Empfang in der Deutschen Botschaft in Washington D.C.

Schwerpunktthema: Rede

Washington D.C./USA, , 7. Oktober 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 6. Oktober eine Ansprache beim Empfang in der Deutschen Botschaft in Washington D.C. gehalten: "Wir brauchen allerdings ein klares Bild von einer besseren Zukunft und das müssen wir gemeinsam entwickeln. Das wird uns nicht gelingen ohne den Mut der politisch Verantwortlichen. Genauso brauchen wir aber auch den Mut und den Einsatz der Bürgerinnen und Bürger."

Bundespräsident Joachim Gauck hält ein Grußwort beim Empfang zum Tag der Deutschen Einheit in der Residenz des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Washington

Bei diesem Besuch anlässlich des Jubiläums der Wiedervereinigung komme ich nicht allein in dieses Land, sondern ich habe Menschen mitgebracht in meiner Delegation, die für ein enges und vertrauensvolles Verbundensein mit Amerika stehen. Es sind Persönlichkeiten aus Deutschland, die mit ihrem Wirken im Kulturleben oder in der Wissenschaft, in der Zivilgesellschaft und der Politik, Bedeutung erlangt haben und die neben den Beziehungen der offiziellen Politik Verbindungen zwischen unseren beiden Ländern herstellen: Marianne Birthler, Professor Michael Göring, Professor Ulrich Haltern, Professor Paul Nolte, Professor Ferdi Schüth, Jan Schütte sowie Professor Margret Wintermantel. Sie begleiten mich neben Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments und freuen sich auf die Begegnungen und Gespräche nachher mit Ihnen.

Ich denke an diesem Abend an die Demonstrationen für Freiheit und Demokratie des Jahres 1989, die dann zum Mauerfall am 9. November 1989 führten. Danach kamen die ersten freien Wahlen, das war im März 1990, in Ostdeutschland. Schließlich kam der Tag der Deutschen Einheit, der 3. Oktober 1990. Seitdem ist aus dem geteilten Land wieder ein Land geworden. Das sind ganz wichtige historische Schritte gewesen, die wir niemals vergessen werden. Und nicht nur für mich persönlich waren das Ereignisse und Erfahrungen, die unser Leben fundamental verändert haben. Dieser Aufbruch damals, das Ertasten und schließlich das Ergreifen von Freiheit und Verantwortung – das war so etwas wie ein Frühling im Herbst, es war die beglückendste Zeit meines Lebens.

Als in der Nacht zum 3. Oktober 1990 vor dem Berliner Reichstag die Flagge der Einheit, die deutsche Flagge, gehisst wurde, da ertönte, zugespielt aus dem Rathaus Schöneberg, die Berliner Freiheitsglocke. Viele von Ihnen wissen es wahrscheinlich, diese Glocke ist ein Geschenk des amerikanischen Volkes, ein Ebenbild Ihrer Liberty Bell. Als ich damals die Glockenschläge der Einheit hörte, da stand ich auf den Stufen des Reichstagsgebäudes. Ein Abgeordneter des ersten frei gewählten Parlaments, der nun ein gesamtdeutscher Abgeordneter war. Und gestern, ein Vierteljahrhundert später, habe ich in Philadelphia vor der Original-Freiheitsglocke gestanden, ich habe sie nicht nur angesehen, ich musste sie anfassen. Dort im Liberty Bell-Pavillon zu stehen, das ist für jemanden wie mich, der jahrzehntelang erlebte, wie das Versprechen der Freiheit unterdrückt wurde, ein bewegendes Erlebnis.

Ich dachte an die Hunderttausenden, die 1989 bei mir zu Hause riefen: Wir sind das Volk! Diese Menschen hatten für sich jene Botschaft entdeckt, die seit mehr als 200 Jahren die amerikanische Verfassung und das Selbstverständnis der Amerikaner prägt: We the People.

In Philadelphia, im National Constitution Center und der Independence Hall begegneten wir den großen Dokumenten der amerikanischen Freiheitsgeschichte. Am Abend hatte ich plötzlich ein kleines Geschenk in der Hand, die amerikanische Verfassung. Dazu fällt mir eine Geschichte aus der Vergangenheit ein, die ich Ihnen erzählen möchte: Mir ist die amerikanische Verfassung schon ein Mal 1989 in diesem aufrührerischen Herbst begegnet, der zur Friedlichen Revolution wurde. Meine Heimatstadt ist Rostock an der Ostsee, und ich war dort Sprecher der Bürgerbewegung. Damals haben die Bürger versucht, die Demokratie neu zu erfinden. Sie machten sich Gedanken, wie soll eine Schule aussehen in der Demokratie, wie die Polizei, wie das Militär, wie die öffentliche Verwaltung? Es wurden Arbeitsgruppen gegründet, um festzulegen, wie es zugehen soll in der Demokratie. Und einige dieser Bürger sagten: Aber wir brauchen auch eine neue Verfassung. Nun überlegten die Menschen in dieser Gruppe, woran sie sich orientieren könnten. Und plötzlich, tatsächlich, legte jemand eine amerikanische Verfassung auf den Tisch! Eine Miniaturausgabe, die ein Rostocker Bürger in den Jahren der SED-Herrschaft gehütet hatte. Ich weiß nicht, ob aus den Beratungen der Gruppe ein Textentwurf hervorgegangen ist. Es ging dann doch alles sehr schnell. Aber ich erinnere mich an die Inspiration, die von der amerikanischen Verfassung ausgehen kann: We the People.

Meine Damen und Herren, ich will noch eine andere Erinnerung preisgeben, die mit der Verfassung der Vereinigten Staaten zusammenhängt. Anfang der 1990er Jahre besuchte ich zum ersten Mal die Vereinigten Staaten auf Einladung der USIA (United States Information Agency), die Menschen aus Europa einlud, Amerika kennenzulernen. Ich reiste also in die Vereinigten Staaten und besuchte auch die National Archives. Ich wusste, dass dort die Urfassung der Constitution aufbewahrt wird und wünschte mir, sie zu sehen. Ich ging also zu diesem Raum, in dem die Verfassung in einem Schrein liegt, und was ich als Erstes sah, war eine Besucherschlange. Schon das war ein Erlebnis: all diese Menschen, Jung und Alt, Besucher jeder Hautfarbe, Ausländer, aber vor allem Amerikaner, aus Texas, aus Missouri, aus Oklahoma. Sie alle standen dort. Sie standen dort an einem ganz gewöhnlichen Werktag, weil sie sich doch wohl mit der amerikanischen Verfassung und ihren Grundprinzipien identifizierten, weil ihnen dieses Original etwas bedeutete. Sie alle waren doch wohl angezogen von der Kraft des We the People. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Escort-Officer Dean Claussen deutsch redete. Sofort sprach mich ein etwa elfjähriger Junge, der vor mir in der Reihe stand, an: Where are you from? Germany, Berlin. Oh Great!, antwortete er. Ich fragte ihn also: Und woher kommst du? Aus einem kleinen Ort in Texas. Und was machst du hier, wollte ich von dem Jungen wissen. Ich besuche meine Verfassung. Wow, ich war einem Amerika begegnet, von dem ich vorher nichts wusste. Ich fing an zu träumen: Eines Tages will ich so eine Begegnung in Deutschland haben – auf Du und Du sein mit der eigenen Verfassung, mit seinem eigenen Land –, ganz einfach, ganz natürlich.

Dazu gehört, tief davon überzeugt zu sein, dass der Souverän das Volk ist. Wegen dieser Grundüberzeugung vermochten die Vereinigten Staaten damals die deutsche Einheit positiv zu bewerten und sie wie selbstverständlich früh und entschlossen zu unterstützen. Besonders danke ich dem amerikanischen Präsidenten, der so etwas wie der Patron der deutschen Einheit war, George Bush Senior. Er persönlich war es, der die Wiedervereinigung entschieden mit vorantrieb. Und Präsident Bush hat dabei von Anfang an auch europäisch gedacht. A Europe Whole and Free, der Titel seiner wegweisenden Mainzer Rede im Mai 1989, fasst das Ziel zusammen, dem wir auch heute noch verpflichtet sind.

Sie wissen es alle: Europa steht vor schwierigen Aufgaben, vor Problemen, die an das europäische Wertebewusstsein und Selbstverständnis rühren und die zugleich weit über die europäischen Grenzen hinausreichen, wie sich auf bedrückende Weise in der Flüchtlingskrise zeigt. Es ist in dieser Zeit wichtig, dass wir die Kräfte unserer transatlantischen Partnerschaft und der deutsch-amerikanischen Freundschaft bündeln und nutzen.

Erinnern wir uns: Die deutsche Einheit und das Ende der sowjetischen Diktatur in Osteuropa, sie zeigen doch, was politischer Gestaltungswille bewirken kann. Wir brauchen allerdings ein klares Bild von einer besseren Zukunft und das müssen wir gemeinsam entwickeln. Das wird uns nicht gelingen ohne den Mut der politisch Verantwortlichen. Genauso brauchen wir aber auch den Mut und den Einsatz der Bürgerinnen und Bürger.

Ich komme zum Schluss, meine Damen und Herren,

eine selbstverständliche, natürliche Bürgergesinnung, die Amerika seit jeher so eindrucksvoll prägt, die haben wir Ostdeutschen in der Friedlichen Revolution für uns entdeckt. Und nun, als Bundespräsident, sehe ich voller Freude, wie stark das Gefühl, Verantwortung für die Gesellschaft zu tragen, inzwischen in der deutschen Bevölkerung verankert ist. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir uns auf unsere Stärken, auch die unserer transatlantischen Partnerschaft und unserer deutsch-amerikanischen Freundschaft besinnen. Dieses Zutrauen auf die eigenen Gestaltungskräfte, das ist für mich die Kernbotschaft der drei Worte We the People.