Verleihung des 8. Amnesty International Menschenrechtspreises

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 25. April 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 25. April bei der Verleihung des 8. Amnesty International Menschenrechtspreises eine Ansprache gehalten: "Die Menschenrechte sind unser gemeinsames Gut, und ihre Verteidigung liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International leisten einen unverzichtbaren Beitrag dazu, dieses Prinzip der Teilhabe und Verpflichtung zu entwickeln und zu fördern."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache anlässlich der Verleihung des 8. Amnesty International Menschenrechtspreises im Maxim Gorki Theater in Berlin

Wir sind heute Abend zusammengekommen an einem Ort, der viel erzählt über das Entstehen von Bürgergesellschaft. Blicken wir zurück in die alten Zeiten, als dieses Gebäude errichtet wurde, und hören wir Carl Friedrich Zelter, den Direktor der Sing-Akademie zu Berlin, der dieses schöne Gebäude im Jahre 1827 für die Chorvereinigung bauen ließ. Zelter verband damit den Wunsch nach Mannigfaltigkeit aller Stände, Alter und Gewerbe, ohne affektierte Wahl...

Dieser Geist des vielfältigen Miteinanders, den Zelter beschwor, dieser liberale Gemeinsinn, er wurde besonders nach der Märzrevolution im Sommer 1848 spürbar, als hier die Preußische Nationalversammlung tagte.

Die Bürgerinnen und Bürger, ihre Rolle in der Gesellschaft, Konflikte, Umbrüche – das sind heute auch zentrale Themen des Maxim Gorki Theaters, das hier in der Sing-Akademie seit dem Jahre 1952 seine Spielstätte hat.

Dieser Ort also ist wie geschaffen für einen Abend wie diesen – für die Zusammenkunft von Menschen, die sich für die Bürger und die Bürgergesellschaft stark machen, indem sie sich für den Schutz der Menschenrechte engagieren. Und weil die Menschenrechte und die freie und aktive Bürgergesellschaft auch für mich eine Herzensangelegenheit sind, deshalb bin ich gerne herkommen.

Besonders freuen wir uns an diesem Abend über und mit einem Preisträger. Henri Tiphagne, ich gratuliere Ihnen herzlich zu der Auszeichnung, die Sie heute empfangen werden, zum Menschenrechtspreis von Amnesty International. Und wir freuen uns nachher auf Margaret Sekaggya, sie wird die Laudatio halten. Aber ich denke, es ist in Ihrem Sinne, lieber Herr Tiphagne, wenn ich an dieser Stelle schon die zahlreichen mutigen Frauen und Männer an Ihrer Seite erwähne. Als People’s Watch kämpfen Sie vereint für die Achtung der Menschenrechte in Indien. Die heutige Preisverleihung ist auch Wertschätzung dieser gemeinsamen Anstrengungen. Bitte geben Sie meinen Dank und meine Glückwünsche an Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu Hause weiter. Nachdem, was ich gelesen und gehört habe und da ich schon mal in Indien war, zum Staatsbesuch, kann ich mir einige Dinge vorstellen. Möge Ihr gemeinsames Engagement viele Menschen an vielen Orten aufrütteln und inspirieren, wachsam zu sein und ihre Stimme zu erheben, wenn den Menschenrechten Gefahr droht.

Die Gemeinschaft hellhöriger und engagierter Bürgerinnen und Bürger ist von elementarer Bedeutung für den Schutz der Menschenrechte. Umgekehrt kann sich wahre, humane Gemeinschaft nur dort entfalten, wo elementare Rechte gewahrt sind. Wo Bürger ohne Furcht vor Repressionen selbst bestimmen, selbst gestalten. Zu diesem Wechselspiel von Menschenrechten und Bürgergesellschaft möchte ich heute einige wenige Gedanken beisteuern. Denn auch die aktuellen Probleme und Krisen geben Anlass, dass wir uns mit neuer Intensität sowohl für den Schutz der Menschenrechte als auch für die Stärkung der Bürgergesellschaft einsetzen.

Die Menschenrechte sind unser gemeinsames Gut, und ihre Verteidigung liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International leisten einen unverzichtbaren Beitrag dazu, dieses Prinzip der Teilhabe und Verpflichtung zu entwickeln und zu fördern. Zugleich erleben wir ja weltweit seit einiger Zeit wieder so etwas wie ein Anzweifeln. Wir erleben, dass die universelle Bedeutung der Menschenrechte nicht anerkannt, sondern relativiert wird. Oftmals geschieht das mit dem Verweis auf kulturelle oder gesellschaftliche Traditionen und Besonderheiten. Besonders die Regierenden in autoritär oder diktatorisch geführten Gesellschaften wissen sehr viel von solchen Kulturen zu berichten. Sie berichten zum Teil etwas, was die Menschen, die dort leben, in ihrer Mehrheit ganz anders sehen. Wenn wir sie besuchen, verstehen sie alle, was Menschenrechte sind. Politiker, aber auch jene, die in der Bürgergesellschaft aktiv sind und für Menschenrechte werben, wollen diese Anmerkungen hören, denn wir haben gute Argumente auf unserer Seite. Wir wissen, dass, wer die Menschenrechte relativiert, den Kern des Menschenrechtsschutzes missachtet, dass die Würde, die jedem einzelnen Menschen zu eigen ist, dann nicht akzeptiert wird. Und es wird übersehen, dass sich die Menschenrechte, wie wir sie seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts kennen, aus ganz unterschiedlichen Traditionen und Rechtsordnungen speisen. Eine Tradition der Folter, eine Kultur der Entrechtung und Gewalt gegen Andersdenkende oder Andersgläubige, gegen Frauen, Homosexuelle oder Migranten ist mit den Menschenrechten nicht vereinbar. In keinem Land der Welt!

Ich erwähne hier den universalen Geltungsanspruch der Menschenrechte, weil darin zugleich das besondere Versprechen wie auch die besondere Verantwortung für die Bürgergesellschaft liegt. Die Menschenrechte garantieren Freiheit und Selbstbestimmung, nicht damit sich jeder auf sich selbst zurückzieht – auch wenn viele Menschen diese Möglichkeit wahrnehmen und auch wahrnehmen dürfen. Aber die Idee ist doch eigentlich, dass wir unsere Freiheit nutzen, um uns in Gemeinschaft mit anderen zu entfalten. Das mag in der Familie geschehen, am Arbeitsplatz, in Vereinen, in einer Partei oder Religionsgemeinschaft. Immer geht es dabei um etwas, dass ich die Lebensform der Bezogenheit nenne. Und aus dieser Bezogenheit aufeinander folgt Verantwortung – die Bereitschaft, sich selbst in ein freiheitliches Gemeinwesen einzubringen. Das ist der Wesenskern der Bürger- oder Zivilgesellschaft, in ihr schlägt das Herz einer lebendigen Demokratie. Denn sie mobilisiert Talente und Kräfte wie keine andere Gesellschaftsform es vermag.

Wie kostbar die Bürgergesellschaft ist, weiß jeder, der – so wie ich und viele andere Menschen in vielen Teilen der Welt viele Jahre – in einem Staat lebte, der die Menschenrechte unterdrückte und auch die Bürgergesellschaft erstickte. Erinnern wir uns an solche Zeiten und solche Staaten, erinnern wir uns auch an das Gefühl der Ohnmacht, das dort allgegenwärtig ist. In solchen Systemen wird den Menschen die Zuständigkeit für ihr eigenes Schicksal und die Mitverantwortung für ihre Mitmenschen genommen. Umso beglückender ist es dann, wenn solche Verhältnisse zerbrochen oder überwunden werden können. Umso beglückender war es für uns, im Osten Deutschlands, tatsächlich so etwas zu erleben wie eine friedliche Revolution, eine gemeinsame Erfahrung, dass sich so viele Menschen ihrer selbst als zur Verantwortung befähigte Bürger bewusst wurden. Auch das gehört ja zu den prägenden Erfahrungen dieser Nation. Sie hat nicht so viele positive Freiheitserfahrungen in ihrer Geschichte machen können, als dass wir das gering schätzen dürften. Wir müssen glauben, dass aus unseren gemeinsamen Bestrebungen etwas erwachsen kann, etwas, was die Welt verändert.

Welches Potenzial die Bürgergesellschaft hat und welche Sehnsüchte und Hoffnungen auf ihr ruhen, das spüre ich auch immer wieder, wenn ich als Bundespräsident in der Welt unterwegs bin oder wenn Menschenrechtler und Vertreter der Zivilgesellschaft ins Schloss Bellevue kommen. Und es sind nicht Wenige, die dorthin kommen und das wird auch so bleiben.

Viele Entwicklungen, die sie dann beschreiben, verfolge ich mit großer Sorge. In zahlreichen Teilen der Welt stoßen Bürger und ihre Interessenvertreter ebenso wie Organisationen, die sie unterstützen, auf zunehmendes Misstrauen und wachsenden Widerstand bei den Regierenden. Und es sind nicht nur Autokraten und Diktatoren, die jenen zusetzen, die sich engagieren und mitreden wollen, die auf Missstände aufmerksam machen, die Transparenz und Rechenschaft von den Regierenden einfordern. Leider werden auch in Demokratien mancherorts Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements eingeschränkt. Das bekommen besonders Nichtregierungsorganisationen zu spüren, zumal wenn sie sich international vernetzen und unterstützen. Gesetze, die den Spielraum von NGOs einschränken, wurden auch in unserer europäischen Nachbarschaft erlassen. Dazu wollen wir nicht schweigen. Zur Rechtfertigung wird mal der Kampf gegen Extremisten und Terroristen, mal der Schutz nationaler Souveränität oder nationaler Werte angeführt. Aber allzu oft wirken ganz andere Triebkräfte: Allzu oft erleben wir, dass es in Wahrheit um Abwehr von Mitbestimmung, um Unterdrückung von Kritik und Widerspruch, um Abschottung gegen Vielfalt und Veränderung geht. Und dort, wo der Raum für die Bürgergesellschaft mehr und mehr eingeschränkt wird, wo der mündige Bürger als Gegner wahrgenommen wird, da sind dann auch die Menschenrechte in Gefahr.

Auf derartige Bedrohungen müssen wir reagieren. Der Schutz der Zivilgesellschaft ist eine Aufgabe, die uns alle angeht, weil die Bürgergesellschaft von der Selbst- und Mitverantwortung aller Beteiligten lebt. Mit hartnäckiger Entschlossenheit sollten wir dieses Verantwortungsbewusstsein fördern, meine Unterstützung dafür haben Sie!

Sehnsüchtig warten viele, viel zu viele Frauen, Kinder und Männer in der ganzen Welt noch immer darauf, dass das Versprechen der Menschenrechte sich auch für sie erfüllt. Damit das geschieht, müssen die Menschenrechte Wurzeln schlagen in der Gesellschaft und sie müssen von engagierten Bürgern gehegt und gepflegt und verteidigt werden. Allen, die sich dieser großen Aufgabe widmen, ihnen allen, danke ich von Herzen. Und allen – hier im Saal ebenso wie Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern – wünsche ich dafür Mut, Ausdauer, Erfindungsreichtum und die Kraft des Herzens.