Symposium "Wer ist wir? Identität - Zugehörigkeit - Zusammenhalt in Deutschland"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 9. Juli 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 9. Juli beim Symposium "Wer ist wir? Identität – Zugehörigkeit – Zusammenhalt in Deutschland" eine Ansprache zur Eröffnung gehalten: "Das Wir, das ich meine, ist eine Verantwortungsgemeinschaft, in der sich jede und jeder zuständig fühlt und fühlen muss, in der jede und jeder sagt: Das ist mein Land. Das ist die Gesellschaft, für die ich mich engagiere. Das ist das Zuhause, in dem ich auch Konflikte offen aussprechen möchte, um sie dann friedlich zu lösen."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache im Großen Saal anlässlich des Symposiums 'Wer ist wir'? in Schloss Bellevue

Guten Morgen! Und wenn ich hier in den Raum hineinschaue, möchte ich ergänzen: ein sehr guter Morgen. Nicht nur, weil wir uns etwas Gutes vorgenommen haben, sondern weil Sie alle, die Sie eingeladen sind, auch schon gute Dinge gemacht haben. Deshalb ist mein Willkommen hier heute ein besonders herzliches.

Wir haben uns gewünscht, dass Menschen aus allen Teilen unseres Landes, Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven bei diesem Symposium miteinander ins Gespräch kommen: Das sind Gäste aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, aus Bildung, aus Kultur, aus den Stiftungen, aus Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Glaubensgemeinschaften, nicht zuletzt aus dem vielfältigen Spektrum des bürgerschaftlichen Engagements, natürlich Frauen wie Männer, Jung wie Alt. Sie alle sind diesem Aufruf nun gefolgt. Gemeinsam werden wir einen Tag lang über Identität, Zugehörigkeit und Zusammenhalt in Deutschland, kurz: über Deutschland als Einwanderungsland diskutieren. Ich freue mich, dass Sie da sind!

"Wer ist wir?" Dieser Titel, für den wir uns bei Navid Kermani bedient haben, ist auch eine kleine Provokation. Das, was unsere Gesellschaft ausmacht ist ja kein homogenes Gebilde. Plural und Pluralismus sind Alltag in einer offenen Gesellschaft. Deutschland ist vielfältig. Insofern müssen wir auch fragen: Wer sind wir? Aber gerade weil die Verschiedenen zusammengehören – oder, realistisch gesprochen, zusammengehören sollten – gibt es die Einheit und die Vielfalt, auch Gemeinsamkeit und Differenz. Darüber wollen wir heute diskutieren.

Verschiedenheit im Alltag hat viele Gesichter. Da finden sich in einer Abiturklasse zum Beispiel Schüler, die im Ramadan fasten, oder Lehrer, die zu Rosch ha-Schana gratulieren. Da entschließt sich die Leiterin eines Seniorenheims, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Kulturkreisen anzuwerben oder ihrer Stammbelegschaft eine interkulturelle Fortbildung angedeihen zu lassen. Da wird einfach immer öfter spürbar: Menschen aller Herkunft prägen unser Land, unsere Erfolge genauso wie unsere gemeinsamen Aufgaben.

Die Geschichten der Einwanderung, sie sind ja nach Himmelsrichtung, nach Zeitpunkt und Anlass der Migration äußerst verschieden. Sie finden immer öfter Eingang ins Fernsehprogramm und auch in unsere Bücherregale. Die Russendisko von Wladimir Kaminer kennen wir seit langem. Oder denken wir an Das dunkle Schiff von Sherko Fatah, das tausendfach von Menschen mit und ohne deutschen Pass gelesen wurde. Und es gibt natürlich Werke, die greifen ganz explizit die Themen auf, denen wir uns heute widmen wollen, Ziemlich deutsch oder Anleitung zum Schwarz sein.

Ich möchte jetzt den Arbeitsgruppen nicht vorgreifen, aber vielleicht erlauben Sie mir, hier etwas ganz Offensichtliches festzustellen, das wir später auf dem Podium noch gerne vertiefen können: Deutschland ist zwar ein Einwanderungsland, so viel steht fest. Die Zahlen und Fakten dazu, sie sind ja ganz eindeutig und sie sind auch allgegenwärtig. Aber etwas anderes existiert auch und das sind unsere Emotionen. Das Wir-Gefühl und das Selbstverständnis der Deutschen haben mit dieser Entwicklung noch nicht Schritt gehalten, jedenfalls nicht überall. Das Herz unserer Gesellschaft hat noch nicht verarbeitet, was das Hirn doch längst weiß. Deshalb sind wir Suchende und Lernende in diesem Prozess.

Besonders deutlich wird das für mich in der Sprache. Weil ich nämlich selbst um Worte ringe, wenn ich Menschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund – wie es ja immer heißt – ansprechen möchte. Von den Jüngeren haben ja die meisten keine eigene Zuwanderungsgeschichte. Sie wurden in Deutschland geboren und wollen auch entsprechend wahrgenommen werden. Ich ziehe es deshalb vor von Menschen zu sprechen, die aus Einwandererfamilien stammen.

Auch der Begriff Neu-Deutsche ist problematisch. Denn wie lange genau ist man eigentlich neu? Manche von Ihnen wissen ja, dass ich aus einem Bundesland komme, das auch immer noch neu genannt wird, und das nun schon seit 25 Jahren. Und dann gibt es noch den schönen Begriff Willkommenskultur. Nun habe ich aber gelernt, dass man manche damit auch vor den Kopf stoßen kann. Nämlich diejenigen, die schon ganz lange hier leben und vor allem eines nicht wollen: plötzlich, nach vielleicht 30 Jahren, willkommen geheißen zu werden. Obwohl sie schon so lange bei uns sind, bemühen wir uns dann, sie zu integrieren, so als würde man ein Werkstück bearbeiten.

Ich sage das alles, um deutlich zu machen, dass zwischen Worten und Wirklichkeit eine Lücke klafft. Wir können es natürlich auch anders sagen: Was vielschichtig ist, viele Facetten hat und verschiedene Phasen durchläuft, das kann vielleicht nicht in einem einzigen Begriff gefasst werden. Je mehr wir zu einer gelebten Einwanderungsgesellschaft werden, desto differenzierter wird auch unsere Sprache werden müssen – und hoffentlich werden können.

Bis jetzt allerdings, und das muss man auch mal ziemlich deutlich ausdrücken, herrscht oft noch Sprachlosigkeit. Wir reden oft nicht genug miteinander. Das betrifft vor allem die großen beiden Gruppen, die oft gegenübergestellt werden, die Einheimischen und die Zuwanderer, die Mehrheitsgesellschaft und die Minderheiten. Das betrifft aber auch die Einwanderer untereinander – einige bleiben, je nach Herkunftsland, lieber unter sich.

Das Deutschland, das wir gemeinsam bauen wollen, braucht aber Dialog, um zu gedeihen. Ich kann es auch schärfer formulieren: Eine neue Gemeinschaft kann nicht entstehen, wenn wir schweigend nebeneinander her leben – sei es aus Absicht oder Unwissenheit, aus Ignoranz, aus Unsicherheit oder schlicht aus Überforderung.

Das beginnt schon im Kleinen. Kennen wir die Familien im Nebenhaus, die aus anderen Teilen der Welt kommen, aus Afghanistan beispielsweise? Und es frage sich jeder selbst, gleichgültig welcher Herkunft: Wer hat wie viele Bekannte oder Freunde aus anderen Ländern oder aus anderen Kulturkreisen?

Das Gefühl von Fremdheit ist kein Schicksal, es ist keine Zwangsläufigkeit. Es existiert und bleibt bestehen, wenn Menschen sich entscheiden, nicht aufeinander zuzugehen. Das Wir, das ich meine, ist eine Verantwortungsgemeinschaft, in der sich jede und jeder zuständig fühlt und fühlen muss, in der jede und jeder sagt: Das ist mein Land. Das ist die Gesellschaft, für die ich mich engagiere. Das ist das Zuhause, in dem ich auch Konflikte offen aussprechen möchte, um sie dann friedlich zu lösen. So ist das Wir, von dem ich spreche, etwas, was ausgehandelt werden muss. Das Argument und der Dialog sind dabei die Mittel der Wahl, nicht die Ausgrenzung, nicht die bewusste Abgrenzung, und nicht die Gewalt.

Wir alle, die wir diesen demokratischen, freiheitlichen Staat für verteidigenswert halten, wir sind aufgerufen, den Zusammenhalt unserer Bürger in eben diesem Geist zu fördern. Denn wir erleben, dass sich fremdenfeindliche Haltungen festsetzen, manche Menschen nicht einmal mehr vor Übergriffen zurückschrecken. Ich denke an diesem Punkt an das, was wir kürzlich wieder erlebt haben mit diesen widerwärtigen Angriffen auf Flüchtlingsheime. Es ist ja unerträglich, dass in einer Gesellschaft gleichzeitig Menschen, Einrichtungen, Institutionen existieren, die weltweit als Vorbild gelten können, und gleichzeitig in derselben Gesellschaft diese Teile einer Bevölkerung existieren, die all das, was uns bewegt, eben genau nicht wollen. Und wir sehen, dass manchmal ganze Milieus Abgrenzung für eine Existenzform halten, die ihnen gemäß ist. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn wir verschiedene Gruppen und ihre Beziehung zu Frauenrechten anschauen, oder die Beziehung mancher Gruppierungen zum säkularen Staat. Und wir sehen in manchen Milieus auch eine offene Verachtung für westliche Toleranz oder westliche Kultur, manchmal auch für demokratische Werte.

Doch genügt es nicht, darüber zu klagen. Es liegt wesentlich an uns, ob Radikale Einfluss gewinnen, ob Verführte gar aus Deutschland in den Dschihad ziehen, ob Parallelgesellschaften erstarken. Es liegt auch wesentlich an uns, ob die Differenz zwischen dem, was wir als Eigenes und was wir als fremd empfinden, ob diese Differenz zunimmt oder abnimmt. Es liegt wesentlich an uns, wie gut es gelingt, die Anderen als Mitglieder derselben Gesellschaft zu akzeptieren – eine Grundvoraussetzung für unseren solidarischen Zusammenhalt.

Ich denke, wir stehen noch ziemlich am Anfang eines Prozesses, jedenfalls wenn ich auf unsere Gesellschaft als Ganzes schaue. Am Anfang eines Prozesses, in dem aus alter Mehrheitsgesellschaft und Einwanderern ein verändertes Deutschland hervorgehen wird. Irgendwann wird das gemeinsame Deutschsein dann nicht nur durch die gemeinsame Staatsbürgerschaft definiert. Es wird vielmehr selbstverständlich sein, dass der oder die Deutsche auch schwarz, auch muslimisch oder asiatisch sein kann.

Der Weg dahin führt nicht über das Schweigen, deshalb wollen wir heute ins Gespräch kommen und deshalb wollen wir überall in der Gesellschaft Gesprächs- und Begegnungsforen schaffen. Derzeit kann man in aufgeklärten Kreisen fast den Eindruck gewinnen, Konsens und Harmonie beim Thema Integration seien das wichtigste, das einzige Ziel. Unsere neue Gemeinschaft ist aber darauf angewiesen, dass wir auch Widersprüche benennen, Herausforderungen erkennen und Probleme zur Sprache bringen und dass wir die Fähigkeit zur Differenzierung beweisen. Das ist natürlich nicht leicht. Werden Differenzen überbetont, dann legitimieren sie Distanzen, vielleicht sogar Gräben, sie erschweren jedenfalls Gemeinsamkeiten. Aber wenn auf der anderen Seite Differenzen und Probleme im öffentlichen Diskurs kleingeredet oder verschwiegen werden, provoziert das Gegenreaktionen und damit auch Ablehnung. Dann verabschieden wir diejenigen aus der Gemeinschaft, die solche Differenzen und Probleme in der Realität doch tatsächlich erleben.

Eines erscheint mir inzwischen klar: Wer erfolgreiche Integration als möglichst weitgehende Anpassung versteht, die am besten binnen einer Generation zu erfolgen habe, der kennt die menschliche Seele nicht oder noch nicht genug. Identitätsveränderung und Mentalitätswandel vollziehen sich langsam, sie lassen sich nur schwer oder gar nicht erzwingen. So fällt mir zum Beispiel auf, dass auch unter den Deutschen, jedenfalls politisch gesehen, noch keine einheitliche Kultur besteht, keine einheitliche Mentalität, weil ein großer Teil der Ostdeutschen noch gefangen ist in einer etwas anderen Mentalität als die Gesellschaft im Westen, die sich über Jahrzehnte daran gewöhnen konnte, in einer Bürgergesellschaft zu existieren. Daran sieht man, dass wir beim Wandel von Mentalität nicht Erwartungen an den Tag legen dürfen, die unrealistisch sind. Identitätsveränderung und Mentalitätswandel vollziehen sich signifikant langsamer als etwa die Veränderung der intellektuellen Potentiale, über die wir verfügen.

Ganz wunderbar hat diese Schwierigkeiten die Journalistin Emilia Smechowska beschrieben, die heute als Emilia Smechowski bekannt ist und als Kind mit ihren Eltern aus Polen nach Deutschland kam. Sie erlebte ihre Eltern damals als Menschen, die in der neuen Umgebung am liebsten unsichtbar sein wollten, die sich um jeden Preis anpassen und um keinen Preis auffallen wollten, außer vielleicht durch besonders gute Leistungen in Schule und Beruf. Emilia Smechowska schreibt deshalb von Strebermigranten. Sie erschienen manchmal deutscher als die Deutschen und zuckten bei Polenwitzen dann doch zusammen. Inzwischen holen sich Emilia Smechowska und andere Angehörige der zweiten Generation das Polnische zurück. Sie wollen deutsch sein, aber doch auch polnisch bleiben. Ich finde, die Autorin hat einen ziemlich überzeugenden Vergleich dafür gefunden, den ich an dieser Stelle zitieren möchte: Ich will als Frau die gleichen Rechte wie ein Mann, das gleiche Gehalt, die gleichen Aufstiegschancen. Das heißt doch aber auch nicht, dass ich ein Mann sein will.

Ich verstehe diesen Vergleich als eine Botschaft: Ich will gleichberechtigt sein aber nicht gleich. Und warum sollten wir ein Problem haben mit solcher Differenz?

Ich freue mich sehr darauf, all diese Themen heute mit Ihnen zu besprechen. Besser gesagt: Ich freue mich auf uns!