Auftakt der 40. Interkulturellen Woche

Schwerpunktthema: Rede

Mainz, , 27. September 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 27. September zum bundesweiten Auftakt der 40. Interkulturellen Woche eine Rede gehalten: "Wir haben in den vergangenen Wochen viel über die deutsche Gesellschaft gelernt. Die Ruhe und die kreative Tatkraft, mit der die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf diese Krise reagiert hat, wie zuvor schon auf andere Herausforderungen, das stellt ihr ein Reifezeugnis aus, mit dem sie auch kommende Prüfungen bestehen wird."

Bundespräsident Joachim Gauck hält  zum Auftakt der 40. Interkulturellen Woche eine Rede im Festsaal der Staatskanzlei in Mainz

Wie schön, dass ich heute mit Ihnen zusammen die 40. Interkulturelle Woche eröffnen kann. Ich gratuliere herzlich zu dem Jubiläum und zugleich zu einer guten Idee, die 1975 von unseren großen christlichen Kirchen umgesetzt wurde. Woche des ausländischen Mitbürgers hieß diese Veranstaltung einmal und allein am Namenswechsel ist ja schon zu sehen, welchen Weg Sie und wir alle zurückgelegt haben. Neue Partner sind dazugekommen, aber das Ziel ist dasselbe geblieben: Gemeinsam treten Sie ein für eine offene und tolerante Gesellschaft. Ich danke Ihnen heute ganz ausdrücklich dafür, dass Sie oftmals schon seit vielen Jahren Aufnahmebereitschaft und Toleranz gelebt und vorgelebt haben auch dafür, dass Sie in den Gemeinden eine breite Basis für diese Werte und eine entsprechende Haltung geschaffen haben.

Jetzt meine Bitte, erlauben Sie mir, in diesem Jahr nicht allgemein über Integration und interkulturelle Begegnung zu sprechen – wohl wissend, dass wir gerade in Ihrem Kreis auf viele positive Erfahrungen zurückgreifen können, die uns bei der Bewältigung der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen hilfreich sein können.

Ich möchte stattdessen über das Thema sprechen, was uns alle bewegt in diesen Wochen, über die Aufnahme von Flüchtlingen, also etwas, was niemanden kalt lässt, was uns alle beschäftigt – ich bin sicher: auch Sie, die Teilnehmer der Interkulturellen Woche.

Wir spüren, dass die Ereignisse der vergangenen Monate außergewöhnlich sind. Was wir sehen, beunruhigt viele und fordert uns alle heraus. Wir ahnen es, wenn wir die Bilder sehen aus Ungarn, vom Balkan, aus Griechenland, aus Italien, aus der Türkei, aus Syrien. Wir ahnen, dass wir es mit einem epochalen Ereignis zu tun haben, dessen Ausmaß und Tragweite wir noch immer schwer erfassen können. Wir ahnen, dass der Zug der Flüchtenden, der vor allem in Deutschland sein erhofftes Ziel findet, unser Land verändern wird. Wie – das liegt an uns.

In dieser Situation, in der es in Europa wie in Deutschland keine Lösungen gibt, die alle zufriedenstellen, ist der Entscheidungsdruck gleichwohl enorm. Und es gibt Handlungszwänge. Politik muss ja immer handeln, selbst wenn man eigentlich noch in der Phase der Abwägung ist, ohne genaue Kenntnis des endgültigen Ziels. Wir haben jüngst erlebt, wie eine sehr verständliche, menschliche Entscheidung der Bundesregierung auf begeisterte Zustimmung einerseits, aber andererseits auch auf eine deutliche Reserve, ja bei einigen sogar Ablehnung stieß. Eine Reihe europäischer Staaten zum Beispiel warnt davor, rechtliche Standards würden durch Entscheidungen aus dem Herzen heraus verwässert. Auch im Inland hat eine lebhafte Debatte darüber begonnen, welche nächsten Schritte erforderlich sind, und was uns eigentlich leiten soll in der Flüchtlingspolitik.

Lassen Sie mich zunächst sagen: Mit wem ich in diesen Tagen auch spreche, ob mit Bürgern oder Amtsträgern, ob ich Flüchtlingsunterkünfte besuche oder politische Versammlungen, überall sind die Menschen, genauso wie ich, tief beeindruckt von der Hilfsbereitschaft und dem Engagement der vielen tausend freiwilligen und hauptamtlichen Helferinnen und Helfern, auch der Kommunen und der Länder. Oft sind mehr Menschen da, die helfen wollen als tatsächlich eingesetzt werden können. Angesichts dieser Herausforderung ist so etwas durchaus neu. Es hat sich etwas verändert in unserer Gesellschaft und darüber dürfen wir uns ruhig einmal freuen.

Aber zugleich treibt viele die Sorge um: Wie kann Deutschland in der Zukunft offen bleiben für Flüchtlinge, wenn zu den vielen, die schon da sind, viele weitere hinzukommen? Wird der Zuzug uns irgendwann überfordern, so fragen sie. Werden die Kräfte unseres wohlhabenden und stabilen Landes irgendwann über das Maß hinaus beansprucht? Mir geht der Satz eines Vertreters der nordrhein-westfälischen Kommunen nicht aus dem Kopf. Ich zitiere ihn: Die Profis und Ehrenamtler können nicht mehr. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Und er fügte dann hinzu, 2016 sei für die Gemeinden ein vergleichbar hoher Zustrom wie in diesem Jahr nicht mehr zu verkraften. Wohl gemerkt, das sagt einer, der hilft, der aktiv ist und nicht einer, der nur zuschaut und meckert.

Inzwischen trauen wir uns, und wenn nicht, dann sollten wir uns trauen, das fundamentale Dilemma dieser Tage offen auszusprechen: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich.

Wir kennen den rechtlichen Rahmen. Unser Asyl- und Flüchtlingsrecht fragt bei jedem Einzelnen nur danach, ob die Voraussetzungen der Schutzgewährung vorliegen. Es bemisst sich nicht nach Zahlen. Und doch wissen wir: Unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt, auch wenn noch nicht ausgehandelt ist, wo die Grenzen liegen. Aus all dem folgt für mich: Wir brauchen gründliche Analysen und eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir eine humane Aufnahmepolitik und eine gesellschaftliche Aufnahmebereitschaft auch in Zukunft sichern können. Einem Gedanken meines Vorgängers Johannes Rau folgend, sollten wir uns dabei weder von Ängsten noch von Träumereien leiten lassen.

Migration – ob sie freiwillig oder erzwungen ist – hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie ist ein Teil der Menschheitsgeschichte, auch der großen Menschheitsdramen. Denn Menschen suchen sich nicht nur eine neue Heimat, weil sie ein besseres Leben wünschen. Oft genug treibt sie der verzweifelte Wunsch, das eigene Leben zu retten. So sehr wir auch wünschten, es wäre anders: Verfolgung, Krieg und Bürgerkrieg sind nicht nur Geschichte, nein, sie sind Gegenwart. Sie treiben Menschen in die Flucht und das erleben wir gerade. Wir erleben, dass wir eigentlich viel intensiver Fluchtursachen bekämpfen müssen und dass wir es doch nicht immer können.

Das Asylrecht hat in der Bundesrepublik Deutschland eine herausragende Bedeutung. Das ist wesentlich eine Lehre aus der Schreckenszeit des Nationalsozialismus, als Juden und politisch Verfolgte in anderen Ländern Schutz suchen mussten. Was es bedeutet, auf die Aufnahmebereitschaft anderer Staaten angewiesen zu sein, das bezeugen Menschen wie Hannah Arendt und Willy Brandt, Fritz Bauer oder Thomas Mann. Von ihrer Erfahrung wollte die Bundesrepublik in ihren frühen Jahren eigentlich wenig wissen. Inzwischen, nach langen Auseinandersetzungen und schmerzhaften Lernprozessen, ist sie aber eingewoben in die politische DNA unseres Landes. Diese Geschichte hat sich uns eingeprägt. Sie schwingt mit, wenn wir heute Flüchtlingen Schutz gewähren, wenn wir politisch Verfolgten Asyl bieten.

Es darf uns freuen, dass aus dem Land, aus dem vor einem Menschenleben Hunderttausende fliehen mussten, heute ein Zufluchtsort geworden ist. Mir fällt in diesem Moment ein, welche Gefühle ich hatte, ein 75-Jähriger, damals war ich noch etwas jünger, 65-jährig, im Krieg geboren, als plötzlich eine Massenzuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland erfolgte, ausgerechnet nach Deutschland. Dass das Land, aus dem sie alle fliehen mussten, das unendlich viele verfolgt hatte, nun eine Heimstatt für solche wurde, die genau in diesem Land wohnen würden. Ich konnte mich damals schon freuen über unser Land und tue es heute noch viel mehr. Nahezu überall wird die Hoffnung, die Flüchtlinge in dieses Deutschland setzen, mit Mitgefühl, Herzlichkeit und mit Offenheit belohnt. Szenen der Freude, wie wir sie in München und andernorts gesehen haben, sie werden uns im Gedächtnis bleiben. Sie werden sich aber nicht beliebig wiederholen lassen, aber sie bleiben trotzdem eingelagert in der kollektiven Erinnerung unseres Landes. So werden sie zu unserem Selbstverständnis gehören und daran erinnern, dass Solidarität Freude macht – und Freunde.

Wenn Menschen zu Hunderttausenden zu uns kommen, aus einem fernen Land mit einer fremden Kultur, ihre ganze Habe oftmals in einer Plastiktüte, dann kommen mit den Menschen Herausforderungen – und, ja, auch Konflikte. Das ist völlig unvermeidlich.

Zunächst einmal stehen wir vor enormen Organisationsaufgaben. Allein schon die Anerkennungsverfahren: so viele Anträge in so kurzer Zeit, zudem die Belastung, dass Menschen zurückgewiesen werden müssen. Angesichts des schnellen Zustroms muss der Staat den Bau von Wohnungen fördern, er muss Schulen bauen, Lehrer und Kindergärtner einstellen, Arbeitswelt und Berufsbildung anpassen, deutsche Sprache und deutsches Recht lehren. All das zu den vorhandenen Aufgaben. Ich stelle vor, was allein die Debatte um die Inklusion im Bereich unserer Schulen und in der Lehrerschaft für Problemdebatten ausgelöst hat. Das läuft ja alles parallel, alles gleichzeitig. Und es muss, kurz zusammengefasst, eine sehr große Gruppe von Neuankömmlingen mit dem Nötigsten versorgt werden und ihnen, die bleiben dürfen, müssen Chancen eröffnen werden.

Für diese Aufgabe, das Ausmaß dieser Aufgabe, gibt es kein Vorbild. So sehr wir Sicherheit und Planungstreue erwarten, so sehr wir uns nach einem Gesamtkonzept sehnen, so müssen wir doch erkennen: Was jetzt gebraucht wird, sind neben Ordnung auch Flexibilität und Phantasie. Beides beschreibt nicht das Versagen, sondern eine Tugend des Gemeinwesens in der aktuellen Krisensituation. Lernen in einer zugespitzten Situation, das meint aber nicht, ein paar eherne Vorschriften zu lockern. Es geht vielmehr darum, eine kreative Haltung zu fördern, die nicht sagt, warum etwas unmöglich ist, sondern die fragt, wie es möglich wird.

Selbst der größte Ideenreichtum, selbst hohe finanzielle Mittel werden aber nicht ausreichen, um Konflikte gänzlich abzuwenden. In diesen Wochen und in absehbarer Zukunft werden wohl weniger Wohnungen fertiggestellt, als Menschen kommen. Wettbewerb um Wohnraum, besonders preiswerten Wohnraum, dürfte unvermeidlich sein. Es ist ungewiss, ob wir überall sofort hinreichend Plätze in Kindertagesstätten oder Schulen anbieten können. Die Verantwortlichen in Städten und Gemeinden, sie mühen sich nach Kräften. Aber wir alle wissen, in welch schwieriger Lage die Haushalte vieler Kommunen seit längerem sind. Ich habe den größten Respekt vor dem, was gerade in unseren Städten und Gemeinden geleistet wird und ich will an dieser Stelle allen, die sich hier einsetzen, ein herzliches Dankeschön sagen. Schauen wir noch einmal die Bildungseinrichtungen und die Unternehmen an: Welch große Aufgaben kommen jetzt auf sie zu. Arbeit, für diejenigen, die arbeiten dürfen, sie ist zwar mancherorts vorhanden, oft jedoch nicht die Arbeit, die gesucht wird. Oder es werden erforderliche Qualifikationen fehlen, genauso Sprachkenntnisse. Auf die sozialen Sicherungssysteme kommen zunächst Kosten zu, denn erst später werden aus den neuen Nutznießern auch Einzahler.

So manchem werden die Folgen der gegenwärtigen Notaufnahme von Flüchtlingen nicht gefallen. Turnhallen stehen für den Schulsport nicht zur Verfügung. Grünanlagen und Schwimmbäder verwandeln sich in Notunterkünfte. Manche Beschwerde kann ich durchaus nachvollziehen.

Da hilft nur eins: Wir müssen schnell handeln. Es gilt, Spannungen zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen so weit wie irgend möglich zu vermeiden. Und das wird am besten gelingen, wenn die einen wie die anderen nicht übervorteilt werden oder sich jedenfalls nicht übervorteilt fühlen. Deutschland hat in seiner Geschichte wiederholt bewiesen, dass es Engpässe und materielle Herausforderungen meistern kann.

Vorhin wurde beispielsweise von Ihnen, Frau Ministerpräsidentin, die Wiedervereinigung Deutschlands erwähnt. Das allein schon unter finanziellen Gesichtspunkten zu sehen, zeigt, dass wir schon unglaubliche Herausforderungen angenommen und gemeistert haben. Aber das ist nicht die einzige. Was wir wollen, ist, dass bei allen unseren Entscheidungen diese Gesellschaft eine solidarische Gesellschaft bleibt, und zwar für alle, die Einwohner, die immer hier waren und die, die in Zukunft bei uns bleiben werden. Um das sicherzustellen, haben sich Bund und Länder in der vergangenen Woche auf weitreichende Maßnahmen geeinigt. Klar, dass sich nicht jeder zufrieden zeigt, aber für mich als langjährigen Beobachter der Politik ist diese Entscheidung schon einmal etwas, über das man sich schon freuen kann.

Es gibt auch Herausforderungen, die übrigens durch keine Haushaltszuwendung und kein Investitionsprogramm gemeistert werden können. Integration nämlich ist ein langwieriger, kultureller Prozess und eine gemeinschaftliche Anstrengung. Wer wüsste das besser als Sie hier, die Sie so viele Jahre daran arbeiten, an diesem Thema. Große neue Bevölkerungsgruppen werden zu verbinden sein mit einer Mehrheitsgesellschaft. Beide Seiten müssen allerdings auch bereit sein, diesen Weg zu gehen.

Die Bundesrepublik hat jahrzehntelange Erfahrung mit Zuwanderung. Der rechtliche Rahmen dafür hat sich erst langsam entwickelt und die Republik kennt bis heute zwar viele Regeln, aber kein Einwanderungsgesetz. Neben Erfolgen gab es auch viele Fehler und Versäumnisse. Ausnahmsweise zitiere ich an dieser Stelle einmal einen aktiven Politiker – allerdings einen aus einer Einwanderungsfamilie. Es ist Cem Özdemir. Er hat es auf die Formel gebracht: Gute Integration heißt, frühere Fehler vermeiden.

Die Aufgabe ist nun: schneller und intensiver Deutsch lehren! Flüchtlinge, die bleiben, schneller ausbilden, umschulen und arbeiten lassen! Sie schneller aufnehmen in unsere Vereine und Organisationen! Sie einfach schneller spüren lassen, dass sie dazugehören, dass wir zusammen eine Gemeinschaft bilden!

Bei vielen, bei den meisten, die zu uns kommen, werden wir erleben, dass sie Freiheit und Frieden schätzen und die Chance ergreifen, die ihnen unser Land bietet. Die Menschen sind ja gerade deshalb geflohen, weil sie selbst sich in Unterdrückung und Krieg so sehr nach einer politischen Ordnung sehnten, die dem Einzelnen Entfaltungsmöglichkeiten und den Vielen Frieden, Recht und Gerechtigkeit bietet. Diese Menschen werden schnell verstehen, dass der größte Schatz dieser Republik ihre Verfassung, unser Grundgesetz ist. Das Grundgesetz, das die Rechte und die Würde eines jeden Individuums schützt, das Volkssouveränität und Gewaltenteilung sichert und die Grundlage bildet für Toleranz und die Offenheit, die es auch Fremden erlaubt, heimisch zu werden.

Und dann wird es auch Menschen geben, die sich lange fremd fühlen werden in Deutschland. Die unter Freiheit nur Schrankenlosigkeit verstehen. Die Säkularismus und Moderne kritisieren und in den Traditionen und Rechtstraditionen ihrer Herkunftsregionen verharren wollen. Um diese Menschen müssen wir uns bemühen, um sie müssen wir werben und ihnen dabei unsere Normen erklären und vorleben. Hier sehe ich eine besondere Aufgabe für jene Menschen, die schon früher angekommen sind in Deutschland. Gerade sie, viele sind heute unter uns, können zu Brückenbauern werden für die neuen Zuwanderungen. Ich ermutige Sie, das in Ihren Milieus, bei Ihren Bekannten und Freunden kräftig anzuschieben. Ich freue mich darauf, ich sehe Sie hier, Herr Mazyek, wir sehen uns oft, und ich weiß, dass Ihnen das auch am Herzen liegt. Wir wollen versuchen, eine gemeinsame Dynamik zu entwickeln auf diesem Gebiet.

Schließlich, und auch davon möchte ich den Blick nicht abwenden, werden sich unter die Ankommenden Menschen mischen – sehr wenige, wie ich hoffe – die Konflikte aus ihrer Heimat auf deutschem Boden weiterführen wollen: Fundamentalisten, Antisemiten und andere Ideologen, die unsere Gesetze missachten und die freiheitliche Ordnung bekämpfen. Denen sage ich: Wir wollen in diesem Land keinen religiösen Fanatismus. Sogenannte Gotteskrieger müssen wissen: Der Rechtsstaat duldet keine Gewalt. Er wird die Täter konsequent verfolgen.

Dasselbe gilt selbstverständlich auch für jene Gewalttäter, die sich Asylgegner nennen und Flüchtlingsheime anzünden. Rechtsradikale Brandstifter und Hetzer müssen wissen: Es gibt keine rechtsfreien Räume in diesem Land. Ihr werdet verfolgt werden und im Übrigen werden wir, die Solidarischen, gewinnen.

Die Herausforderungen sind erheblich. Sie zu bewältigen, wird Geld, Zeit, Verständnis, Geduld und viel, viel Mühe fordern. Es ist eine Kraftanstrengung, wie sie die Bundesrepublik selten meistern musste. Auch unpopuläre Entscheidungen und unbequeme Schritte werden notwendig sein. Aber die Bewältigung dieser Aufgaben kann gelingen – mit Hilfe einer aktiven Zivilgesellschaft und mit einer fähigen Verwaltung – und, ja, auch das müssen wir uns eingestehen, wenn der Zustrom der Schutzsuchenden besser steuerbar wird.

Das zentrale Dilemma unserer Tage lässt sich nicht einfach vermeiden oder wegdiskutieren: Dem humanen Wollen zur möglichst unbegrenzten Hilfe stehen am Ende doch immer begrenzte Möglichkeiten gegenüber.

Und in jedem von uns, wir spüren das ja, wohnen zwei Seelen: Es ist da einerseits die Erfahrung der Geschichte, es sind auch unser Selbstbild und unsere Achtung vor den universellen Werten der Aufklärung, die uns sagen lassen: Es muss Staaten geben, in die Menschen flüchten können, solange es Krieg und Verfolgung gibt. Und unser Deutschland muss einer dieser Staaten sein und bleiben.

Damit das so bleibt, müssen Staaten, aber auch ein Staatenverbund wie die Europäische Union, ihre äußeren Grenzen schützen. Denn nur so können wir die Kernaufgaben eines staatlichen Gemeinwesens erfüllen: die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und letztlich des inneren Friedens. Sie sind die Voraussetzungen dafür, überhaupt Flüchtlinge in großer Zahl aufnehmen zu können.

Indem wir diese Spannung erkennen zwischen dem Wollen und dem Können, öffnen wir uns für die Schwierigkeiten, die vor uns liegen. Es gilt, in einem Wertekonflikt kluge Entscheidungen zu treffen. Und gerade weil das so schwer ist, sollte unser Respekt denen allen gelten, die es versuchen. Denen jedenfalls, die sich verantwortungsbewusst an der Debatte über dieses Dilemma beteiligen.

In dieser Situation habe ich eine dringende Bitte: dass sich die Besorgten und die Begeisterten nicht gegenseitig denunzieren und bekämpfen, sondern dass sie sich in einem konstruktiven Dialog begegnen.

Was vor uns liegt, ist im Übrigen – auch daran dürfen wir in dieser Situation einmal denken – nicht nur eine Aufgabe für uns Deutsche. Es handelt sich um eine Herausforderung, die wir als Europäer gemeinsam zu meistern haben. Nicht mit Schuldzuweisungen, sondern gemeinsam in Solidarität. Die europäischen Beschlüsse der vergangenen Woche, etwa zum Bau von Registrierungszentren in Südeuropa sind dazu ein erster Schritt.

Wir haben in den vergangenen Wochen viel über die deutsche Gesellschaft gelernt. Die Ruhe und die kreative Tatkraft, mit der die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf diese Krise reagiert hat, wie schon zuvor auf andere Herausforderungen, das stellt dieser Gesellschaft ein Reifezeugnis aus. Wir dürfen also darauf vertrauen, dass sie auch kommende Prüfungen bestehen wird. Wir dürfen uns nicht einfach der Angst in die Arme werfen.

Dass Vernunft und Mitgefühl unser Land prägen – das wussten wir, und wir sind doch froh, in diesen Wochen so zahlreiche, neue und überzeugende Beispiele dafür zu erhalten. Wer glaubte, dass der Bürgergesellschaft der Elan schnell ausgeht, der wird übrigens in diesen Tagen eines Besseren belehrt. Wo sich Not zeigte, waren und sind Helfer zur Stelle, sofort, spontan, mancherorts mehr als gebraucht werden. Eine Graswurzelbewegung der Menschlichkeit ist eingesprungen, wo der Staat anfangs nicht schnell genug reagieren konnte. Und es ist gut, dass zu den Helfern viele zählen, die selbst Einwanderer sind oder aus Einwandererfamilien stammen. Das freut mich besonders. Denn sie zeigen, wie in einer sich wandelnden Gesellschaft Bürgersinn wächst, und zwar rund um die gemeinsamen Werte. Deshalb bin ich den vielen Freiwilligen – auch denen hier im Saal – dankbar für jede Hilfe und für jede freundliche Geste. Ich bin sicher, es wird an vielen Orten schon darüber nachgedacht, was im Winter zu tun sein wird. Es gilt, dafür Sorge zu tragen, dass Engagement und Hilfe auch dann anhalten, wenn die Euphorie des ersten Helfens verflogen sein wird.

Es freut mich zu sehen, dass auf allen Ebenen unseres Staatswesens getan wird, was möglich ist, um der Lage Herr zu werden. Zwischen Kommunen, Ländern und Bund wird zunehmend Hand in Hand gearbeitet. Binnen Wochen ist einiges auf den Weg gebracht worden: Finanzzuweisungen und notwendige Gesetzesänderungen, Investitionen in Infrastruktur und Bildung, auch die zeitweiligen Grenzkontrollen und die Bemühungen der Außenpolitiker möchte ich durchaus dazu rechnen.

Es wird Zeit brauchen, bis sich die Lage normalisiert. Wenn die Nothilfe aber einmal hinter uns liegt, dann werden wir in dem, was wir heute als Krise erleben, auch eine Chance entdecken können. Es kommen Menschen zu uns, die Schutz suchen, aber auch eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Wohl die allermeisten bringen Elan und Ehrgeiz mit, und Ausdauer – meine Güte, Ausdauer –, sonst hätten sie die Fluchtstrapazen doch überhaupt nicht gemeistert. Sie können, sofern sie bleiben dürfen und wollen, hier ihre Fähigkeiten einbringen. Nicht aus jedem wird eine Fachkraft, das ist mir klar, aber ich ermutige jede und jeden, die eigenen Potentiale zu entdecken und hier zu entfalten.

Und deshalb möchte ich nun, zum Schluss, jene Menschen ansprechen, die bei uns bleiben werden, die bei uns Aufnahme finden.

Nach den Mühen Ihrer Odyssee will ich Ihnen sagen: Sie sind hier sicher.

Die größte Tugend, die nun Ihnen abverlangt wird, ist Geduld. Sie werden Zeit brauchen, bis Sie sich in Ihr neues Leben einfinden, bis Sie Wohnung und Arbeit finden. Sie werden auch Frustrationen erleben. Die größte wird gewiss sein, wenn Sie erleben, dass nicht alle Menschen, die Ihnen nahe stehen, in Deutschland Aufnahme finden können.

Ich will Ihnen, die Sie bleiben werden, offen sagen: Wir Deutsche erwarten und erhoffen etwas von Ihnen. Denn wir wissen: Wir tun Menschen nichts Böses, wenn wir etwas von Ihnen erwarten. Deshalb: Bringen Sie sich ein, voll ein, in der Gesellschaft und hoffentlich bald auch am Arbeitsplatz. Überwinden Sie die Hürden des Beginns, lernen Sie die Sprache und lassen Sie sich ein auf Ihre neuen Nachbarn und Ihre neue Umgebung. Und vor allem, machen Sie sich eins bewusst: Wir leben hier in einem Land des Rechts und der Freiheit, der Menschenrechte und der Gleichberechtigung der Geschlechter. Es kann auch das Ihre werden.

Das Wichtigste, das Sie von nun an gewinnen werden, ist das Leben innerhalb der freiheitlichen Ordnung dieses Landes. Diese Ordnung garantiert Ihnen Ihre Aufnahme und ermöglicht unser Zusammenleben in Toleranz und wechselseitigem Respekt. Sie treten ein in ein Land, das sich durch Neuankömmlinge wiederholt verändert hat. Aber es ist dabei den Werten, die es sich in seiner schmerzvollen Geschichte erarbeitet hat, immer treu geblieben. Es ist das Land der Freiheit und der Menschenrechte. Dieses Land, in das Sie kommen wollten, weil es das Ziel Ihrer Hoffnung war.

Und abschließend, meine Damen und Herren, ein Wort an uns, die Sorgenden und die Besorgten: Wenn wir Probleme benennen und Schwierigkeiten aufzählen, so soll das nicht, so soll das niemals unser Mitgefühl – unser Herz – schwächen. Es soll vielmehr unseren Verstand und unsere politische Ratio aktivieren.

Wir werden also weiter wahrnehmen, was ist – ohne zu beschönigen oder zu verschweigen.

Wir werden weiter helfen, so wie wir es tun – ohne unsere Kräfte zu überschätzen.

So werden wir bleiben, was wir geworden sind: Ein Land der Zuversicht.