65. Lindauer Nobelpreisträgertagung

Schwerpunktthema: Rede

Lindau, , 28. Juni 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 28. Juni bei der Eröffnung der 65. Lindauer Nobelpreisträgertagung eine Rede gehalten: "Wir brauchen Diskurse und Vereinbarungen, die über die Wissenschaftsgemeinschaft hinausgehen. Wissenschaft kann und soll ihre große Verantwortung nicht allein tragen. Was wir brauchen, ist eine kritische Öffentlichkeit. Und zwar nicht mit einer gelegentlichen, sondern mit einer beständigen und intensiven Beteiligung der Wissenschaftler."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache in der Inselhalle Lindau anlässlich der Eröffnung der 65. Lindauer Nobelpreisträgertagung in Lindau

Was für ein schönes Gefühl das ist, hier in den Saal zu blicken. Menschen aus aller Welt haben sich zusammengefunden, um in den kommenden Tagen etwas Kostbares miteinander zu teilen: ihr Wissen, ihre Forschungsthemen, ja ihre Brillanz. Vielleicht wird hier eine Idee geboren, die morgen unser aller Leben verändert. Es ist mir eine große Freude, dass Sie mich zur Eröffnung der 65. Nobelpreisträgertagung eingeladen haben!

Eine solche Weltkonferenz in Deutschland erleben zu können, das löst in mir auch Dankbarkeit aus. Dieser Ort hat Symbolkraft. Im Vergleich zu 1951, als die erste Tagung hier in Lindau stattfand, ist Deutschland, ist auch die deutsche Wissenschaft seit langem nicht mehr isoliert. Ich gehöre zu den Menschen, die sich an das Jahr 1951 erinnern können. Ich war elf Jahre alt, lebte auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges. Es war keine schöne Zeit. Hier im Westen war man frei aber noch nicht wohlhabend. Im Osten war man weder frei noch wohlhabend. Und auch die Wissenschaft war nicht frei. Als ich die Erinnerung vorhin hörte an das Jahr 1951, da kam mir in den Sinn, wie wenig selbstverständlich es ist, dass unser Land diesen Weg bis hierher so erfolgreich hat gehen können, das verdanken wir auch der Hilfe vieler Menschen aus allen Teilen der freien Welt.

Das war natürlich ein langer Prozess, dass unser Land zurück gewinnen konnte, was für viele nach dem Zweiten Weltkrieg einfach schwer vorstellbar war: internationale Anerkennung, Freunde und Partner für den intensiven Austausch. Kurzum: Vertrauen.

Heute möchte ich gern daran erinnern, wer damals zu den ersten gehörte, die der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft die Hand reichten. Es war – liebe Gräfin – Ihr Vater Graf Lennart Bernadotte, der seine engen Beziehungen zum schwedischen Königshaus einbrachte und vor allem engagiert genug war, couragiert genug war, das Wagnis als Ehrenprotektor einzugehen.

Viele weitere Förderer und Partner der Nobelpreisträgertagungen schlossen sich ihm in den folgenden Jahren an: Persönlichkeiten und Institutionen aus Wissenschaft, Politik, aus Wirtschaft und Gesellschaft, aus dem In- und Ausland. Die Liste würde ein ganzes Buch füllen. Ihnen allen, die Sie das Lindauer Projekt finanziell oder ideell unterstützt haben, danke ich sehr herzlich!

Und mein Dank gilt natürlich auch den Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern, die ihre Zeit und ihre Expertise pro bono zur Verfügung stellen, um junge, exzellente Nachwuchswissenschaftler an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Geschätzte Laureaten, Ihr Einsatz ist in jeder Hinsicht unbezahlbar! Danke dafür!

Wer sich das dichte Programm für die nächsten fünf Tage anschaut, der wird vieles darin finden: Themen, die in der Chemie, Physik, Physiologie oder Medizin derzeit hochaktuell sind, und auch interdisziplinäre Fragen, die zu den größten der Menschheit gehören, etwa die Bekämpfung des Hungers auf der Welt oder die Reaktionen auf die Klimaerwärmung. Einer der großen Vorzüge dieser Konferenz ist der fächerübergreifende Austausch. Nicht nur staatliche Grenzen werden so überwunden, auch mentale und immer wenn das erfolgt, dann braucht es eine lange Zeit – Prof. Schürer, ich kann mir wirklich vorstellen, dass viel Überzeugung und Arbeit darin steckte, die Grenzen zu überschreiten, an die man sich so lange, oftmals Jahrzehnte lang, gewöhnt hatte. Jede Wissenschaft hat bekanntlich ihre eigene Sprache, hat ihr eigenes Denkgebäude. Die Realität, für die wir nach Lösungen suchen, ist jedoch ein komplexes Ganzes.

Seit langem wissen wir, dass die Konsequenzen von Erfindungen und Entdeckungen manchmal weitreichend und schwer kalkulierbar sind. Schon Alfred Nobel hat diese Erfahrung machen müssen, bei seiner berühmtesten Erfindung, es war nicht vorhergesehen, dass sie einmal massenweise kriegerischen Zwecken dienen würde. Auch heute ist nicht immer sofort abschätzbar, welche Neuerung der Menschheit zum Segen gereichen wird und welche sich mit großen Risiken verbindet. Das macht internationale Konferenzen wie diese so wertvoll. Die Wissenschaft braucht kritischen Austausch und so oft wie möglich grenzüberschreitende Kooperation – nicht zuletzt aus Gründen der Forschungsfinanzierung. Herausragende Vorhaben wie das CERN mit dem europäischen Teilchenbeschleuniger oder die Internationale Raumstation wurden ja auf diese Weise überhaupt erst möglich. Wo immer ich kann, werde ich solche Formen der Zusammenarbeit unterstützen.

Ich weiß natürlich, meine Damen und Herren hier im Saal: Gerade Sie denken in großen Zusammenhängen. Gerade Sie überwinden Grenzen! 65 von Ihnen haben durch Ihre engagierte Arbeit schon erreicht, was Alfred Nobel einst den größten Nutzen für die Menschheit nannte. Und hundert andere, gerade auch junge Forscherinnen und Forscher, sie möchten es Ihnen gleich tun. Sie, liebes Publikum, sind der Inbegriff des Überraschenden, das Wissenschaft zu leisten vermag. Und auch all der Hoffnungen, die sich mit ihr verbinden. Wie oft hat die Forschung schon existentielle Probleme überwunden, hat Millionen, ja eigentlich sogar Milliarden Menschen zu einem besseren Leben verholfen.

Wir haben deshalb guten Grund, optimistisch zu sein, dass Wissenschaft auch künftig Probleme lösen wird, dass sie Fortschritt durch Innovation erreicht, dass sie Fehler der Vergangenheit zumindest teilweise kompensieren kann. Das enorme Potential Ihrer Arbeit steht für mich außer Frage. Und doch wissen wir, dass Wissenschaft nicht nur Treiber des Fortschritts, nicht nur Lösung oder Korrektiv ist. Manchmal werden Ergebnisse der Wissenschaft auch selbst zur offenen Frage, werden zum Problem. Sie, liebe Gäste, erleben das teilweise in Ihrer täglichen Theorie und Praxis. Auch preisgekrönte internationale Verbundforschung kommt schnell an den Punkt, an dem Zahlen und Fakten nicht mehr ausreichen, um das eigene Tun zu rechtfertigen. In der Grundlagenforschung und insbesondere in den Anwendungsgebieten sind Menschen tätig, die oftmals für andere Menschen, ja für die Menschheit, Weichenstellungen bewerkstelligen, die von existentieller Bedeutung sind. Wer in derartigen Situationen ohne die Bezugnahme auf moralische Kategorien agiert, der handelt unangemessen, ja leichtfertig.

Diese Problematik wird auch bei der diesjährigen Tagung aufgegriffen. Die französischen Partner haben das morgige Arbeitsfrühstück mit den Worten Wissenschaft und Ethik überschrieben. Etliche Impulsvorträge berühren ebenfalls moralische und soziale Fragen, manchmal schon in der Überschrift, hier zum Beispiel: Die Revolution der personalisierten Medizin: Werden wir alle Krankheiten heilen und zu welchem Preis?

Ich kann und will die Debatten der Konferenz natürlich nicht vorwegnehmen, aber ich möchte gern ein Motiv nennen, das für mich bei solchen Themen zentral ist: Das ist die Würde des Menschen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, verabschiedet 1949, steht in Artikel 1 geschrieben: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

An diesen Satz musste ich denken, als ich jüngst Zeitungsberichte über Genveränderungen an embryonalen Stammzellen las. Was bedeutet es nun für die Menschenwürde, wenn menschliches Erbgut verändert wird – und sei es mit der besten Absicht zur Verhinderung bestimmter Krankheiten? Und was bedeutet das Streben nach genetischer Perfektion für die Würde der anderen, die nicht perfekt sind – also für uns alle?

Jede technologische Möglichkeit wirft neue Fragen und manchmal auch neue Konflikte auf. Eltern von Kindern mit Downsyndrom erzählen mir, dass ihnen auf dem Spielplatz Mitgefühl ausgesprochen wird, weil sie die Fruchtwasseruntersuchung wohl verpasst hätten. Und wie bewundernswert es doch sei, dass sie trotz allem so gut mit der Situation klarkämen. Erleben wir da eine schleichende Veränderung unserer gesellschaftlichen Leitbilder – angetrieben vom wissenschaftlichen Fortschritt, scheinbar gerechtfertigt durch ökonomische Sparzwänge und moralisch bemäntelt durch die Berufung auf Mitleid und Leidensvermeidung? Und welche Folgen hätte ein solcher Mentalitätswandel für die Akzeptanz von kranken, von alten und behinderten Menschen?

Wo genau liegt denn die Grenze zwischen Machbarkeit und Wünschbarkeit? Wo die Ultima Ratio? Und vor allem: Wer führt eigentlich diese schwierige Debatte? Und reicht es, wenn sie nur in Ethikkommissionen, in Parlamenten oder anspruchsvollen Zeitungen dann und wann aufscheint? Meines Erachtens nicht. Sie sollte breiter vorangetrieben werden. Denn es geht hier um nichts Geringeres als um unser Menschenbild. Wie wollen wir morgen leben? Wer wollen wir morgen sein? Und nach welchen Maßstäben wollen wir beides beurteilen?

Solche Fragen brauchen Entfaltungsräume in der Gesellschaft. Wir brauchen Diskurse und Vereinbarungen, die über die Wissenschaftsgemeinschaft hinausgehen. Wissenschaft kann und soll ihre große Verantwortung nicht allein tragen. Was wir brauchen, ist eine kritische Öffentlichkeit. Und zwar nicht mit einer gelegentlichen, sondern mit einer beständigen und intensiven Beteiligung der Wissenschaftler.

Leider sind wir von einer wirklich breiten Debatte dieser Art noch weit entfernt. Viele Zeitgenossen blenden existentielle Fragen aus oder verweisen sie weit, weit in die Zukunft. Die Filme von Star Wars sind den meisten vertrauter als der tatsächliche Forschungsstand zum Universum oder die rasanten Entwicklungen bei der Künstlichen Intelligenz. Immerhin, Stephen Hawking hat es mit seinem Londoner Weckruf kürzlich bis in diverse Fachmagazine, Feuilletons und Online-Foren geschafft. Sein Szenario von den Robotern, die innerhalb der nächsten 100 Jahre so intelligent werden, dass sie die Menschen überholen und die Herrschaft übernehmen könnten, das war eine wohl kalkulierte Provokation.

Eine Provokation, die wir offenkundig nötig hatten. Die öffentliche Wahrnehmung scheint doch regelrecht festgefroren zu sein. Diesen Eindruck hat man jedenfalls häufig. Oder sie kreist angstgetrieben immer wieder um Phänomene wie, sagen wir mal, Genmais. Oft werden große Herausforderungen und bedeutende Fragestellungen, an deren Beantwortung nicht weniger hängt als unsere Lebensgrundlage, auf einer höchst mangelhaften Wissensbasis und unter eingeschränkter Einbeziehung der Fachwissenschaft debattiert. Ja, eins meiner beständigen Anliegen, meine Damen und Herren, diese Art von Debatten erzeugt dann mehr Erregung als Aufklärung und deshalb brauchen wir Sie, die Fachkundigen als die, die solche Debatten leiten, jedenfalls beständig begleiten und intensiver als zuvor – meine dringende Bitte.

Und wie kann man das fördern: Um ein neues öffentliches Bewusstsein zu fördern, brauchen wir offenbar weit mehr solche internationalen und interdisziplinären Foren wie hier in Lindau. Und wir brauchen auch noch weitere Brückenschläge. Physik und Biochemie profitieren vom Gespräch mit Philosophie und Politikwissenschaft. Genau wie Medizin die beständige Bezogenheit auf die Ethik braucht. Deshalb möchte ich Sie darin bestärken, den Geist der Interdisziplinarität, den Geist von Lindau mit an Ihre Schreibtische, mit in Ihre Seminarsäle und Labore zu nehmen.

Lassen Sie mich noch einen Blick auf ein – meiner Ansicht nach – spezielles Problem alternder Gesellschaften werfen. Häufig sind hier gesellschaftliche Leitdebatten fast reflexhaft von Kulturkritik und Zukunftsängsten geprägt. Die menschliche Innovationsfähigkeit, die zu den größten Gaben der Menschheit gehört, wird unterbewertet. Zwar muss sie beständig von Selbstreflexion begleitet sein, klar, aber wir wissen: Innovation ist die Chance, zukunftssichernde Entwicklungen hervorzubringen und gleichzeitig Fehler der Vergangenheit auszugleichen. Innovation verlangt uns immer auch eine gewisse Risikobereitschaft ab. Wer alles erst komplett durchkalkuliert sehen möchte, bevor er eine Idee in die Praxis umsetzt, der wird kaum bestehen. Das Internet ist ein sehr plastisches Beispiel. Wir nutzen es seit Jahren, ohne genau absehen zu können, wohin uns die digitale Revolution führen würde. Weil wir darauf vertrauen, dass es uns gelingen wird, die Risiken beherrschbar zu halten und zugleich die Chancen auszuschöpfen.

Gerade für die Wissenschaft sind die Vorteile des Internets ja evident. Dem uralten Drang der Forschung nach Vernetzung hat sich durch Online-Plattformen und weltweite Echtzeitkommunikation eine völlig neue Arbeitsqualität eröffnet. Das kommt auch großen Teilen der Bevölkerung zugute. Nie zuvor standen die geistigen Schätze der Welt so vielen Menschen offen. Nie zuvor war es so leicht, mit einem einzigen Aufruf – per Mausklick –, Mitstreiter für ein Projekt zu mobilisieren. Ich schweige hier, und zwar bewusst, über gefährliche, geschmacklose oder gar menschenfeindliche Missbräuche, die kenne ich, ich könnte durchaus auch lange darüber reden, aber nicht zu diesem Anlass.

Eines möchte ich an dieser Stelle aber betonen: Die persönliche Begegnung, das Mitmenschliche, lässt sich nicht beliebig durch Technik ersetzen. Die Lindauer Tagungen nun sind nach 65 Jahren auch deshalb weiterhin so attraktiv, weil hier etwas stattfindet, was am besten von Mensch zu Mensch funktioniert: nämlich Inspiration! Eine E-Mail erleichtert unendlich, aber sie kann nicht das persönliche Gespräch ersetzen, das eine Nobelpreisträgerin mit einer Studentin führt, um sie zu ermutigen, ihren Blick zu weiten, einer neuen Spur zu folgen oder ihren Weg zu gehen. Inspiration entsteht in gewisser Weise auch als interdisziplinärer Akt, als Produkt von Hirn und Herz, als Brücke zwischen dem, was wir erleben, und dem, was wir zu träumen wagen. Es zeichnet uns Menschen aus, dass wir uns zu inspirieren vermögen und dass wir fähig sind, Verantwortung zu übernehmen.

Liebe Nachwuchswissenschaftler,

in diesem Sinne sollten Sie alles daran setzen, dass Ihre Forschungen hohen ethischen Ansprüchen gerecht werden. Dazu brauchen Sie den offenen, möglichst internationalen Meinungsaustausch. Vor allem aber brauchen Sie die feste Überzeugung, dass Wissen und Wissenserweiterung eine der größten Ressourcen der Freiheit sind, vielleicht sogar die größte. Wissen ermächtigt Menschen, nicht mehr ängstlich, nicht mehr abhängig, nicht mehr Untertanen oder Ergebene ihres Schicksals zu sein.

Ein großes Vermächtnis von Alfred Nobel ist die Erkenntnis:

Der Nutzen der Wissenschaft wird nicht nur für die Menschen auf den Weg gebracht. Er wird auch von Menschen errungen.

Ich wünsche Ihnen eine Tagung ganz in diesem Geiste.