Soiree "Blicke auf Deutschland" zur Würdigung des deutschen Films

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 8. April 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 8. April bei der Soiree "Blicke auf Deutschland" zur Würdigung des deutschen Films in Schloss Bellevue eine Rede gehalten: "Film ist in seinen besten Momenten immer auch buchstäblich 'Zeit-Lupe'. Er geht ganz nah an die gegenwärtige Wirklichkeit heran oder an eine Vergangenheit, die oftmals, gerade in unserem Lande, nicht vergehen darf – ja, er vergrößert sie, bis wir einfach nicht mehr ausweichen können."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache bei der Soiree 'Blicke auf Deutschland' zur Würdigung des deutschen Films im Großen Saal von Schloss Bellevue

Das schöne deutsche Wort abendfüllend wird eigentlich nur in Verbindung mit Filmen benutzt, die eine normale Spielfilmlänge haben. Das ist auch gut so. Reden, zum Beispiel, sollten lieber kürzer sein.

Die Rede hier müsste zwar abendfüllend sein, wenn ich es wagen würde, eine umfassende Würdigung des deutschen Films vorzunehmen. Aber das kann und will ich nicht versuchen.

Ich will mich auf einen rhetorischen – nennen wir es mal – Kurzfilm beschränken, denn es soll ja vor allem ein Abend sein, mit Film, Diskussion und Gesang und mit Begegnung und Gespräch hinterher. Dafür sind Sie alle gekommen und dazu begrüße ich Sie alle von Herzen.

Mach dir ein paar schöne Stunden, geh ins Kino. Das war, wie viele Ältere noch wissen, einmal ein Werbespruch der westdeutschen Filmtheater. Mach dir ein paar schöne Stunden – das trifft ziemlich gut, was das Kino am Anfang versprochen hat: gute – das heißt manchmal auch gut gemachte – Unterhaltung, eine Staunen erweckende Entführung in eine Welt jenseits des Alltags, eine Reise in Traum und Phantasie, die Eröffnung neuer Räume, ja ganzer Welten.

So war das schon vor rund 120 Jahren als die Brüder Skladanowsky im legendären Berliner Wintergarten Varieté die Bilder haben laufen lassen, damals vor allem Artistik, abgefilmter Rummelplatz sozusagen, aber für die Zuschauer war es faszinierend, das hatten sie noch nie gesehen. Da eröffnete sich ihnen etwas Neues, es fing ein neues Kapitel der Kultur an, der populären Kultur und später auch der Hochkultur. So ist das bis heute geblieben, wenn uns Filme zu einer Reise verführen bis ans Ende der Welt oder gar darüber hinaus, beim Patrouillendienst am Rande der Unendlichkeit, nach dem Motto: Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein.

Im deutschen Film ist man ja überhaupt gerne unterwegs, am liebsten im Auto:

Zum Beispiel über den Asphalt Berlins, Hotte Buchholz und andere Halbstarke damals.

Oder mit Willi Busch im Kabinenroller die deutsch-deutsche Grenze entlang.

Oder später Wolfgang Stumph im Trabbi in die neue Freiheit.

Oder mit Bibiana Beglau und Nadja Uhl in der Stille nach dem Schuss in ein neues Leben.

Mit Theo über die Autobahnen und Landstraßen des Ruhrgebiets und ganz Westeuropas – und allzu oft geht es dabei gegen den Rest der Welt – und nicht nur Elyas M’Barek fragt sich unterwegs immer wieder: Who am I?

Wir werden gleich in einem rasanten Zusammenschnitt an diese und viele andere deutsche Filmfahrten erinnert werden.

Aber sehr schnell ist der Film, auch schon in den genannten Beispielen, viel mehr geworden als nur unterhaltsamer Eskapismus. Er ist eine Auseinandersetzung mit der historischen und politischen, mit der sozialen und kulturellen Lebenswelt der Zuschauer. Film ist in seinen besten Momenten immer auch buchstäblich Zeit-Lupe. Er geht ganz nah an die gegenwärtige Wirklichkeit heran oder an eine Vergangenheit, die oftmals, gerade in unserem Lande, nicht vergehen darf – ja, er vergrößert sie, bis wir einfach nicht mehr ausweichen können. Auch in diesem Sinne ist Film bigger than life.

Ich freue mich deswegen, dass es heute – zum ersten Mal im Schloss Bellevue – einen Abend zu Ehren des deutschen Films und aller seiner Macher gibt. Ein bisschen an das Thema herangegangen sind wir vor drei Jahren, als wir hier einen denkwürdigen Abend hatten zu Ehren von Edgar Reitz und seiner Arbeit Heimat. Und deshalb sind einige von Ihnen hier schon einmal gewesen, als es um Film und Filmkunst ging.

Vor kurzem ist die erste Heimat sehr teuer und aufwendig restauriert und neu veröffentlicht worden. Und es ist jetzt möglich, den Film in nie gekannter Brillanz zu sehen. Das bringt mich dazu, doch all denen einmal zu danken, die sich mit erheblichen finanziellen Mitteln und großer Professionalität der Konservierung und Restaurierung vieler unserer bedrohten Filmschätze widmen. Diese Aufgabe ist wichtig, weil sie ein ganz bedeutendes künstlerisches Erbe zu retten vermag. Ich spüre ein wenig, dass wir das noch nicht genug in unserem öffentlichen Bewusstsein haben. Dabei ist der Film doch nicht weniger wichtig als es die Gemälde sind, die wir ja auch mit viel Aufwand restaurieren.

Sie spüren schon, dass es mir ein wirkliches Anliegen ist, Sie alle hier zu Gast zu haben und zu würdigen. Lassen Sie mich deshalb die Überlegungen zu dem, was Filmkunst vermag, ein bisschen fortsetzen.

In Deutschland ist das ja ein schwieriger Begriff – Filmkunst. So richtig als Kunst wird der Film ja von manchen immer noch nicht begriffen, zumindest nicht so, wie man sich klassische Gemälde, Sinfonien oder Romane als Kunst vorstellt.

Volker Schlöndorff hat öfter darauf hingewiesen, wie wichtig es wäre, genau wie bei der Literatur, zu lernen, die Qualität zu erkennen: Wie werden gute Geschichten ins Bild gesetzt? Wie funktionieren eigentlich Dialoge? Warum eröffnet uns dieser Schnitt einen unerhörten Blick, warum bedient jener Schwenk dagegen nur bekannte Klischees? Wo und wie unterstützt welche Musik die filmische Aussage?

Gerade heute, wo durch DVD oder Download ein Film unendlich viel leichter zugänglich ist als noch vor zehn Jahren, wünscht man sich mehr moderne Filmpädagogik. Sie könnte helfen, Qualität zu erkennen, auch dort wo Grenzen zu anderen Medien- und Kunstformen überschritten werden.

Oberflächliche von reflektierter Darstellung zu unterscheiden oder angemessenes Pathos von Effekthascherei – das ist nicht nur ein wichtiger Bestandteil der sogenannten Medienkompetenz, das gehört bei genauerer Betrachtung auch schon zur politischen Bildung. Denn wer zu sehen gelernt hat, welche Gesten stimmig sind, welche Erzählweisen überzeugend – und warum –, der hat nicht nur filmästhetisch, der hat auch politisch Wesentliches begriffen.

Apropos Film und Politik: Das ist ja ein ganz eigenes Kapitel, und wir könnten ein ganzes Semester lang darüber arbeiten. Aber einen kurzen Gedanken will ich doch darauf verwenden. Das ist in der Geschichte, auch in der deutschen, nicht selten eine heikle Beziehung gewesen. Film hat ja die Macht, argumentlos zu überzeugen, er kann Gefühle manipulieren, kann Stimmungen erzeugen oder massiv verstärken. Und er hat andererseits die kritische oder sogar subversive Kraft, Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse zu entlarven, Lüge und Verblendung aufzudecken, manchmal in einer einzigen Szene.

So ist der Film, wir wissen es, gleich zweimal in der deutschen Geschichte Instrument staatlicher Propaganda geworden, mit teilweise immensem Aufwand – mit einem absurden Höhepunkt in Kolberg. Auf der anderen Seite war er oft genug Opfer von Zensur, Opfer von Verboten. Wenn wir gleich in der filmischen Collage kurz die Die Spur der Steine sehen, erinnern wir uns an in unserem Land hoffentlich für immer vergangene Zustände. Wir denken natürlich auch daran, in wie vielen Teilen der Welt Film – und Kunst überhaupt – noch immer oder schon wieder instrumentalisiert, zensiert oder verboten wird. Und dass wir uns, wo und wie wir können, für eine Veränderung solcher Zustände einsetzen müssen.

Um ein Buch zu schreiben, kommt man auch ohne Computer aus, notfalls reichen Papier und Stift. Aber um aber einen Film zu machen, braucht man so unendlich viel mehr. Erst einmal natürlich viel Geld – und woher das in Deutschland kommt und woher es kommen sollte, darüber wird ja traditionell kräftig gestritten, auch das ist gut so. Man fragt sich immer, wie es besser gehen könnte. Diese Debatten sollen weiter gehen. Sie sind nötig, nur habe ich das Glück, dass ich mich aus solchen Debatten heraushalten kann und muss.

Aber zurück zum Film. Was braucht es alles – außer dem Geld –um dann ein Kunstwerk entstehen zu lassen? Vor allem eine unglaubliche Menge von Mitwirkenden. Neben den Schauspielern und Regisseuren gehören dazu Drehbuch- und Dialogautoren, Kameraleute, Caster, Cutter, Bild- und Kostümausstatter, die Beleuchter, die Toningenieure, die Produzenten, die Redakteure, Locationscouts. Ich weiß, ich müsste eigentlich noch viele andere nennen. Ich will auch die nicht vergessen, die dafür sorgen, dass die fertigen Filme dann ihr Publikum finden, die Veranstalter von Festivals, die engagierten Kinobetreiber, die leidenschaftlichen Filmjournalisten.

Der Film ist also jedes Mal nicht nur das Wunder, das aus dem kreativen Gedankenblitz eines einsamen Genies entsteht, sondern er ist vor allem ein Gemeinschaftswerk von vielen Individualisten und Spezialisten, die dann aber oft nur für Sekunden einmal im Abspann auftauchen. Ich freue mich deswegen, dass wir heute Abend eine bunte Mischung von Könnern eingeladen haben. Sie, liebe Gäste, Sie sind – ganz unabhängig davon, wie viele Menschen Sie auf der Straße erkennen – für mich heute alle Filmstars.

Wir Zuschauerinnen und Zuschauer sind Ihnen allen sehr dankbar, wenn Sie uns alle gemeinsam verzaubern und nachdenklich machen, in andere Welten entführen oder uns mit der Welt konfrontieren, die ist, wie sie ist, wie wir sie aber oft nicht von selber sehen können und manchmal nicht sehen wollen. Wir brauchen beides. Und Sie, die ich Sie hier heute eingeladen habe und würdige, Sie brauchen Mut und Abenteuerlust, denn wir erwarten bitte wenigstens von Zeit zu Zeit das Außergewöhnliche, das nicht nur den Abend füllt, sondern das uns dann auch nachzugehen vermag, uns erschüttert, uns aufbaut, uns verändert.

In der DEFA-Produktion Solo Sunny von Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase, die in den 1980er Jahren ein gesamtdeutscher Erfolg war, gibt es einen ganz kurzen Dialog, den wohl nicht nur Andreas Dresen für einen der besten im deutschen Film hält:

Sunny will morgens einen nächtlichen Liebhaber rasch wieder loswerden und sagt beim Öffnen der Fenstervorhänge wie nebenbei:

Is’ ohne Frühstück!

Als der Mann anfängt, etwas einzuwenden, sagt sie knapp:

Is’ auch ohne Diskussion!

Bei uns gilt heute Abend: Is‘ mit Essen und mit Trinken – und is‘ auch mit Diskussion

Noch einmal also: Herzlich willkommen!