Eröffnung des 80. Deutschen Fürsorgetages

Schwerpunktthema: Rede

Leipzig, , 16. Juni 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 16. Juni eine Ansprache beim 80. Deutschen Fürsorgetag in Leipzig gehalten: "Wir brauchen soziale Innovation! Dieser Begriff umfasst weit mehr als die sozialen Fragestellungen, die den Fürsorgetag beschäftigen. Er zielt auf neue Lösungswege im Umgang mit neuen Herausforderungen. Doch hier beim Fürsorgetag findet man natürlich besonders zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache zur Eröffnung des 80. Deutschen Fürsorgetages im Congress Center Leipzig

Danke sehr – das war eine schöne Ouvertüre mit jugendlicher Musik, die wir gerade gehört haben. Es gefällt mir natürlich, dass hier junge Menschen aufspielen. Auch Rentnerbands können einiges, aber eben sahen wir ein Bild für die Begegnung der Generationen, die wir uns in der Sozialpolitik ja so oft wünschen. Und der Auftritt passte perfekt zu dem, was ich unserem Gastgeber, dem bereits 135 Jahre alten Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, am meisten wünsche: Zukunft!

Auf die Zukunft will ich gern noch ausführlich zu sprechen kommen. Aber bei einer so großen und inhaltsreichen Jubiläums-veranstaltung steht für mich zunächst etwas anderes im Vordergrund: die Anerkennung und Würdigung dessen, was bereits erreicht wurde während 79 Tagungen dieser Art, die achtzigste eröffnen wir ja gerade, und was umgesetzt wurde in 135 Jahren intensiver Arbeit des Deutschen Vereins.

Das ist ein bedeutendes Werk, egal wie man zählt. Sie, meine Damen und Herren, Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger, haben für die deutsche Sozialpolitik Ziele und praktische Vorschläge formuliert, Sie haben Takt und Tempo der Veränderungsprozesse vorgegeben. Der erste Fürsorgetag, wir haben es schon gehört, war anno 1880 die sogenannte Armenpfleger-Conferenz in Berlin. Sie hob ihr Kernthema, die Armenfürsorge, auf die politische Agenda. Damals war für viele Menschen schwer vorstellbar, dass sozialer Ausgleich ohne so etwas wie Klassenkampf und jenseits bloßer Mildtätigkeit gelingen könnte. Absicherung im Krankheitsfall, Hilfe bei Obdachlosigkeit, Abschaffung der Kinderarbeit – all das wurde vom Deutschen Verein zu einer Zeit aufgegriffen, als persönliche Schicksale oft noch allein der Barmherzigkeit von Kirchen, Nachbarn und der Solidarität innerhalb der Familien überlassen waren. Der Fürsorgetag buchstabierte soziale Verantwortung neu aus, immer wieder, auch wenn die Lage sehr angespannt war. 1917 zum Beispiel, das Land hatte drei Jahre Krieg und einen bitteren Hungerwinter, den sogenannten Steckrübenwinter, hinter sich, da wurde die Versammlung überschrieben mit dem Titel: Die Übergangsfürsorge vom Krieg zum Frieden.

Ja, liebe Gastgeber, Ihre Chronik ist zweifellos ein Spiegelbild deutscher Geschichte und deutscher Verhältnisse. Viele soziale Gruppen, denen heute eigene Politikfelder gewidmet sind, hat der Fürsorgetag einst in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, etwa die berufstätigen und alleinerziehenden Mütter oder die Gastarbeiter, wie sie lange Zeit genannt wurden. Etliche Schlüsselbegriffe haben sich über die Jahrzehnte verändert, nicht zuletzt weil sich der Deutsche Verein gegen Stigmatisierung und Diskriminierung stark gemacht hat. Aber eines blieb: der Fürsorgetag. Ganz bewusst mit diesem für manche Ohren altmodisch klingenden Namen.

Glückwunsch also dem stolzen Jubilar! Meine Anerkennung gilt dem Stehvermögen und der Strahlkraft dieser Institution in der Fachwelt. Deshalb bin ich gern hierher gekommen zu Ihrem 80. Fürsorgetag, um ganz offiziell zu sagen: Danke, Ihre Arbeit am Sozialstaatsmodell ist ein Markenzeichen unseres Landes! Mein Dank gilt den Mitgliedern des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, er gilt den vielen Förderern und Partnern in Bund, Ländern und Kommunen, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Und er gilt selbstverständlich Ihnen hier im Saal. Bitte richten Sie meine Grüße und meine Wünsche auch Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern in allen Winkeln unseres Landes aus: den haupt- wie den ehrenamtlichen Helfern. Den erfahrenen Kräften, die sich seit langem mit großer Hingabe dem Miteinander in unserer Gesellschaft widmen, genauso wie der Jüngsten im Team, die vielleicht gerade ein freiwilliges soziales Jahr absolviert und sich fragt: Könnte das mein Beruf werden?

Als Bundespräsident möchte ich in solchen Momenten antworten: Unbedingt! Machen Sie das Soziale zu Ihrer Berufung. Und dies sage ich, obwohl ich weiß, dass die Realität nicht nur erfreulich ist, gerade in diesem Berufsfeld, das wissen wir alle, die wir uns hier versammelt haben. Einerseits gibt es in der Arbeitswelt der Helferinnen und Helfer so viele erfüllte Stunden und das unvergleichliche Gefühl, gebraucht zu werden, Gutes zu tun. Das ist beglückend. Andererseits kennen wir die Schwierigkeiten und Interessenkonflikte. Stress und Zermürbung bedrohen oft das Engagement. Diesen Alltag erleben Sie, in Kindergärten, Krankenhäusern und Seniorenheimen, landauf und landab. Man hört überall von Überforderung. Erst sind es nur Überstunden, dann ist es Überforderung. Der Bedarf an Pflegefach-kräften kann schon heute nicht mehr gedeckt werden, und die Zahl der Auszubildenden bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück.

Was würde ich also der jungen BUFDI, wie die Bundesfreiwilligen-dienstleistenden in der charmanten Abkürzung heißen, was würde ich der BUFDI bei einer persönlichen Begegnung erzählen? Ich würde die Realität so schildern, wie sie ist, wie ich sie sehe, mit viel Licht und manchem Schatten. Und ich würde etwas tun, das für eine solche Weichenstellung in jungen Jahren sehr wichtig ist. Ich würde sie ermutigen, ihrem Herzen zu folgen. Das ist doch ausschlaggebend, wenn man einen Sozialberuf ergreifen will. Ich würde vielleicht auf Menschen verweisen, die hier ihm Saal sitzen, die gerade draußen im fordernden Berufsalltag erfahren haben, was an Kraft und Leistungsvermögen in ihnen steckt. Und ich würde der BUFDI sagen, was diese berufliche Entscheidung ihr außerdem abverlangt: Offenheit und maximale mentale Beweglichkeit!

Ich bin überzeugt: Das gilt nicht nur für den Nachwuchs und nicht erst für das Morgen. Wir alle müssen immer wieder neue Wege in der Sozialpolitik suchen, denn die Rahmenbedingungen ändern sich, und sie werden höchstwahrscheinlich nicht einfacher. Deshalb brauchen wir eine neue, eine gesamtgesellschaftliche Herangehens-weise oder wie es in Fachkreisen heißt: Wir brauchen soziale Innovation!

Dieser Begriff umfasst weit mehr als die sozialen Fragestellungen, die den Fürsorgetag beschäftigen. Er zielt auf neue Lösungswege im Umgang mit neuen Herausforderungen.

Doch hier beim Fürsorgetag findet man natürlich besonders zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten. Wir erleben ja massive Umbrüche – denken wir nur an den demographischen Wandel, an die Digitalisierung oder an die Veränderung gesellschaftlicher Werte und Einstellungen –, und wir stellen fest: Mit den üblichen Politik- und Partizipationsmechanismen allein sind die neuen Aufgaben auf Dauer kaum zu bewältigen. Wir können nicht nur klassisch fragen: Welche Stellschrauben müssen wir drehen? Wir müssen uns vielmehr selbst überprüfen – unser Selbstbild und unser Bild vom Anderen. Und wir müssen uns neu organisieren, unsere Interaktionen, die Art und Weise, wie wir Probleme gemeinsam angehen.

Das klingt vielleicht abstrakt. Aber das ist es keineswegs. Gerade Menschen wie Sie, Menschen in Sozialberufen und im Ehrenamt, haben in vielen konkreten Fällen schon erlebt und selbst daran mitgewirkt, dass soziale Innovationen gelingen. Ich denke an Projekte wie die Mehrgenerationenhäuser oder die Gründung von Freiwilligenagenturen, die dem Vernetzungsgedanken völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Die meisten von Ihnen nutzen das Internet und die sozialen Medien inzwischen so gern und so intensiv wie Ihre Zielgruppen. Angebote wie die Wheelmap, die Onlinekarte für rollstuhlgerechte Orte, gäbe es ohne innovative Geister in Ihren Reihen gar nicht. Wenn ich Sie heute dazu ermutigen möchte, in allen Ihren Themenfeldern noch stärker auf Innovation zu setzen, dann deshalb, weil ich überzeugt davon bin, dass unser Land viele unentdeckte Potentiale hat. Und es hat auch die Kraft, sie zu entfalten!

Eines der schönsten Beispiele habe ich bei einem meiner ersten Termine als Bundespräsident kennengelernt. Im April 2012 feierte die START-Stiftung ihr zehnjähriges Jubiläum – das war ein inspirierender Tag auch für mich. Einige von Ihnen im Saal wissen es vielleicht: Die Schüler- und Studierendenförderung START nahm hier in Leipzig und in Hessen ihren Anfang. Die Kooperationspartner kamen auf die Idee, Jugendliche mit Migrationshintergrund auf dem Weg zu Abitur und Studium zu unterstützen. Das Konzept mit Stipendien und Mentoren war natürlich überhaupt nicht neu, aber die Konzentration auf eine neue Zielgruppe, die Entwicklung neuer Förderstrukturen in einem Feld, das bisher von traditionellen Pfaden nicht erreicht wurde – das war ein Novum. Und wirklich ein inspirierendes, ein Stück Lebensatem für einen Präsidenten, der noch am Üben war.

Was mir bei solchen Beispielen wichtig ist: Die Innovationen, die ich meine, entstehen nicht aus Paternalismus, auch nicht allein aus Mitgefühl, obwohl wir dieses Gefühl niemals schlecht reden, sondern hegen, pflegen und bewahren sollten. Solche Innovationen entstehen, weil es gute Argumente gibt, die Fähigkeiten und die Muster der Zusammenarbeit von Menschen anders und besser zu aktivieren. In diesem Geist hat zum Beispiel ein Arzt aus dem Ruhrgebiet ein Ausbildungsprogramm für blinde und sehbehinderte Frauen entwickelt. Ihr ausgezeichneter Tastsinn führt nun zu verlässlicheren Ergebnissen in der Brustkrebsdiagnostik. Das ist ein kleines Beispiel für etwas, das wir als großes Programm vor Augen haben, für Inklusion. Eine Gruppe, die es vorher schwer hatte am ersten Arbeitsmarkt, erhält eine berufliche Perspektive. So etwas nennen wir eine Win-Win-Situation.

Und genau um solche Situationen geht es Ihnen ja ganz offenkundig. Deshalb das Motto, das Sie diesem Kongress gegeben haben: Teilhaben und Teil sein. Teilen können und teilen wollen füge ich jetzt mal hinzu. Jedenfalls eignet sich Ihre Überschrift in meinen Augen ganz hervorragend für ein Programm, das genau dort ansetzt, wo Sie sich am besten auskennen, liebe Gäste: in der Praxis.

Fürsorge bedeutet dann vor allem: Menschen zusammenbringen – diejenigen, die Hilfe brauchen, und diejenigen, die Hilfe geben können oder geben sollen.

Fürsorge bedeutet aber auch: Selbstbestimmung dort erhalten, so weit und so lange wie es irgendwie geht.

Fürsorge bedeutet: Die schöpferische Kraft unserer Gesellschaft beflügeln, indem wir die eigenen Handlungsspielräume erweitern.

Schauen wir uns doch mal unsere eigenen Lebenswege an. Wenn wir dabei unsere Leistungen und unsere Entscheidungen betrachten, können wir oftmals mit einem gewissen Staunen feststellen: Wir sind weniger begrenzt, als wir es vielleicht dachten, und unsere Potentiale sind weit größer, als wir es annahmen.

Das gilt für den Einzelnen wie für die Gesellschaft insgesamt. Ein Modell wie die Soziale Marktwirtschaft wäre 1880 unvorstellbar gewesen. Ein Versprechen wie Generationengerechtigkeit ist es vielen Zeitgenossen bis heute. Aber was hindert uns daran, in neuen Kategorien zu denken? Ich fürchte, heute wie damals das Gleiche: so etwas wie eine Schere im Kopf, die Neigung der Menschen zu Schwarz-Weiß-Szenarien, weil es sich mit denen leichter urteilen und so schön schimpfen lässt.

Im schlichten Schwarz-Weiß ist zum Beispiel das Soziale gut. Die Wirtschaft dagegen ist im Zweifelsfall böse. Denn da geht es vorrangig um Geld und Gewinnstreben und erst nachgeordnet – wenn überhaupt irgendwann – um das Menschliche. Als in den 1990er Jahren die Ökonomisierung des Sozialbereichs begann, als neue Managementmethoden und Fallpauschalen eingeführt wurden, da wurde dieses grundsätzliche Misstrauen sehr deutlich. Es ist noch immer in vielen Teilen der Bevölkerung zu spüren, zumal die Rationalisierungszwänge oft tatsächlich den Dienst am Menschen einschränken oder erschweren.

In Fachkreisen dagegen wird die Debatte gelassener und vernünftiger geführt. Das ist aufs Ganze gesehen auch angemessen, es ist auch erforderlich. Die Betriebsform der gemeinnützigen Unternehmen hat sich rasant verbreitet, und sogar frühere Zweifler konstatieren: Mit den neuen Steuerungsmodellen hat der Sozialsektor eine enorme Professionalisierung erfahren. Zielvereinbarungen, Projektpläne, Controlling, Marketing, Evaluierung – zahlreiche Instrumente der Betriebswirtschaft gelten heute als selbstverständliche oder jedenfalls wünschenswerte Bestandteile der sozialen Arbeit.

Hinzu kommt: Die Wohlfahrt ist zur Wachstumsbranche geworden. Das ist natürlich eine gute Nachricht für jeden Jugendlichen, der den erhofften Platz im betreuten Wohnen erhält, und für jede Frau, die in der Not im Frauenhaus eine Zuflucht findet. Allerdings wird das Wachstum auch kontrovers diskutiert. Die einen sagen, Effizienz-streben müsse bis an die Grenzen des Vertretbaren reichen. Schließlich gehe es um Optimierung, um den bestmöglichen Einsatz von Mitteln, und dafür sei der Markt das richtige Instrument. Die anderen sehen die Grenzen des Vertretbaren längst überschritten und verweisen auf Überspitzungen und auf Wildwuchs.

Ich kann manch besorgte Stimme in dieser Debatte sehr gut verstehen, weil etliche Praxisbeispiele tatsächlich ins moralische Dilemma führen. Wer kann denn mit Sicherheit beurteilen, ob die Assistenz beim Frühstück eines Demenzkranken in zwanzig Minuten abzuwickeln ist – oder ob fünf Zusatzminuten die wichtigste Zeit des ganzen Tages werden könnten?

Wer will abwägen, ob ein traumatisiertes Gewaltopfer mit deutschem Pass mehr, weniger oder genauso viel Unterstützung braucht wie ein traumatisiertes Flüchtlingskind?

Und wer will entscheiden, wie viele Hospizplätze wir in Deutschland vorhalten müssen, um den tatsächlichen Bedarf zu decken?

Sozial innovativ wäre es, wenn wir den Reflex überwinden könnten, dass die Einen sich hinter vermeintlich objektiven Zahlen und Zwängen verstecken, und die Anderen permanent rufen: Ihr kaltherzigen Kapitalisten! Ich möchte heute diejenigen bestärken – und zum Glück ist das ja wohl auch die Mehrheit –, die einen derartigen Stellungskrieg nicht mitmachen und nach neuen Formen des Dialogs, nach neuen Formen der Kompromissfindung und der Zusammenarbeit suchen.

Ich weiß, Verbündete sitzen auch hier im Saal, quer durch alle Berufs- und Interessengruppen, quer durch das Haupt- und das Ehrenamt, quer durch die Parteien, quer durch die Gesellschaft. Der Fürsorgetag ist genau das richtige Forum dafür. Denn Sie, meine Damen und Herren, sind es, die einer breiten Öffentlichkeit vermitteln können, warum Fürsorge als beständiges Ja zum Konzept eines menschenwürdigen Lebens für alle, warum solche Fürsorge den Einsatz von Sozialbeiträgen, Steuermitteln, Spenden und so viel unbezahltes freiwilliges Engagement wert ist. Kurz: Warum Teilhaben und Teil sein nicht nur ein Anrecht bedeutet, sondern auch eine Verpflichtung. Wir sagen Ja zu ihr, zu dieser Verpflichtung, weil zu unserer partizipatorischen Gesellschaft eine Kultur gehört, die wir nicht verlieren wollen. Sie ist wichtig. Teilhaben und Teil sein beschreibt den Kern dieser Kultur.

Sie sind es, meine Damen und Herren, die diese Kultur gestalten. Nicht zuletzt mit Ihren Anregungen für die Politik, für so viele Menschen, die unsere Gesellschaft ausmachen, für uns alle.

Und Sie sind es auch, die Kritik üben. Kritik ist einfach unverzichtbar, wenn wir Fortschritte erreichen wollen.

Und schließlich, meine Damen und Herren, sind Sie es auch, die auf einem anderen Gebiet die Aktiven sein müssen. Ich meine das Gebiet der Transparenz. Ich bin überzeugt, dass eine Transparenz-offensive der Sozialbranche sehr viel mehr nutzen als schaden würde. Vielleicht würde die Zahl gut gemeinter Maßnahmen ohne konkret nachweisbare Wirkung ein wenig abnehmen. Vielleicht hätten wir plötzlich weniger Schüler, die wegen einer Lern- oder Verhaltensstörung erst in die Sonderschule geschickt und dann wieder inkludiert werden sollen. Vielleicht würde es dazu kommen, dass einige Mitarbeiter in Jugendämtern, die derzeit als sogenannte Fallmanager vor allem Akten bearbeiten, wieder öfter die Menschen sehen und sprechen können, um die es ihnen eigentlich bei diesen Fällen geht.
Vielleicht also würde das Wachstum des Sozialsektors zielgenauer ausgerichtet und manchmal auch punktuell korrigiert werden. Aber per Saldo wäre das doch positiv! Und wahrscheinlich würde es mehr Bürgerinnen und Bürger geben, die ihre Steuern mit dem Gefühl zahlen: Das ist richtig so. Das kommt unserem Land zugute.

Eine Debatte über den besten Einsatz der Mittel ist auch deshalb so wichtig, weil es immer noch Gruppen gibt, denen die Fürsorge helfen könnte, die aber von ihr nicht erreicht werden – oder noch zu wenig. Ich denke dabei an die jungen Leute, die ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung, ohne Perspektive auf den Fluren der Jobcenter sitzen, wenn sie es überhaupt bis dorthin geschafft haben. Sie bleiben mit all ihren Problemen doch Teil unserer Gesellschaft. Chancengerechtigkeit in der Bildung muss also auch heißen, sich verantwortlich zu zeigen und früher zu handeln, nicht erst dann, wenn diejenigen, die einmal durchs Raster gefallen sind, das Vertrauen in die soziale Gemeinschaft schon verloren haben und vielleicht sogar auf der Straße leben.

Das kann der Staat nicht allein leisten, aber er kann es durchaus gemeinsam mit einer starken Bürgergesellschaft. Ich setze darauf, dass der Fürsorgetag auch künftig nicht nachlässt, wenn es um derart fordernde Aufgaben für uns alle geht. Denn ich reihe mich ein bei all jenen, die sagen: Wir wollen im Alltag erleben, wovon wir überzeugt sind. Unser Staat soll frei, er soll demokratisch und zugleich sozial sein.