Eröffnung des Bellevue Forums "Flüchtlinge – eine Herausforderung für Europa"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 26. Februar 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat das Bellevue Forum "Flüchtlinge – eine Herausforderung für Europa" am 26. Februar in Schloss Bellevue mit einer Rede eröffnet: "Ein Europa, das seine Ressourcen nicht bündelt, wird Flüchtlinge weder auf dem europäischen Kontinent noch dicht bei ihrer Heimat so unterstützen können, wie es nötig, ja eigentlich auch möglich wäre."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede zur Eröffnung des Bellevue Forums 'Flüchtlinge – eine Herausforderung für Europa' im Großen Saal in Schloss Bellevue

Viel Europa ist hier in diesem Raum. Bellevue Forum nennen wir diese Zusammenkünfte, und wenn sie unter einem europäischen Stern stehen, stelle ich mir das so vor wie eine europäische Agora, von der ich früh gesprochen habe, die ich mir wünsche und die es zum großen Teil nicht ausreichend gibt. Nehmen Sie unsere Begegnung als ein kleines Element einer solchen europäischen Agora. Sie sind mir deshalb besonders willkommen, meine Damen und Herren, und besonders Sie, die Sie heute mitwirken – weil dieses Europa gerade unter Wolken verschattet ist.

Vor Ihnen steht nicht nur ein wissbegieriger und diskussionsfreudiger Präsident, sondern ein beunruhigter Gastgeber. Wenn ich zurückdenke, seit wann ich ein aktiver Europäer bin, dann müsste ich das Jahr 1990 nennen, das Jahr der Wiedervereinigung Deutschlands. Ich kann mich an keinen Zeitpunkt in diesen vergangenen 26 Jahren erinnern, an dem ein intensiver europäischer Dialog notwendiger gewesen wäre als heute.

Natürlich, wir haben auch früher schon in der Europäischen Union Krisen erlebt, denken wir nur an den gescheiterten Verfassungsvertrag oder die Staatsschulden- und Finanzkrise oder den drohenden Austritt einzelner Mitglieder aus der Union. Dennoch haben viele Menschen das Gefühl, dass die Europäische Union derzeit auf eine neue, und zwar besonders grundsätzliche Art auf die Probe gestellt wird. Denn die Krisen im Innern wie an der Peripherie der Union folgen immer schneller aufeinander, und sie überlagern sich. Gleichzeitig werden umfassende Antworten auf die aktuelle Krise nötig, auf die Flüchtlingskrise.

Die Menschen suchen in Europa Schutz vor Krieg und Verfolgung, oder sie kommen zu uns, weil sie sich ein besseres Leben versprechen. Mehr als 856.000 Männer, Frauen und Kinder sind im vergangenen Jahr über das Mittelmeer nach Griechenland gelangt – zahlreiche haben bei dem Versuch, dorthin zu kommen, ihr Leben verloren. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, wie viele 2016 um Aufnahme bitten werden. Diese Entwicklung beunruhigt, sie polarisiert ganze Gesellschaften. Es besteht weder ein Konsens in Deutschland, wie sich unser Land verhalten soll, noch zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Über Jahrzehnte haben wir die Union als große Erfolgsgeschichte erlebt: Europa – ein Ort des Friedens, der Freiheit, des Rechts, ein Versprechen auf Wohlstand, ein Kontinent ohne Passkontrollen vom Westen bis weit hinein in den Osten. Für viele Migranten auch deshalb bis heute: ein Ziel ihrer Hoffnungen.

Und nun? Schauen wir uns um: Deutschland fand bis jetzt kaum Verbündete für eine gemeinsame europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage, manche Regierungen wollen Lösungen nicht mittragen, denen sie nicht explizit zugestimmt haben. Europaweit gibt die Flüchtlingskrise zudem fremdenfeindlichen und illiberalen Parteien und Bewegungen zusätzlichen Auftrieb. Nationale Alleingänge nehmen zu, auch regionale Absprachen. Grundlegende Errungenschaften wie die Abschaffung von Grenzkontrollen im Schengenraum werden in Frage gestellt. Stärker noch als frühere Spannungen droht also die Flüchtlingskrise das Grundgefüge Europas zu destabilisieren – das ist nun wahrlich eine verstörende Entwicklung.

Deshalb habe ich zu diesem Bellevue Forum eingeladen: Flüchtlinge – eine Herausforderung für Europa. Hier im Saal sitzen Menschen aus verschiedenen europäischen Staaten, Menschen mit unterschiedlichen Prägungen und Perspektiven. Und ich begrüße Sie alle sehr herzlich, unsere Referenten aus insgesamt neun Ländern, aus allen Himmelsrichtungen unseres Kontinents! Ich wünsche mir, dass wir in einem offenen Gespräch erörtern, wie der andere, der Nachbar, der europäische Partner, wie der Freund denkt. Dass wir nachvollziehen, warum wir in Europa bei einer Frage von so großer Tragweite so unterschiedlich denken.

Auf das Warum kommt es mir an. In den Zeitungen lesen wir derzeit ja vor allem, wohin die Meinungsverschiedenheiten geführt haben: Deutschland sei enttäuscht von unzureichender oder fehlender Solidarität, andere Staaten verärgert über das, was sie als deutsche Politik des moralischen Imperativs empfinden. Was wir allerdings viel seltener lesen, sind Ideen und denkbare Kompromisse. Eines ist mir angesichts der Entwicklung der vergangenen Monate deutlich geworden. Die Flüchtlingskrise verlangt neue Diskussionen und neues Nachdenken, ein Nachdenken vor allem, das nicht allein im jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen stattfinden sollte. Wenn Unverständnis oder Partikularinteressen diese Krise nicht verlängern und vertiefen sollen, dann müssen wir Europäer mehr voneinander wissen, mehr miteinander diskutieren und intensiver als bisher um einen neuen Konsens ringen.

Lassen Sie uns genau in diesem Geiste heute miteinander diskutieren: Zwei Impulsvorträge und zwei Podiumsgespräche erwarten uns – Gelegenheiten, um voneinander zu lernen und einander besser zu verstehen. Fast jeder Mitgliedsstaat hat zwar Schlagzeilen und Bilder, die es in die Zeitungen und Fernsehsender der Nachbarländer schaffen. Aber wir führen nur selten einen echten europäischen Diskurs. Wir fragen auch seltener nach den tieferliegenden Motiven, wissen kaum von den schwerwiegenden innenpolitischen Problemen und von den nationalen Prägungen und Haltungen unserer Nachbarn.

Warum zum Beispiel sind die Länder Mittel- und Osteuropas, die die europäische Idee nach 1989 so eindrucksvoll mit Leben erfüllt haben, jetzt so reserviert gegenüber Brüssel? Warum fällt es der deutschen Regierung derzeit so schwer, für ihre Position Unterstützer zu finden? Und warum gelingt eigentlich der Schutz der Außengrenzen nur so mangelhaft? Warum riskieren wir die Freizügigkeit des Schengenraums? Wenn es keine umfassende politische und mentale Basis in der Flüchtlingsfrage gibt: Ja, welche Lösungen können dann entwickelt werden?

Das sind Fragen, über die wir heute hoffentlich ins Gespräch kommen. Wir sollten dabei nicht zögern, auch unsere Dilemmata zu benennen. Denn wir wissen längst, dass in dem Bemühen, möglichst vielen zu helfen, es auch geboten sein kann, eben nicht allen zu helfen. Wie viele Flüchtlinge und Einwanderer ein Land für verkraftbar hält und was das für unser Miteinander in der Union bedeutet – das wird auch auf unserem Podium sicher kontrovers debattiert werden. Es geht um das richtige Maß, um das jedes Land natürlich für sich ringen muss.

Zugleich aber gibt es auch gemeinsame Prinzipien. Und dies sollte auch in den nationalen Diskursen nicht völlig vergessen oder ausgeblendet werden. Mit der Genfer Flüchtlingskonvention haben sich alle europäischen Staaten zum Schutz von Flüchtlingen verpflichtet. Personen, Bewegungen, Parteien und Regierungen, die Flüchtlinge instrumentalisieren, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren, – egal, in welchem europäischen Land – entsprechen nicht den humanistischen und rechtlichen Grundlagen unserer europäischen Gemeinschaft.

Wir haben durchaus unterschiedliche historische Erfahrungen in Europa – im Umgang mit Minderheiten, im Umgang mit dem Fremden. Westeuropa und auch Westdeutschland konnten über Jahrzehnte einen kulturellen Wandel in Richtung Vielfalt vollziehen. Ostdeutschland und Osteuropa waren solche Erfahrungen, solche Lebenswelten verwehrt. Ja, das ist zum Beispiel einer der Unterschiede, die eine unterschiedliche Aufnahmebereitschaft erklärbar machen könnten.

Das bedeutet für Regierungen nun allerdings nicht, dass sie Ängsten und Stimmungsmachern einfach nur folgen dürften. Und für die Bevölkerungen, die gegen eine vermeintliche Überfremdung protestieren, bedeutet es vor allem eins – und das möchte ich nach den jüngsten Zwischenfällen einigen Landsleuten hier mit großem Nachdruck ins Stammbuch schreiben: Richtet Eure Unzufriedenheit und Eure Wut nicht gegen jene, die viel schwächer und viel verletzlicher sind, als Ihr es seid! Isoliert die Hetzer, die Brandstifter, die Gewalttäter! Wenn Ihr protestieren wollt, dann achtet die Regeln!

Werdet meinetwegen laut gegenüber Euren Bürgermeistern, Abgeordneten oder Ministern, aber hört dann auch zu, was sie Euch zu sagen haben. Und vor allem: Wer davon lebt, dass Gesetze ihn schützen und dass Solidarität ihn trägt, wenn es ihm schlecht geht, der darf das Recht nicht brechen und die Solidarität mit Anderen nicht aufkündigen.

Es geht längst nicht mehr allein um die Lösung der Flüchtlingskrise. Wir begreifen, dass unter den Kontroversen und Debatten eine tieferliegende Furcht liegt und Ängste, kaum definiert, die damit zusammenhängen, dass es in vielen Bevölkerungen eine Angst vor Entgrenzung gibt, eine Angst vor dem Erlernen einer neuen Rolle. Es geht nicht nur allein um die Flüchtlingskrise und darum, sie zu lösen. Vielmehr sind die vielfältigen Spannungen, die jetzt aufbrechen innerhalb der Europäischen Union, stärker als je zuvor, und darauf müssen wir reagieren. In den Disput über Verteilungsquoten, Aufnahmebereitschaft, Sicherung der Außengrenzen mischt sich der Disput über die Rolle der Nationalstaaten und über ihr Verhältnis zur Europäischen Union, und damit geht es auch um das Verhältnis der Mitgliedsstaaten untereinander. Der ehrliche Wille zur Gemeinsamkeit ist derzeit schlicht und einfach schwach. Und im Ergebnis ist die Europäische Union schwach.

Aber wollen wir tatsächlich hinnehmen, dass die Flüchtlingskrise die Europäische Union auseinander treibt? Wollen wir etwa, statt uns mit vereinten Kräften den Herausforderungen der globalisierten Welt zu stellen, in die Nischenexistenz einzelner Nationalstaaten zurückfallen, wollen wir das? Sollen wir uns aus der Verantwortung für das stehlen, was uns doch nur gemeinsam gelingen kann? Ein Europa, das seine Ressourcen nicht bündelt, wird Flüchtlinge weder auf dem europäischen Kontinent noch dicht bei ihrer Heimat so unterstützen können, wie es nötig, ja eigentlich auch möglich wäre. Und ein Europa, das sein politisches Gewicht nicht vereint, wird auch keinen wirksamen Beitrag leisten können zur Eindämmung von Fluchtursachen und zur Bekämpfung von Fluchtverursachern.

Und lassen Sie mich zum Schluss noch eine Beobachtung hinzufügen: In diesen Tagen sind wir in Deutschland beunruhigt angesichts der Tatsache, dass einige Länder zum Schutz ihrer Interessen eine regionale Be- beziehungsweise Abgrenzungsstrategie beschlossen haben. Das kann man kritisieren, auch ablehnen. Aber es ist auch nicht undenkbar, dass sich europäische und regionale Lösungen ergänzen können.

Mag sein, dass dabei eine Kompromisslösung entsteht, die uns und manch anderen Europäern unbefriedigend erscheint, aber wir würden doch wenigstens beieinander bleiben.

Ich wünsche mir also von ganzem Herzen, dass wir heute hier ehrlich und konstruktiv ausloten, wie wir den gegenwärtigen Herausforderungen gemeinsam gerecht werden können. Denn es kann, nein es darf doch nicht sein, dass die Europäische Union sich selbst demontiert und das Einigungswerk von Jahrzehnten an der Flüchtlingsfrage zerbricht.