichen zu stellen für den demographischen Wandel. Die Suche nach geeigneten Auszubildenden und der drohende Fachkräftemangel, das sind Probleme, mit denen gerade kleinere Betriebe zu kämpfen haben, auch bei Ihnen in der Metall- und Elektroindustrie. Die Unternehmen müssen also handeln, zumal auch viele Facharbeiter die Möglichkeit nutzen, schon mit 63 Jahren in Rente zu gehen. Die Gelegenheit, unsere Wirtschaft stärker auf die länger lebende Gesellschaft auszurichten, diese Gelegenheit bietet sich jetzt – jetzt, an der Schwelle zum digitalen Industriezeitalter, da uns ohnehin einschneidende Veränderungen der Arbeitswelt bevorstehen. Wir brauchen den Blick auf diese Veränderungen, um unsere Entschlossenheit zu steigern, uns den Herausforderungen der Zukunft zu stellen. Und Entschlossenheit ist nicht Kraftmeierei, sondern jene Haltung, die uns davor bewahrt, auf eskapistische Ausflüge zu gehen. Wir sollten nicht der Angst die Rolle zugestehen, die letzte Ratgeberin unserer Entscheidungen zu sein. Und deshalb ist mein Apell an Sie, die Sozialpartner, die bewährte Gemeinsamkeit fortzusetzen.

Mitunter wird natürlich auch sehr intensiv gestritten, vor allem bei den Tarifverhandlungen, auch über Altersgrenzen oder über verschiedene Rentenmodelle. Aber die neuen Regeln der Metall- und Elektroindustrie zum flexiblen Übergang in die Rente sind für mich ein gutes Beispiel, dass in Ihrer Branche beim Thema demographischer Wandel mit einer großen Wachsamkeit zu Werke gegangen wird.

Es bedrückt mich allerdings, dass offensichtlich noch nicht jeder hierzulande begriffen hat, dass unsere Gesellschaft nicht nur älter wird. Die Art, wie wir jung und alt definieren, hat sich verändert. Wir Älteren bleiben augenscheinlich länger jung, die Lebensgefühle der älter werdenden Menschen haben sich dramatisch verändert, sie leben anders in ihrem höheren Lebensalter. Der ausgefranste Saum des Lebens, wie der Medizinprofessor Rudi Westendorp den Lebensabschnitt mit Altersbeeinträchtigungen so treffend nennt, verschiebt sich deutlich in ein höheres Lebensalter. Es führt deshalb in die Irre, wenn wir die Lebensgeschichten unserer Eltern und Großeltern als Blaupause dafür nehmen, wie wir selbst altern. Denn den meisten von uns werden zusätzliche Jahre geschenkt, kostbare Jahre, in denen wir länger gesund sind, länger die Kraft und die Fähigkeiten haben, aktiv zu bleiben. Und immer mehr Ältere nutzen diese Jahre, um weiter zu arbeiten, und zwar in den allermeisten Fällen nicht aus finanzieller Not, sondern weil es zu ihrem Verständnis von ihrem Leben und ihrem Potenzial gehört. Die meisten Älteren wollen dann allerdings nicht mehr in Vollzeit arbeiten, aber darauf könnte man sich einstellen. Und natürlich spielt immer die Gesundheit eine zentrale Rolle für Erwerbstätigkeit im Alter, es soll doch niemand gezwungen werden.

Die Betriebe können und müssen sich auf diese Veränderungen einstellen, weil sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter länger brauchen und deshalb halten müssen. All das ist aufwändig und anstrengend, man muss viel debattieren, manchmal auch streiten. Aber es geht um ähnliche Herausforderungen, wie wir sie auf dem Weg in die Industrie 4.0 ohnehin vor uns sehen, wenn wir etwa das Thema Gesundheitsschutz in den Blick nehmen. Da kommen auch neue Aufgaben auf die Unternehmen zu, wenn Montagearbeiter und Roboter, die Teile oder Werkzeuge anreichen, künftig buchstäblich Hand in Hand arbeiten. Assistenzroboter könnten gerade auch älteren Mitarbeitern die Arbeit erleichtern.

Wie sich Arbeit und Erwerbsleben verändern, darüber entscheiden aber natürlich nicht die Roboter. In welchem Umfang Technik die menschliche Arbeit unterstützt oder auch ersetzt, das entscheiden Sie – Sie die Arbeitgeber!

Alle gemeinsam sind wir gefordert, uns auf einen langen Lernprozess einzulassen. Wir werden es uns nicht länger leisten können, die Lernphase in unserem Leben auf einen einzigen Abschnitt, nämlich den in jungen Jahren zu beschränken. Man lernt nie aus, das haben wir schon als Kinder von unseren Großeltern gehört. Aber es stimmt ja, und wir sollten unsere Entfaltungsmöglichkeiten nutzen, ob wir nun 20, 50 oder 70 Jahre alt sind.

Und ich freue mich zu hören, dass die Metall- und Elektroindustrie im Jahr acht Milliarden Euro für Aus- und Weiterbildung ausgibt. Das ist eine stolze Summe. Und es ermutigt mich, dass der Anteil der Betriebe, die Weiterbildungsmaßnahmen für ältere Beschäftigte anbieten, in unserem Land kräftig gestiegen ist. Aber diese Angebote müssen auch noch stärker genutzt werden. Die betriebliche Weiterbildung gerade für Ältere, aber auch für Geringqualifizierte bleibt eine Aufgabe, für die ich mir noch mehr Tatkraft und Entschlossenheit der Beteiligten wünsche.

Es gibt junge Menschen, die einmal, zweimal, dreimal gescheitert sind in schulischer und beruflicher Ausbildung. Umso mehr hat es mich mit Freude erfüllt, wenn ich dann sah, dass ein Handwerksmeister einen Jungen genommen hat, der von allen anderen abgelehnt wurde und ihn dann doch noch dazu gebracht hat, ein tüchtiger Schmied oder Schlosser zu werden. Wir sollten uns nicht damit abfinden, dass manche Menschen in einem Teil ihres Lebens Startprobleme haben. Die meisten von ihnen haben doch Potenziale in sich, die es zu entwickeln gilt. Deshalb sollten wir uns diesen Menschen noch einmal zuwenden.

Ich will hier kein Klagelied anstimmen, ich sehe ja, was sich bewegt in den einzelnen Unternehmen, in den Kammern und Verbänden. Aber insgesamt brauchen wir gerade jetzt, da sich vieles verändert, noch mehr Dynamik und mehr Flexibilität, um die kostbare Ressource Arbeitskraft überall, wo sie noch verborgen ist, zu entdecken und zu nutzen. Gut, dass sich Betriebe, wo machbar, dann zunehmend auch auf Teilzeit- oder Heimarbeit oder Auszeiten einlassen und damit den Bedürfnissen individueller Lebensplanung entsprechen.

Eine weitere Strategie zur Bewältigung des demographischen Wandels ist die Integration von ausländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den deutschen Arbeitsmarkt. Die Feststellung, dass wir zur Deckung des Fachkräftebedarfs Einwanderung brauchen, ist für uns alle nicht neu. Wie erfolgreich und gewinnbringend dies gelingen kann, das habe ich bei dem schon erwähnten Unternehmensbesuch erfahren. Und doch müssen ausländische Arbeitskräfte in Deutschland insgesamt immer noch zu viele Hürden überwinden, Hürden sprachlicher, struktureller oder kultureller Art. Auch hier können intelligente und sensible Unternehmensführungen gemeinsam mit Betriebsräten eine Menge zum Positiven ändern.

Es gibt so viele schöne Anzeichen für gelingende Integration. Wir hören nur zu wenig davon! Ich möchte, dass wir davon mindestens so viel hören wie von den Sorgen, die angeblich die Zuwandererwellen über unsere Gesellschaft bringen. Da können sich alle noch mehr beteiligen, ihre positiven Beispiele mit ins Gespräch zu bringen.

Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen: Gewiss, die technologischen und demographischen Veränderungen, sie muten den Unternehmen, den Beschäftigten und den Sozialpartnern, sie muten uns allen auch eine Menge zu. Aber die Geschichte von Gesamtmetall zeigt ja: Gesellschaftliche Umbrüche und wirtschaftliche Krisen können bewältigt werden. Wer 125 Jahre alt wird, hat Lebenstüchtigkeit bewiesen. Und Sie verstehen sich darauf, Zukunftsweisendes zur Gestaltung von Arbeit auszuhandeln, Rahmenbedingungen, von denen die Unternehmen, die Mitarbeiter – wir alle – profitieren.

Ich möchte dort enden, wo ich mit meiner Rede begonnen habe: an diesem schönen Ort, den Sie sich für Ihre heutige Feier ausgesucht haben. Wenn ein Verband von Arbeitgebern in der guten Stube von Bertolt Brecht ein Jubiläum feiert, dann liegt es nahe, Ihnen eine Brecht‘sche Weisheit mit auf den Weg zu geben. Zum Beispiel diese hier, die er auf sein eigenes Unternehmen, nämlich das Theater, bezog: Das moderne Theater, so Brecht, muss nicht danach beurteilt werden, wieweit es die Gewohnheiten des Publikums befriedigt, sondern danach, wieweit es sie verändert.

Ich finde, das muss kein Gegensatz sein. Und die Sozialpartnerschaft in Deutschland ist ein gutes Beispiel dafür: Gemeinsam haben Sie, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, dafür gearbeitet, die Bedürfnisse der Menschen in unserem Land zu erfüllen. Und zugleich haben Sie gemeinsam dazu beigetragen, dass unsere Gesellschaft sich weiterentwickelt hat und dass Antworten auf neue Fragen gefunden werden konnten.

Dafür danke ich Ihnen, und ich wünsche uns allen, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.