Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 1. Oktober 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 1. Oktober bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland anlässlich des Tages der Deutschen Einheit eine Rede gehalten: "Wir spüren bei denen, die wir als Vorbilder in die Mitte der Gesellschaft stellen: Es ist so viel mehr möglich als das Übliche. Und oft passiert dann etwas Wunderbares, wird eine Kraft frei: 'Lass uns das auch probieren!'"

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede im Großen Saal von Schloss Bellevue anlässlich der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

Was für ein schöner, festlicher Auftakt. All das ist ein Geschenk an Sie, an uns. Es ist der Rahmen für ein Bild, in dem Sie, meine verehrten Gäste, die Hauptsache sind. Sie werden eingerahmt von diesem musikalischen Meisterwerk bei einem staatlichen Akt der Anerkennung. Dazu begrüße ich Sie sehr herzlich. Ich will das Meine tun, um Ihnen diesen Tag schön zu machen, glaube allerdings nicht, dass ich an Daniel Hope und Sebastian Knauer herankommen werde.

Eben habe ich von einem Bild gesprochen, in dem Sie das Hauptmotiv sind, Sie, die heute ausgezeichnet werden. Sie, die dieses Land voranbringen und die etwas tun, damit es zusammenhält.

Sie – fünfzehn Frauen und siebzehn Männer – bekommen gleich einen Orden, so heißt das im Volksmund. Das ist eine traditionsreiche, greifbare Form der Anerkennung. Vor allem: ein Dankeschön, das lange nachwirken soll. Ein Dank dafür, dass Sie sich seit vielen Jahren, oft Jahrzehnten um unser Land, um seine Menschen, seine Kultur, seine Wissenschaft und sein soziales Gefüge verdient machen.

Ich weiß das, weil ich einige von Ihnen kenne. Und ich weiß: Niemand von Ihnen hat all das getan, um einen Orden an der Brust zu tragen. Sie tun das, weil Sie es für selbstverständlich halten. Ja, buchstäblich: selbstverständlich. Es gehört zu Ihrem Selbstverständnis, Außergewöhnliches zu leisten. Viele sagen, sie hätten einfach das Naheliegende getan, andere, sie hätten einfach nur geholfen, ohne dabei etwas Außergewöhnliches gewollt zu haben. Aber anderen Menschen in Ihrer Nähe ist eben doch aufgefallen, dass Sie etwas Besonderes geleistet haben. Das imponiert mir. Und wie Sie ahnen, stehe ich mit dieser Meinung nicht alleine. Viele Menschen beteiligen sich daran, diejenigen auszusuchen, die den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland erhalten.

Wenn der Staat einen Orden verleiht, dann nicht nur in Anerkennung der persönlichen Verdienste, sondern auch mit der Hoffnung – ja, auch ein Staat kann hoffen –, dass eine solche Wertschätzung ausstrahlt. Denn wir möchten, dass andere Menschen sich und ihr Leben kritisch befragen beim Vergleich mit jenen, die man als Vorbilder betrachtet. Vielen von uns ist es doch auch so gegangen, bis uns irgendwann in unserer Jugend eine besondere Form von Menschlichkeit, von Güte, von Kreativität, von Phantasie, von Leistungswillen ans Herz gewachsen ist, so dass wir selber einen Lebensplan gefunden haben. Vielleicht war die Melodie, der wir folgen, anfangs verborgen, aber irgendwann stellte sie sich dar. Oft hing es damit zusammen, dass eine bestimmte Person uns inspiriert hat. Dieser Vorbildcharakter lässt sich nur schwer materialisieren. Aber wir alle spüren ihn. Wir spüren bei denen, die wir als Vorbilder in die Mitte der Gesellschaft stellen: Es ist so viel mehr möglich als das Übliche. Und oft passiert dann etwas Wunderbares, wird eine Kraft frei: Lass uns das auch probieren! Indem wir uns einsetzen mit unseren Möglichkeiten und Gaben, da geben wir der Welt ein Zeichen: Wir sind miteinander unterwegs. Es gibt noch etwas zu tun, es gibt es noch etwas zu verbessern, es gibt noch etwas zu heilen, es gibt noch etwas zu lieben. Ohne diese besonderen Momente, diese besonderen Ideen, diese besonderen Begabungen, diese besonderen Anstrengungen, da wäre unser Land ärmer, um vieles ärmer.

Liebe Vorbilder, ich freue mich wirklich sehr, Sie hier live und in Farbe vor mir zu sehen: eine wahrhaftig bunte Mischung von Biographien, manche sind sehr berühmt, manche weniger. Aber Sie alle werden gleich einen Orden tragen, der keine Unterschiede macht zwischen bekannten und unbekannten Gesichtern. Im Gegenteil, dieser Orden steht gerade für das, was uns verbindet und was uns als Gesellschaft stark macht.

Die heutige Namensliste ist schon außergewöhnlich. Lassen Sie mich mit den Menschen beginnen, an die wir in diesen Tagen besonders oft und intensiv denken: Frauen und Männer, die sich um die Deutsche Einheit verdient gemacht haben. Besser gesagt: um die Freiheit und die daraus folgende Einheit, um ganz korrekt zu sein. Das war in den Schlüsseljahren 1989/90, aber auch schon deutlich davor und noch deutlich danach, in jüngerer Zeit bis in den Deutschen Ethikrat und bis ins Europäische Parlament hinein.

Viele von Ihnen, fast ein Drittel der Ehrengäste, waren bereits zu DDR-Zeiten im Umfeld der Kirchen, in der Friedens- oder Umweltbewegung aktiv. Sie haben unerwünschte Lieder gesungen, unerwünschte Filme gezeigt, unerwünschte Gedanken unter die Leute gebracht, manchmal mündlich, manchmal schriftlich, und vor allem: fortwährend unerwünschte Fragen gestellt und damit für sich und Ihre Familien viel riskiert. Auch daran sollten wir an einem solchen strahlenden Festtag durchaus einmal denken. Mancher hat nicht nur Repressalien erduldet, sondern sogar Verhaftung. Aber Sie, meine Damen und Herren, Sie haben trotzdem nicht klein beigegeben.

Und dann dieser Mut und dieses Durchhaltevermögen in der Zeit, als die Ängste uns noch dominierten und die Ohnmacht der Normalfall war. An den Mut derer, die damals nicht klein beigegeben haben, erinnere ich an diesem Tag vor unserem Nationalfeiertag besonders gern. Ich bin dankbar, dass gerade Sie – die Bürgerbewegten – nicht müde werden zu erzählen, was Sie erlebt und wofür Sie gekämpft haben, und ich bin dankbar, dass Sie bis heute so leidenschaftlich für unsere Demokratie eintreten.

Ihre Freiheitsliebe, Ihr Mut und Ihre Tatkraft sind eine sehr wesentliche Verschönerung und Bereicherung des Bildes, das die Bundesrepublik Deutschland abgibt. Unser Land braucht Sie auch weiterhin. Denn inzwischen – das müssen wir uns immer wieder mal deutlich machen, gerade in meiner Altersgehorte – inzwischen leben in unserem Land ja sehr viele Menschen, die vieles gar nicht mehr wissen, weil sie nicht mehr gespürt haben, was DDR ist. Jüngere Menschen, die kaum noch einen Zugang haben zu Zeiten der Ohnmacht in der Diktatur, denen Namen wie Bautzen oder Torgau wenig sagen, während die Eingeborenen von damals bei der Nennung solcher Namen ganz bestimmte Gefühle in sich erleben. Umso mehr brauchen wir die Zeitzeugenberichte und die authentischen Erinnerungsorte, um den Bogen von damals in die Gegenwart zu spannen. Großen Dank an Sie, meine Damen und Herren, dass Sie sich für dieses wichtige Stück deutscher Aufarbeitung, auch für das Zusammenwachsen unseres Landes – im Sinne von Ost und West und im Sinne der Generationen – so intensiv engagieren!

Wir alle wissen: Diese Arbeit darf nicht aufhören, auch nicht mit Blick auf die länger zurückliegende deutsche Diktatur und ihre Opfer. Auch sie wollen wir nicht vergessen. Wenn ich heute Menschen auszeichne, die gemeinsam mit jungen Leuten nachfragen und nachforschen, dann auch ausdrücklich deshalb, weil die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus an unseren Schulen nicht verblassen darf. Jeder Jahrgang muss aufs Neue damit konfrontiert werden. Und zwar auf zeitgemäße Weise. Es macht ja durchaus einen Unterschied, ob man – wie vor zwanzig Jahren – eine Schulklasse vor sich hat, in der fast alle Kinder noch die Kriegs- oder Nachkriegsgeschichten ihrer Eltern und Großeltern gehört haben, oder ob diese Erinnerung fast gänzlich fehlt. In Familien mit Migrationshintergrund wird sie von anderen Erzählungen zuweilen völlig überlagert.

Nun habe ich das Wort Migrationshintergrund benutzt, eigentlich mag ich es gar nicht, aber es verweist ja auf einen Sachverhalt, mit dem wir gerade in der gegenwärtigen Zeit so intensiv zu tun haben. Mein Eindruck ist: Wir sehen im Moment mehr die Probleme und weniger die Chancen, obwohl wir ganz genau wissen, dass es beides gibt. Migrationshintergrund, dieses Wort – so sperrig es ist – es spielt auch bei Ordensverleihungen oft eine Rolle. Als wir die heutigen Ehrengäste eingeladen haben, war noch nicht klar, wie aktuell gerade dieses Thema sein würde. Ich spreche von all denen hier im Saal, die Asylsuchenden helfen. Und jenen, die auch später noch unterstützen, wenn Neubürger Orientierung im Alltag suchen.

Diese Integrationsarbeit wird in den nächsten Monaten und Jahren maßgeblich mit darüber entscheiden, wie gut und gedeihlich, wie freundlich und friedlich unser Land sich entwickelt, und ob es seinen Zusammenhalt wahren kann. Deshalb meine Bitte: Teilen Sie Ihre Erfahrungen und Ihre Motivation mit möglichst vielen Menschen. Deutschland braucht Brückenbauer wie Sie mehr denn je!

Beim Wort 'Brückenbauer' muss ich auch an diejenigen aus Ihrem Kreis denken, die mit den Mitteln der Kunst – mit Musik, Text und Bild – gesellschaftliche Ereignisse, unsere Hoffnungen wie unsere Sorgen begleiten. Da ist die Schauspielerin, die uns so unnachahmlich zum Lachen und zum Weinen bringt. Die Theaterregisseurin, die für ihre Inszenierungen so oft gelobt wurde wie nur wenige ihres Fachs. Der Kunsthistoriker, dem es gelingt, Geistes- und Naturwissenschaften füreinander zu öffnen. Der Dokumentarfilmer, der uns grüne Schätze von Gotha bis zum Yukon River nahebringt. Der ungarische Schriftsteller und der italienische Germanist, die uns mit Worten faszinieren, aufwecken, ja wachrütteln. Und nicht zuletzt der Musiker, der mit seinen Melodien Problemkieze in Konzertkieze zu verwandeln vermag.

Wir werden gleich mehr über jede und jeden Einzelnen hören. Über haupt- wie ehrenamtliche gute Taten. Über Geschichten, die uns berühren. Dabei denke ich besonders an unsere Gäste, die sich für Kinder einsetzen, etwa um seltene Krankheiten zu überwinden, oder weil die Kleinen – fernab von europäischem Wohlstand – in großer Armut leben müssen. Auch für dieses Engagement: großen Dank!

So viel fast unerschöpfliche Energie, so viel Exzellenz in einem Saal! Das gilt für den Meeresforscher, der den größten aller Lebensräume unseres Planeten erforscht, einen Bereich, über den wir immer noch verhältnismäßig wenig wissen. Und das gilt für den Theologen, genauso für den Juristen, der gleich einen Orden erhält. Bei allen dreien passt das schöne Kompliment: Meine Herren, Sie haben uns neue Tiefen eröffnet!

Ich freue mich sehr darauf, hier vorn gleich 32 Mal zu gratulieren. Und ich gratuliere noch jemandem: unserem Land, der Bundesrepublik Deutschland, es hat solche Menschen wie Sie in der Mitte, Menschen, deren Hingabe und Leistungsbereitschaft sie zu dieser ganz besonderen Auszeichnung geführt haben – zum Orden für die Hochverdienten. Herzlichen Glückwunsch!