Begegnungsreise mit dem Diplomatischen Korps

Schwerpunktthema: Rede

Saarbrücken, , 2. Mai 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 2. Mai bei der Begegnungsreise mit dem Diplomatischen Korps und den Missionschefs internationaler Organisationen ins Saarland eine Rede gehalten: "Wer sich in dieser Region umschaut, so wie wir das heute tun, der erkennt die Bedeutung grenzüberschreitender Kooperationen in Europa schnell. Und der versteht sofort, warum Deutschland die enge Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn so wichtig ist."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede in der Völklinger Hütte anlässlich der Informations- und Begegnungsreise mit dem Diplomatischen Korps und den Missionschefs internationaler Organisationen

Wie viele Botschafterinnen und Botschafter haben schon in Schlössern getafelt. Aber ich weiß nicht, ob sie schon einmal in einem solchen Ambiente zu Mittag gegessen haben. Wir jedenfalls, die wir diesen Ausflug in das Saarland machen, wir sind erfreut, an diesem Ort sein zu können. Liebe Frau Kramp-Karrenbauer, das ist ein Denkmal der ganz besonderen Art.

Seit wir 1996 begonnen haben, alljährlich diese gemeinsamen Ausflüge zu unternehmen, ist es tatsächlich das erste Mal, dass ein Bundespräsident mit dem Diplomatischen Korps ins Saarland gereist ist. Die meisten Gäste werden sich bereits davon überzeugt haben, dass unsere diesjährige Wahl eine ausgezeichnete war, und wer das noch nicht glaubt, der wird, wenn wir gegessen haben, wohl zustimmen. Man hat mir gesagt, die Saarländer verstehen etwas vom Kochen.

Die Saarländer scheinen, das wissen nicht alle Deutschen, überhaupt in manchem eine Vorbildfunktion zu haben. Einer meiner Amtsvorgänger, Richard von Weizsäcker, hat es einmal so gesagt: Die Saarländer leben uns vor, wie man gleichzeitig ein guter Saarländer, ein guter Deutscher, ein guter Europäer und ein guter Nachbar sein kann.

Und wenn ich das Zitat richtig verstehe, hat Bundespräsident von Weizsäcker mit der Wahl des Verbs die Betonung bewusst auf das gelenkt, was man im Saarland ein wenig besser versteht als andernorts in Deutschland: leben.

Das Leben und das Lebenkönnen, das Leben und das Lebenlassen, das sei saarländische Art, erklärt uns der Schriftsteller Ludwig Harig, der es wissen muss, weil er gut zwanzig Kilometer von hier geboren ist. Die Saarländer, sagt er, seien Grenzgänger, und ein Grenzgänger überlebe nicht durch die Verteidigung von absoluten Ansprüchen; er rette sich, indem er die gute Gelegenheit ergreife. Ich schlage vor, wir machen es ihm nach.

Ergreifen wir die gute Gelegenheit, eine Region kennenzulernen, die lange zwischen Frankreich und Deutschland umstritten, ja umkämpft war und die heute in vieler Hinsicht zu einem Beispiel für die Freundschaft der beiden Nationen geworden ist. Hier – das kann man sagen – haben Franzosen und Deutsche Frieden miteinander gemacht.

Ich muss hier eine persönliche Erinnerung einflechten. Ich war zum ersten Mal 1955 hier. Ich kam aus dem Osten Deutschlands, ein 15-jähriger Schüler, und im Sommer dieses Jahres passierte etwas Besonderes für die Saarländer. Das Land stand – eine Folge des Krieges – unter französischer Verwaltung, man zahlte mit Franc, und es gab Frankreich-freundliche Parteien und einen Frankreich geneigten Ministerpräsidenten. In diesem Sommer 1955, als ich hier in den Ferien war, stellten sich zum ersten Mal wieder legal deutsche Parteien vor. Ich kam aus dem kommunistischen Deutschland, und einen offenen Meinungsstreit kannte ich überhaupt nicht. Ich fand faszinierend, was hier passierte. Und unsere französischen Nachbarn haben es dann einfach hingenommen und mitgestaltet, dass sich die Saarländer zum zweiten Mal in der Geschichte wieder für Deutschland ausgesprochen haben. Das fand ich bemerkenswert. Sie hätten nach dem Krieg auch sagen können: Nein, so viel Unheil ist von Euch ausgegangen, das Saarland bleibt französisch. Diese Haltung hat mir imponiert, als ich ein Junge war, und sie imponiert mir noch heute, als Präsident.

Die Einsicht, dass Friede zwischen Konkurrenten einträglich sein kann, hatten die Keramikfabrikanten François Boch und Nicolas Villeroy schon Anfang des 19. Jahrhunderts. Beide Familien gründeten ihre Unternehmen in Lothringen, haben ursprünglich also französische Wurzeln. Nach dem Wiener Kongress 1815 fanden sie sich allerdings auf preußischem Boden wieder. Um neben der damals dominierenden englischen Industrie bestehen zu können, schlossen die beiden zunächst ihre Firmen zusammen. 1842 besiegelten die Familien ihren Bund mit der Heirat von Eugen Boch und Octavie Villeroy.

Das Unternehmen, das heute weltweit bekannt ist, heißt bei uns in Deutschland: Villeroy & Boch. Wir lernen dieses Unternehmen ja im Anschluss noch kennenlernen. Erst der Zusammenschluss ermöglichte den überregionalen und internationalen Erfolg des Unternehmens, und am Unternehmenssitz im saarländischen Mettlach blickt man mit Stolz auf die französisch-deutsche Firmen- und Familiengeschichte zurück. Wir sind im Herzen ein europäisches Unternehmen, das juristisch eine deutsche Aktiengesellschaft ist, sagt der französische Firmeninhaber Nicolas Luc Villeroy heute. Sein Kompagnon, Wendelin von Boch, ist ein Deutscher.

Kontinuitäten wie diese sind keine Selbstverständlichkeit im Saarland. Es ist eine Region im Wandel. Wohl kaum ein Bundesland hat tiefere Brüche und Einschnitte erlebt als das Saarland. Historisch – in der lange währenden Zerrissenheit zwischen Deutschland und Frankreich. Und wirtschaftlich – durch die Kohle- und Stahlkrise Mitte der 1970er Jahre. Der Ort, an dem wir uns befinden, die ehemalige Völklinger Hütte, ist wohl das eindrücklichste Beispiel des folgenden Strukturwandels.

1873 wurden hier die ersten Hochöfen angeheizt. In der Gebläsehalle, das ist der Ort, wo wir uns jetzt befinden, neben den riesigen Turbinen, fällt es leicht, sich das Dampfen und Stampfen der Maschinen vorzustellen. Zeitweise arbeiteten hier mehr als 17.000 Menschen. 1975, mit dem Beginn der weltweiten Stahlkrise, begann der Niedergang. 1986 standen die Maschinen schließlich still. Heute gehört die Hütte zum Weltkulturerbe und gilt als historisches Wahrzeichen für deutsche Ingenieurbaukunst. Das erste industrielle Denkmal in Deutschland, das Weltkulturerbe wurde.

Mögen wir uns hier auch in einem Museum befinden, so ist das Saarland alles andere als ein Museum. Die Wirtschaft dieses Bundeslandes ist zukunftsorientiert, wie wir das am Vormittag erlebt haben. Hier wird fortgesetzt, was schon im 18. und 19. Jahrhundert den Erfolg der Unternehmen begründete: Forschung, Innovation Investition in neue Technologien, all das gibt es weiterhin. Die Kontinuität des Saarlandes, so könnten wir sagen, ist sein Erfindergeist. Wo einst die Rezeptur für Kalksteingut als Porzellanersatz gefunden wurde, arbeiten heute Forschungsinstitute an Künstlicher Intelligenz, an Prüfverfahren für industrielle Fertigungsprozesse, an neuen Arzneimitteln oder an der Verbesserung der IT-Sicherheit. Das Saarland hat den Strukturwandel angepackt – und vielerorts gepackt.

Was einst problematisch war – die Grenzlage des Saarlandes –, erweist sich heute als Standortvorteil. Denn die Wirtschaftsregion, von der wir heute sprechen, heißt im Jargon unserer Bürokratien SaarLorLux. Soll heißen: Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs und des Großherzogtums Luxemburg vereinbarten im Oktober 1980 eine Zusammenarbeit des Saarlands, Lothringens und Luxemburgs. Heute gehören auch das belgische Wallonien und Rheinland-Pfalz auf deutscher Seite zu dieser Großregion. Ihre Behörden und Institutionen fördern gemeinsam die wirtschaftliche, kulturelle, touristische und soziale Entwicklung dieser Region. Und sie tun das mit Erfolg.

Wer sich in dieser Region umschaut, so wie wir das heute tun, der erkennt die Bedeutung grenzüberschreitender Kooperationen in Europa schnell. Und der versteht sofort, warum Deutschland die enge Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn so wichtig ist. Tatsächlich kann man nur an wenigen Orten den Sinn und die tiefe Verwurzelung der deutschen Europa-Politik so gut nachvollziehen wie hier.

Nicht weit von hier entfernt, im Luxemburgischen, liegt ein Ort, dessen Namen wir alle kennen und in den vergangen Monaten wieder häufiger gehört haben: Schengen. Dieser Name steht, wie Sie wissen, für ein Abkommen, das Europa verändert hat, weil es die Regelungen zur Freizügigkeit grundlegend verbesserte. Wer die kriegerische Geschichte Europas kennt, wer die Folgen dieser Geschichte am Beispiel des Saarlandes studiert, der weiß, wie wichtig dieses Abkommen für Europa war und ist. Fast dreißig Prozent der EU-Bürger leben inzwischen in den europäischen Grenzregionen. Gerade in diesen Regionen macht das engmaschige Netz der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit den Bürgern die Vorteile offener Grenzen in Europa täglich konkret und positiv erfahrbar. Und gerade in diesen Tagen und Wochen wollen wir sagen: Diese Freizügigkeit, die wollen wir uns auch erhalten.

Deutschland, meine Damen und Herren, ist keine Insel, und Europa ist es auch nicht. Mit den Flüchtlingsbewegungen, die durch den Syrienkrieg und andere Konflikte ausgelöst wurden, kommt auf Europa eine große Verantwortung zu. Die Kriege und Konflikte mahnen uns Europäer, unser politisches und wirtschaftliches Gewicht früher und gezielter zur Bewältigung globaler Herausforderungen einzusetzen.

Deutschland ist sich seiner internationalen Verantwortung bewusst. Sie zeigt sich in diesem Jahr zum Beispiel in der Übernahme des Vorsitzes in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die OSZE hat mit der Beobachtermission in der Ostukraine eine wichtige und, wie Sie alle wissen, schwierige Aufgabe übernommen. Dass dort nach Monaten relativer Ruhe in jüngster Zeit der Waffenstillstand wieder häufiger gebrochen wird, beunruhigt uns. Deutschland wird innerhalb wie außerhalb der OSZE beharrlich weiterarbeiten an einer Lösung des Konflikts. Eine friedliche Entwicklung der Ukraine ist für Europa, ist für uns alle, von enormer Bedeutung.

Lassen Sie mich hier im Saarland, das selbst mehrfach Umbrüche erlebt hat, sagen: Der Wandel hin zu einer friedlichen und kooperativen Nachbarschaft ist machbar. Es ist auch Aufgabe der Diplomatie, solchen Wandel zu gestalten.

Diese Aufgaben der Diplomatie, Exzellenzen, werde ich jetzt in eineinhalb Stunden umfassend beschreiben. Ich spreche diesen Satz aus, verwerfe die Idee aber lieber. Ich möchte die guten Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Ihren Ländern ja nicht gefährden. Deshalb sage ich nur noch einen Satz: Sie sind herzlich eingeladen, zu kosten, was die saarländischen Köche heute für uns alle vorbereitet haben.