Zentrale Gedenkstunde zum Volkstrauertag

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 15. November 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 15. November bei der zentralen Gedenkstunde zum Volkstrauertag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. eine Rede gehalten: "Und so hoffen wir, dass die Würde und Unversehrtheit des Individuums unser Denken und Handeln prägen mögen und nicht der Kult des Terrors, nicht die Ideologie einer unfehlbaren Weltanschauung oder Religion oder einer siegreichen und heldenhaften Nation."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede und spricht das Totengedenken bei der zentralen Gedenkstunde zum Volkstrauertag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Berlin

Dieser Tag, der seit Jahrzehnten der Trauer gewidmet ist, ist in diesem Jahr auch ein Tag aktueller Trauer. Der Schmerz verbindet uns heute in ganz besonderer Weise mit unseren französischen Freunden. Wir sind in Gedanken und mit unseren Gefühlen bei den Opfern der menschenverachtenden Anschläge von Paris, wir sind bei den Angehörigen, wir sind bei den Polizisten und Helfern, und wir sind bei der ganzen französischen Nation. Im Angesicht der Verwüstung und des Todes, im Augenblick der Not und der Trauer fühlen wir mit unseren Nachbarn jenseits des Rheins.

Der Anschlag galt Frankreich, aber auch der offenen Gesellschaft, der Lebensweise der Freien und Gleichen in Europa und in der ganzen Welt. Jene, die solche Taten verüben oder gutheißen, sie müssen wissen: Die Gemeinschaft der Demokraten ist stärker als die Internationale des Hasses, wir beugen unser Haupt vor den Toten, niemals aber beugen wir uns dem Terror.

Wir leben in Zeiten, in denen wir Opfer einer neuen Art von Krieg beklagen. Es sind Opfer hinterhältig agierender Mordbanden. Es sind Terroristen, die im Namen eines islamistischen Fundamentalismus zum Kampf gegen die Demokratien, gegen universelle Werte und auch gegen Muslime aufrufen, die ihrer barbarischen Ideologie nicht folgen.

Seit Jahren wissen wir, dass die kriegerischen Konflikte, näher an uns heranrücken. Wir leben in Zeiten, in denen auch deutsche Soldaten an internationalen Einsätzen teilnehmen, in denen sie zu Opfern dieser Art der Kriegführung werden können.

Fast genau ein Jahr ist es her, da wurde in der Nähe von Potsdam der "Wald der Erinnerung" eingeweiht. Gewidmet jenen 105 Soldaten und der Soldatin, die bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ihr Leben verloren. Allein in Afghanistan starben 57 Soldaten und mehr als 300 wurden verletzt: bei Selbstmordattentaten, Raketenangriffen und Bombenanschlägen, durch Beschuss, durch Sprengfallen, auch durch Unfälle oder Krankheiten – ja, und auch durch Suizide.

Mein Mitgefühl gilt den Angehörigen, die heute an dieser Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ich weiß: Ein eigener, geschützter Erinnerungsort für Ihren Sohn, Ihre Tochter, Ihren Ehemann, Ihren Vater oder Ihren Bruder kann nur ein kleiner Trost für Sie sein. Aber ich hoffe doch: Er ist ein Trost, dieser Ort der Stille und der Trauer, der Erinnerung und der Mahnung. Ein Ort, wie ihn sich viele von Ihnen gewünscht hatten. Ich bin dankbar, dass ich bei der Einweihung vor genau einem Jahr dabei sein durfte.

Das Gedenken an jene, die von schwierigen Missionen im Auftrag unserer Republik nicht zurückkehrten gehört in die Mitte unserer Gesellschaft. Unser Gedenken gilt den Soldaten, aber genauso den Polizisten und den Entwicklungshelfern, die in Auslandseinsätzen starben.

Es hat eine geraume Zeit gedauert, bis in der Bundesrepublik ein solches Totengedenken möglich wurde. Es gab ja in Deutschland einst Zeiten, da starben die Soldaten in Kriegen, die Fürsten etwa zur Durchsetzung ihrer Interessen führten. Selten, so Anfang des 19. Jahrhunderts, starben junge Männer in Deutschland auch für die Befreiung ihres Vaterlandes. Dann, im Ersten Weltkrieg, starben Soldaten für den Kaiser – ihr Vaterland wurde regiert von Politikern, für die Krieg ein akzeptables Mittel der Politik war. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Millionen von Toten, auch von Zivilisten, und nach einem Völkermord an den Juden, auch an den Sinti und Roma, war für viele Deutsche ein ehrenvolles öffentliches Gedenken an Menschen, die während des Militärdienstes ihr Leben gelassen hatten, diskreditiert. Vor allzu vielen Kriegerdenkmälern hatte es in der Vergangenheit zu oft ein "Heldengedenken" gegeben, allzu oft hatten dort nicht Trauer und Friedensliebe, sondern Revanchegedanken und Revisionsgelüste die Veranstaltungen geprägt.

Gut 100 Jahre sind seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, siebzig Jahre seit Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Gedenkveranstaltungen und Publikationen haben uns in jüngster Zeit noch einmal mit der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" und ihren Folgen konfrontiert: mit der ungeheuren Zerstörungskraft industriell geführter Kriege. Mit der Blindheit, mit dem Hass und der Gewalt, die aus nationaler Hybris und ideologischer Verblendung erwuchsen. Mit Revanchegelüsten. Mit Massenmorden. Mit dem millionenfachen Tod von Kriegsgefangenen durch unmenschliche Behandlung, Hunger und Seuchen. Mit der massenhaften Vergewaltigung von Frauen. Mit der Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen aus ihrer Heimat und mit neuen Grenzziehungen.

Doch wir durften auch erleben, wie aus der Tragödie des europäischen Kontinents der Einigungswille europäischer Völker hervorgegangen ist. Wie in Abkehr von totalitären Ideologien der Wille zum Aufbau demokratischer Gesellschaften gesiegt hat. Und wie im Nachkriegsdeutschland zunächst der Westen, dann der Osten die Chance erhielt zu einem Neubeginn in Freiheit und Demokratie. Geschützt von einer Bundeswehr, die Akzeptanz finden konnte durch den Bruch mit einer belasteten militärischen Tradition. Vor vier Tagen hat die Bundeswehr mit einem Großen Zapfenstreich, hier vor dem Gebäude, an ihren Gründungstag am 12. November 1955 erinnert.

Nach ihrer Gründung sollte es noch zehn Jahre dauern, bis sich die Bundeswehr mit Hilfe des Erlasses "Bundeswehr und Tradition" explizit zur Traditionslinie der preußischen Reformer um Gerhard von Scharnhorst und – noch wichtiger – der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 bekannte. Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit fiel lange schwer, und er bildete doch die Voraussetzung dafür, dass die Bundeswehr sich gut entwickeln konnte – fern von jeder nationalistischen, imperialistischen und rassistischen Ideologie, fern auch von jeder Überhöhung des Kriegsgeschehens, fern von jeder Heroisierung des Soldatenopfers. Heute ist die Bundeswehr mit ihrem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, des mündigen, mitdenkenden und verantwortungsvollen Soldaten fest in der demokratischen Tradition verankert. So ist der Soldat Recht, Gesetz und in letzter Konsequenz seinem Gewissen verantwortlich.

Lassen Sie mich an dieser Stelle ganz bewusst dem Präsidenten des Deutschen Bundestages Dank sagen für seine Rede anlässlich des Festaktes zum 60-jährigen Bestehen der Bundeswehr. Er erinnerte daran, dass unsere Armee als Parlamentsarmee eng verbunden ist mit diesem hohen Haus, mit unserer Verfassung, unserer demokratischen Gesellschaft. Es ist gut zu wissen: Dieses Land hat eine Armee, die die Akzeptanz und Achtung der Friedliebenden und Verantwortungsbewussten verdient.

1922 wurde der Volkstrauertag auf Initiative des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge erstmals hier im Reichstagsgebäude begangen: zum Gedenken an zwei Millionen deutscher Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Das Naziregime usurpierte und pervertierte das Gedenken im Sinne seiner menschenverachtenden Ideologie. In der jungen Bundesrepublik fand 1950, fünf Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, die erste zentrale Veranstaltung des Volksbundes statt: zum Gedenken an Millionen von Kriegstoten, Zivilisten und Soldaten, die an der Front und in der Heimat umgekommen waren.

Es ist das große Verdienst des Volksbundes, sich in jahrelanger, mühseliger Arbeit dafür eingesetzt zu haben, dass möglichst jeder gefallene Soldat eine würdige letzte Ruhestätte erhält – zunächst auf den Soldatenfriedhöfen in Westeuropa, seit Anfang der 1990er Jahre auch auf Soldatenfriedhöfen in Mittel- und Osteuropa. Fast wie ein Wunder mutet es an, jedenfalls wenn man älter ist, dass derartige Sammelfriedhöfe selbst in Russland, in der Ukraine, in Weißrussland oder in Polen möglich wurden. Nach Jahrzehnten können nun die Angehörigen zu den Grabstätten ihrer Nächsten reisen, um Blumen niederzulegen und die Toten dem Vergessen zu entreißen. Mit vielen Menschen in Deutschland bin ich dankbar für diese Entwicklung. Und ich will an dieser Stelle hinzufügen: Ich will auch all den Helfern und Aktiven im Volksbund danken, die unverdrossen, manchmal entgegen dem Zeitgeist, an dieser wichtigen Arbeit beteiligt geblieben sind. Danke Ihnen allen.

Seit siebzig Jahren leben viele Millionen Europäer im Frieden. Siebzig Jahre, in denen Söhne und Töchter der Gefallenen Abstand gewinnen und die Enkel und Urenkel ohne Krieg leben konnten. Und bei der wachsenden Zahl von Schülern aus Einwandererfamilien gibt es nur selten einen familiären Bezug zum Zweiten Weltkrieg. Der Blick hat sich im Laufe der Jahre geweitet: Neben die Trauer, neben die Erinnerung an die Gefallenen ist die Erinnerung an die historischen Umstände getreten. Doch dieser Prozess verläuft nicht immer konfliktfrei.

Tote soll man ruhen lassen. Solange seine Mutter lebte, hatte der Schriftsteller Uwe Timm diesen Satz respektiert. Erst nach ihrem Tod fühlte er sich frei, jene tabuisierte Geschichte des sechzehn Jahre älteren Bruders zu erforschen, die hinter der ritualisierten Familienerzählung lag. Vom tapferen Jungen war in solchen Erzählungen die Rede gewesen, der anständig, mutig und ehrlich war und dessen Idealismus vom Kriege missbraucht worden sei.

Wahrscheinlich stimmte auch vieles davon. Und eben doch nicht alles. Uwe Timms Bruder hatte sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und an der Ostfront gekämpft. Selbst wenn er nicht an Mordtaten beteiligt gewesen sein sollte, so musste er doch – so schreibt sein jüngerer Bruder wörtlich – "mit den Opfern der Zivilbevölkerung konfrontiert worden sein, den Hungernden, Obdachlosen, den durch Kampfhandlungen Vertriebenen, Erfrorenen, Getöteten". Der Soldatenbruder muss gewusst, aber geschwiegen haben. Auch die Eltern müssen gewusst, aber geschwiegen haben. Vom Leid der Anderen war in der Familie nicht die Rede, immer nur vom ungerechten Schicksal, das den Eltern den Jungen und das Heim genommen und sie zu Opfern gemacht hatte – zu Opfern "eines unerklärlichen, kollektiven Schicksals".

Vielen Nachkriegskindern dürfte Uwe Timms autobiographische Recherche sehr bekannt vorkommen. Lange wollten Deutsche nur sich selbst als Opfer sehen und sich der Schuld an einem verbrecherischen Krieg nicht stellen. Inzwischen ist diese verhärtete Position des Selbstmitleids lange überwunden. Sie ist Geschichte.

Heute ist sich Deutschland seiner Verantwortung bewusst, ganz besonders für den Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Regimes. Das Totengedenken, das ich anschließend hier sprechen werde, schließt alle Opfer von Krieg und Gewalt ein, auch solche, deren Schicksal im Erinnerungsschatten unser Gedenkkultur lag. Heute können wir der deutschen Opfer gedenken, weil wir auch der Opfer der Deutschen gedenken. Und weil wir den historischen Kontext nicht ausblenden, haben wir Verständnis auch für die Trauer der deutschen Angehörigen. Aber uns bleibt auch immer schmerzlich bewusst, dass unter den gefallenen Deutschen, die einst von ihren Lieben beweint und betrauert wurden, nicht wenige waren, die erst selber töteten, bevor sie getötet wurden.

Gerade in dieser Zeit, in der wir kurz nacheinander Jahrestage des Ersten und des Zweiten Weltkrieges begangen haben, wollen wir an den Preis des Krieges erinnern. Krieg zerstört umfassend. Er zerstört nicht nur die Wege, die Städte, die Häfen. Krieg zerstört den Menschen. Er verwandelt Lebendige in Tote und hinterlässt in unzähligen Überlebenden tote Seelen. Wer Gewalt ausübt oder ihr ausgesetzt ist, wandelt sich in seinem Wesen. Er wird ein Anderer.

Eindringlich hat dies Willy Peter Reese bezeugt, der im Zweiten Weltkrieg mit zwanzig Jahren an die Ostfront kam. "Ich wurde" – schreibt er – "mir selber seltsam fremd". Schonungslos hält er fest, wie er selber hart und bitter wird, wie ihm das Mitgefühl abhanden kommt, wie er Trost im Alkohol sucht. "Wir waren die Sieger, der Krieg entschuldigte den Raub, forderte die Grausamkeit, und der Selbsterhaltungstrieb befragte das Gewissen nicht [...]. Ich verkaufte mein Menschentum und Gott für ein Stück Brot."

Reese fiel im Juni 1944. In seinem erst 2003 veröffentlichten Tagebuch begegnen wir einem Autor, der schwankt zwischen Euphorie und Verzweiflung, zwischen Zynismus und Depression. Und dank der Kraft seines Textes schaudern wir, wenn wir lesen, was andere durchlebten und durchlitten.

Geschichte wiederholt sich nicht. Wohl aber wiederholen sich menschliche Verhaltensweisen – im Guten wie im Bösen. Selbst Nachgeborene sind berührt von den Dokumenten des individuellen Leids, der individuellen Schuld, auch der individuellen Tragik. Im Verhalten von einst erkennen und fühlen sie das Menschenmögliche von heute – gleichgültig, welcher Ethnie, Nation oder Religion sie angehören. Das belegen auch die vielen Begegnungen, die der Volksbund mit Schülern und Jugendlichen aus deutschen, französischen, polnischen, aus türkischen oder algerischen Familien organisiert. Hier, wir haben es erlebt, treten junge Menschen in eine Verantwortungsgemeinschaft ein, die nicht aus einer Erfahrungsgemeinschaft herrührt. Aber sie finden sich zusammen in einem gemeinsamen Wollen.

Dies, meine Damen und Herren, ist unser aller Hoffnung: dass die Erinnerung an das Leid des Krieges nicht Rache gebiert, sondern immer mehr Menschen und Nationen den Ausweg in einem friedlichen Zusammenleben der Völker suchen lässt. So wie es gelang, die europäische Einigung zum großen Friedensprojekt unseres Kontinents zu machen. Und so hoffen wir, dass die Würde und Unversehrtheit des Individuums unser Denken und Handeln prägen mögen und nicht der Kult des Terrors, nicht die Ideologie einer unfehlbaren Weltanschauung oder Religion oder einer siegreichen und heldenhaften Nation. Dass Soldatenfriedhöfe, so wie Albert Schweitzer einst sagte, endlich die großen Prediger des Friedens sein mögen. Dann wird, das haben wir erlebt, Versöhnung über den Gräbern möglich. Dann kann Frieden beständig sein. Dafür tragen wir gemeinsam Verantwortung.