Staatsakt zum Tod von Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 17. April 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 17. April beim Staatsakt für Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher eine Rede gehalten: "Wir alle, das spüren wir in diesem Moment, können uns eigentlich ein Deutschland ohne Hans-Dietrich Genscher nur schwer vorstellen. Wir nicht, die wir Zeitgenossen seines politischen Wirkens waren, aber auch die Jüngeren kaum, die ihn erst nach seinem aktiven Dienst erlebt haben, als engagierten politischen Beobachter und Ratgeber."

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Ansprache im Plenargebäude des World Conference Center Bonn anlässlich des Staatsakts für Bundesminister a.D. Hans-Dietrich Genscher in Bonn

Wir sind hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Hans-Dietrich Genscher, einem Mann, der sich um unser Volk und um unseren Staat, die Bundesrepublik Deutschland, in herausragender Weise verdient gemacht hat.

Wir alle, das spüren wir in diesem Moment, können uns ein Deutschland ohne Hans-Dietrich Genscher nur schwer vorstellen. Wir nicht, die wir Zeitgenossen seines politischen Wirkens waren, aber auch die Jüngeren kaum, die ihn erst nach seinem aktiven Dienst erlebt haben, als engagierten politischen Beobachter und Ratgeber, der sich – vor allem, wenn es um seine Herzensangelegenheit Europa ging – bis zuletzt in die Debatten der Gegenwart eingemischt hat.

Hans-Dietrich Genscher: Das ist die Geschichte einer außergewöhnlichen politischen Begabung. Nicht alle politischen Begabungen haben auch die Disziplin, die Tatkraft und die Demut, all das, was in ihnen angelegt ist, auch zu verwirklichen. Und nicht alle bewähren sich, wenn die historischen Umstände es von ihnen fordern. Hans-Dietrich Genscher hat seine Gaben genutzt, und er hat sich bewährt, wenn es auf ihn ankam.

Hans-Dietrich Genscher teilt mit seinen Zeitgenossen prägende Erfahrungen: Hineingeboren in die Spätphase der Weimarer Republik, im Jahr der Machtübernahme Hitlers eingeschult, erlebt er als Jugendlicher die Hitlerjugend, den Arbeitsdienst und die Verwendung als Flakhelfer. Und ganz zum Schluss wird er sogar noch Soldat im allerletzten Aufgebot der Wehrmacht.

Damals hat Hans-Dietrich Genscher nichts so fürchten und hassen gelernt wie den Krieg. Das wird ein, vielleicht das Leitmotiv seines Lebens. Und er lernt in seiner mitteldeutschen Heimat danach sehr schnell, dass die Politik der entstehenden DDR keine Alternative zur gerade erlebten Diktatur ist, sondern dass er sich in einer neuen Diktatur befindet. Er flieht in den Westen, in die Freiheit – und er wird ein Leben lang nicht mehr aufhören, für die Freiheit zu wirken. Er entscheidet sich ziemlich bald für den Liberalismus, der sich der Freiheit des Einzelnen und der Verantwortung des mündigen Bürgers verpflichtet fühlt. Aus dieser Gesinnung heraus wird er Berufspolitiker – das war ein Glück für unser Land.

Fast ein Vierteljahrhundert lang wird er als Minister der Bundesregierung angehören. Als Innenminister erlebt er während der Olympischen Spiele 1972 in München die brutale palästinensische Geiselnahme der israelischen Mannschaft, die, auch durch ungenügende Vorbereitung der Sicherheitskräfte, so blutig endete. Hans-Dietrich Genscher, der sich selber als Geisel angeboten hatte, hat das als die für ihn als Politiker schwärzeste Stunde bezeichnet. Er ergreift dann, wie es für ihn typisch ist, sofort praktische Konsequenzen: Er lässt eine Anti-Terror-Einheit aufstellen, die GSG 9, die dann 1977 in Mogadischu ihre Bewährungsprobe so hervorragend besteht.

An diesem Beispiel zeigt sich, was den Minister Genscher auszeichnet: eine rasche Einsicht in das Notwendige, die ihn schnell und angemessen auf Herausforderungen reagieren lässt, und ein unaufgeregter Pragmatismus, eine entschiedene Ergebnisorientierung – und eine unbeirrbare Prinzipienfestigkeit. Kein rechtsstaatlicher Grundsatz sollte unter seiner Verantwortung beim Kampf gegen den internationalen oder den nationalen Terrorismus verletzt werden.

Diese Verbindung aus Prinzipientreue und Pragmatismus, langfristiger Strategie und dem Erkennen des kurzfristig Gebotenen: Das kennzeichnet auch sein Wirken als Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.

Achtzehn Jahre lang hat er dieses Amt bekleidet – und als er schließlich aus freien Stücken sein Amt zur Verfügung stellt, kann er auf eine außergewöhnlich bewegte und erfolgreiche Zeit zurückblicken:

Er hatte als überzeugter und leidenschaftlicher Entspannungspolitiker die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mitgestaltet, deren große Bedeutung er weit eher erkannte als viele andere, und deren Prinzipien und Ergebnisse, etwa der Interessenausgleich zwischen Ost und West, unseren Kontinent in Richtung Zusammenarbeit und Frieden geführt haben.

Er hatte zu anderer Zeit seine Partei einer Zerreißprobe und sich selber auch durchaus einer Welle von Antipathie ausgesetzt, als er als FDP-Vorsitzender einen aus seiner Sicht staatspolitisch notwendigen und letzten Endes erfolgreichen Koalitionswechsel vollzog, um damit vor allem den Nato-Doppelbeschluss durchzusetzen, die Sowjetunion durch unbeirrbare Konsequenz zu Verhandlungen zu zwingen und letztlich die Abrüstung der meisten atomaren Mittelstreckenraketen in Europa zu ermöglichen.

Er hatte alle wichtigen Politiker der Welt persönlich kennengelernt und das Vertrauen, das fast alle in seine Person hatten, gleichzeitig als Vertrauen in die Bundesrepublik erworben.

Er ist in den dramatischen Wochen der Demokratiebewegung in der DDR und in Ostmitteleuropa ein verlässlicher politischer Partner für die Präsidenten Bush und Gorbatschow, für die Außenminister Schewardnadse und Baker, für die westlichen Alliierten in Frankreich und in Großbritannien wie für die östlichen Gesprächspartner in Berlin, in Budapest, in Warschau und Prag gewesen.

Ich freue mich sehr darüber, dass Menschen, mit denen er damals eng zusammengearbeitet hat, heute aus vielen Teilen der Welt zu uns gekommen sind. Insbesondere danke ich Ihnen, James Baker und Ihnen, Roland Dumas, für Ihre Anwesenheit bei dieser Feier heute.

Und dann war Außenminister Genscher in dieser Zeit auch und nicht zuletzt eine ganz unerlässliche Stütze für Bundeskanzler Helmut Kohl, als dieser in der wohl wichtigsten Etappe seines politischen Wirkens entschlossen die Weichen in Richtung Einheit stellte.

Da hat er – in seiner glücklichsten Stunde als Politiker – vom Balkon der Prager Botschaft die Flüchtlinge bewegen können, in die Züge nach Westdeutschland einzusteigen, obwohl sie noch einmal durch die DDR fahren mussten – das konnte er nur mit der Autorität des absolut vertrauenswürdigen, ehrlichen Vermittlers erreichen, als den ihn alle respektierten, ja verehrten, und mit der Glaubwürdigkeit des gebürtigen Hallensers, der selber einst in die Freiheit geflohen war.

Da hat er, nachdem das Volk selber die Freiheit verlangt und am Ende erkämpft hatte, in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit ganzer Kraft daran mitgearbeitet, auf dem Weg zur Deutschen Einheit die diplomatischen, politischen und administrativen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Da ist er einer der Architekten eines neuen, kooperativen Europa geworden: durch das alltägliche, von ihm mit besonderer Leidenschaft und Fähigkeit betriebene Geschäft des Verstehens, des Vermittelns und des Versöhnens und vor allem durch die Arbeit an der Charta von Paris 1990, die Demokratie und Achtung der Menschenrechte zur Grundmaxime für alle europäischen Staaten erhoben hat.

Und da steht schließlich für die allermeisten Deutschen seine politische und persönliche Existenz für den Ausgleich widerstreitender Interessen, für die Konfliktlösung durch Geduld und Augenmaß, für die Politik der kleinen Schritte, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren.

Da haben, als er dann am 18. Mai 1992 aus der Bundesregierung ausscheidet, nicht wenige Deutsche den Eindruck, dass Außenminister eigentlich der Vorname eines Politikers namens Genscher sei.

Hans-Dietrich Genscher hatte – gewiss durch die eigenen Erfahrungen mit Krieg und Unterdrückung, vielleicht auch durch seinen beständigen Kampf gegen die Krankheiten, die ihn von Jugend auf belasteten und oft existenziell gefährdeten – er hatte eine untrügliche Sensibilität für das, wodurch sich ein anderer gekränkt, verletzt oder an den Rand gedrückt vorkommen konnte. Er wusste darum auch, wann und wie er solchen Gefühlen entgegenwirken musste. Wie wenige andere hatte er ein Gespür für die bisweilen gefährliche Macht der Emotionen in der Politik. Und darum war er immer um das notwendige Feingefühl und den angemessenen Respekt bemüht.

Manche meinten in seiner politischen Methode, die sie Genscherismus tauften, auch die Fähigkeit zu verschleiernder Vieldeutigkeit zu entdecken. In Wahrheit haben Takt und Rücksichtnahme, Ausgleich und Kompromissfähigkeit nie dazu geführt, dass er nicht konsequent seinem inneren Kompass gefolgt wäre. Er hat nicht immer ausgesprochen, worum es ihm im Tiefsten ging. Das gehört zum diplomatischen Geschäft. Wenn er es aber einmal ausgesprochen hat, dann mit der nötigen Klarheit gegenüber Freund und Feind.

Eine heute fast vergessene Kontroverse innerhalb des westlichen Bündnisses dreht sich 1988 und 1989 um die sogenannte Modernisierung von atomaren Kurzstreckenraketen in Europa, vornehmlich in der Bundesrepublik. Gerade weil sich längst schon Veränderungen und Reformschritte in den Staaten des Warschauer Paktes zeigen, ist Hans-Dietrich Genscher ein entschiedener Gegner dieses Rüstungsvorhabens, zunächst auch gegen den eigenen Koalitionspartner und gegen die westlichen Alliierten.

In seiner üblichen zähen und ausdauernden Art kann er schließlich fast alle von seinen Argumenten überzeugen. Er begründet seine Haltung öffentlich am 27. April 1989 im Bundestag. In dieser Rede zeigen sich in nuce die bedeutenden Antriebskräfte des Politikers Hans-Dietrich Genscher:

Er zitiert dort zunächst den Eid, den er als Minister auf das Wohl des Deutschen Volkes geleistet hat, und erklärt dann weiter: Die Verpflichtung aus diesem Eid endet nicht an der Grenze mitten durch Deutschland. Die damit begründete nationale Verantwortung schließt meine Heimat, schließt die Stadt, in der ich geboren bin, und schließt die Menschen, die in der DDR leben [...] ein. Wie ernst wir es meinen mit der deutschen Nation, [...] das erweist sich in dem täglichen Bemühen, Frieden und Stabilität und Menschenrechte in Europa zu stärken, in dem Bemühen um Zusammenarbeit und Abrüstung. Das Friedensgebot unseres Grundgesetzes gilt gegenüber allen europäischen Völkern.

Hier sehen wir das von Genscher unermüdlich vertretene nationale Interesse, das gleichzeitig die Deutsche Einheit wie den Frieden in ganz Europa umfasst. Eines war für ihn ohne das Andere nicht zu denken. So konnte er zu dem Politiker werden, der buchstäblich bis zum letzten Atemzug dafür warb, das in Europa so glücklich und friedlich Erreichte nicht aufs Spiel zu setzen.

Es gibt wahrscheinlich wenige Politiker, von denen man, wie von Hans-Dietrich Genscher, sagen kann: Sehr selten erfahren sie, dass sie recht behalten, noch seltener zu Lebzeiten und am allerseltensten, wenn sie noch im Amt sind. Das ist Hans-Dietrich Genscher beschieden gewesen. Und uns Deutschen, ja uns Europäern, ist es gut damit gegangen, dass Hans-Dietrich Genscher Recht behalten hat.

Wer viel schultern muss, der wird auch dankbar sein, selber getragen zu werden. In unserer Erinnerung an Hans-Dietrich Genscher denken wir deshalb auch an seine Frau Barbara, die ihn in so vielen Jahren begleitet hat. In ihr hatte er eine verlässliche Stütze und eine treue Partnerin. Liebe Frau Genscher, Sie haben zu seinem Lebenswerk das Ihre beigetragen.

Was bleibt uns von diesem deutschen Patrioten und überzeugten Europäer, der hier, in diesem Bonner Regierungsviertel, so lange unserem Land gedient hat? In seinem Sinne wäre es, nicht, ja niemals für selbstverständlich zu halten, was eben nie selbstverständlich ist. In seinem Sinne wäre es, ist es, leidenschaftlich und geduldig, mit klarem Kompass und rücksichtsvoll zu sichern, zu bewahren und zu stärken, was uns allen Schutz und Wohlergehen schenkt:

Frieden, Freiheit und Einheit unseres Vaterlandes,

Frieden, Freiheit und Einheit Europas.

Traurig und mit tiefem Respekt und großer Dankbarkeit nehmen wir Abschied von Hans-Dietrich Genscher.