Veranstaltung zum Tag des Grundgesetzes "Gelebte Demokratie in den Kommunen"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 23. Mai 2016

Der Bundespräsident hat am 23. Mai bei der Veranstaltung zum Tag des Grundgesetzes "Gelebte Demokratie in den Kommunen", zu der rund 750 Kommunalpolitiker aus ganz Deutschland eingeladen waren, eine Rede gehalten: "Sie tragen Verantwortung für das Kleine und Kleinräumige, und alle zusammen sind Sie damit zugleich unverzichtbar für das Große und Ganze, für die demokratische Gestalt unseres Landes. Sie sind es, die vor Ort umsetzen, was in Bund und Ländern entschieden wird."


Liebe Ehrengäste!

Ja, Ehrengäste, das sind Sie, ganz ausdrücklich: von der ersten bis zur letzten Reihe hier im Saal, mehr als 700 Verantwortliche aus ganz Deutschland. Ich habe Sie zum Geburtstag des Grundgesetzes eingeladen, weil Sie sich auf ganz besondere Weise für unser Gemeinwesen engagieren. Seit 1949 hat das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang in Deutschland. Dass unsere Städte und Gemeinden heute so vielgestaltig, so lebendig und übrigens auch so selbstbewusst sind, das ist in hohem Maße dem zu verdanken, was in Artikel 28 Grundgesetz niedergelegt wurde. Lieber Herr Klaußner, Ihnen haben wir an dieser Stelle herzlich zu danken. Solche Texte vorzutragen verdient eigentlich ein Extrahonorar. Das waren, wie wir alle gemerkt haben, sehr trockene Protokolltexte, und Sie haben es verstanden, sie uns richtig einzuprägen. Vielen Dank dafür.

Mein besonderer Dank gilt aber natürlich Ihnen allen, die Sie so zahlreich meiner Einladung gefolgt sind. Danke nicht nur für die mitunter sehr weiten Anreisen aus allen Winkeln unseres Landes – von Nordfriesland bis Traunstein, von Kleve bis Görlitz. Danke sage ich vor allem dafür, dass Sie unser Grundgesetz in den Kommunen mit Leben füllen, dass Sie unsere Demokratie Wirklichkeit werden lassen: als Bürgermeisterinnen, Bürgermeister und Landräte, als Mitglieder in Städte- und Gemeinderäten, als Fraktionsvorsitzende in den Bürgerschaften, ob nun haupt- oder ehrenamtlich.

Jede und jeder von Ihnen vertritt ein paar Dutzend oder ein paar hunderttausend Bürger. Sie sind keine Erwählten, Sie sind Gewählte. Sie sind auf Zeit mit einem demokratischen Auftrag ausgestattet. Etliche von Ihnen sind zum zweiten, manche schon zum dritten Mal gewählt worden. So viele Menschen vertrauen Ihnen. Denn Sie versehen nicht einfach nur Ihr Amt. Sie kennen die Sorgen Ihrer Bürgerinnen und Bürger und setzen sich für deren Belange ein. Sie sind nah bei den Menschen, Sie sind ansprechbar, für jedermann.

Was Sie leisten, liebe Gäste, das ist enorm.

Sie tragen Verantwortung für das Kleine und Kleinräumige, und alle zusammen sind Sie damit zugleich unverzichtbar für das Große und Ganze, für die demokratische Gestalt unseres Landes. Sie sind es, die vor Ort umsetzen, was in Bund und Ländern entschieden wird – was oft großer Anstrengungen bedarf, wie wir jüngst in der Flüchtlingspolitik erlebt haben. Sie sorgen nicht nur für eine menschenwürdige Unterbringung, Sie werben auch für Akzeptanz, und Sie stärken den Zusammenhalt, wo er verloren zu gehen droht. Sie sind für viele Anliegen die Adresse vor Ort – und das in Krisenmomenten genauso wie im Alltag, zumal dann, wenn Sie eigene kommunale Projekte verwirklichen wollen, sei es nun der neue Gewerbepark oder das Tourismuskonzept.

Sie werden Tag für Tag mit ungezählten Fragen konfrontiert. Einigen dieser Fragen bin ich auf meinen Reisen durchs Land begegnet: Wie lässt sich zum Beispiel die Infrastruktur, wie lässt sich eine lebendige Kommune trotz Abwanderung erhalten? Oder: Wie gehen wir mit der hohen Verschuldung und den knappen Kassen um? Oder: Wie schaffen wir bezahlbaren Wohnraum?

Überall habe ich Menschen getroffen, die solch schwierigen Fragen nicht ausweichen, sondern sie als Herausforderung begreifen und engagiert nach Lösungen suchen. So haben sich zum Beispiel Kommunen im Emsland, wo ich kürzlich war, zusammengetan und eine Bildungsregion entwickelt, die – von der Kita-Frühförderung bis hin zum Meisterbrief – alle Bildungsträger vernetzt, um Berufschancen zu erhöhen und damit auch junge Familien zum Bleiben zu ermutigen. Im oberfränkischen Kronach habe ich Ideenreichtum ganz besonderer Art, an der Basis erlebt. Nur ein Beispiel: Dort wird ein Rufbus-Konzept entwickelt, um die verstreut wohnenden Schüler auf dem Lande spät nachmittags ohne langes Warten nach Hause zu bringen. Kreative Lösungen auch im westfälischen Arnsberg: Dort sind unter dem Motto Gemeinsam statt einsam neue Wohn- und Begegnungsformen entstanden, weil man den demographischen Wandel hin zu mehr Altersbevölkerung nicht einfach nur beklagen, sondern die Potenziale sinnvoll in den Alltag integrieren will. Ich habe mir von Kommunen berichten lassen, die ihre gesamte Stromversorgung aus erneuerbaren Energien speisen, oder von anderen, die mit Bürgerhaushalten die Einwohner in die Planung der öffentlichen Ausgaben miteinbeziehen. Und nicht wenige Kommunen erweitern die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger dadurch, dass sie sie übers Internet befragen und zum Teil auch mitentscheiden lassen.

Das alles zeigt: In unseren Städten und Gemeinden wird ungeheuer viel ausprobiert und angepackt – das will ich heute ganz ausdrücklich würdigen. Kommunen sind Orte der Innovation, oft unter reger Beteiligung der Bürger.

Verwalten und zugleich gestalten: Genau das macht Ihre Arbeit so vielschichtig. Kommunalpolitik steuert, sie moderiert, sie beflügelt, sie schafft Lebensqualität, sie schafft Perspektiven. Vor allem: Sie schafft Möglichkeiten der Mitwirkung für Millionen von Menschen.

Kommunen sind Heimstatt, und sie sind Werkstatt der Demokratie. Wo, wenn nicht dort, wo Menschen dem Staat so direkt begegnen, können sie Vertrauen in das Prinzip der Teilhabe gewinnen und lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen? Wo, wenn nicht in den Kommunen, können sie auch Vertrauen in Andere entwickeln und die Bereitschaft, ihnen Aufgaben und Verantwortung zu übertragen? Ja, die Schöpfer unserer Verfassung haben an den mündigen Bürger geglaubt, als sie ihm die Mitwirkungsmöglichkeiten gerade auch in den Kommunen zusprachen.

Der Geist unseres Grundgesetzes unterscheidet sich damit elementar vom Ungeist undemokratischer Staatsgewalt. Selbstbewusste Bürger und selbstverwaltete Kommunen sind in autoritären und totalitären Systemen unerwünscht, ja eigentlich gelten sie sogar als staatsgefährdend. Und genau das haben wir in Deutschland erlebt: In der nationalsozialistischen Diktatur wurde die kommunale Selbstverwaltung de facto verweigert, in der DDR galt sie nur auf dem Papier. Wir haben also allen Grund zur Freude darüber, dass wir in gänzlich anderen Zeiten leben.

Ungeachtet der Möglichkeiten, die sich aus der kommunalen Selbstverwaltung ergeben, können Kommunen etwas erreichen, das uns gerade jetzt besonders wichtig sein sollte: Sie können Verbundenheit stiften. Verbundenheit in der Nachbarschaft, im Stadtteil – überall dort, wo Menschen einander begegnen und füreinander da sein wollen. Kommunen können Zugehörigkeit stiften, während das Leben ansonsten immer globaler, auch immer virtueller, immer individualistischer wird. Sie können Heimat stiften, während die Lebensentwürfe der Menschen immer vielfältiger werden.

Und so können Kommunen zu Orten werden, an denen Menschen – wie kaum irgendwo sonst – Engagement und Hingabe für Ziele entwickeln, die weit über die eigenen Interessen hinausgehen. Orte, an denen sie sich in unserem demokratischen Gemeinwesen beheimaten. Kommunen sind deshalb auch Diskussionsräume, in denen Menschen mit Freunden, mit Verwandten und Bekannten nicht nur debattieren über die Zukunft des Ortes, sondern auch der Region oder des ganzen Landes. Denn ihre kleine demokratische Heimat macht ihnen das Große und Ganze der Demokratie lieb und wert. Und sie wissen natürlich auch, dass viele Entwicklungen der sogenannten großen Politik irgendwann Auswirkungen bis hinein in die kleinste Kommune haben.

Selten habe ich ein so großes Bedürfnis nach Diskussion erlebt wie in den vergangenen Monaten. Im Land ist deutlich ein Unbehagen zu spüren. Das Gefühl der Unsicherheit oder der Ungewissheit bei so vielen Themen: Schulden und Renten, Freihandel und europäische Einigung, Flucht und Einwanderung, Terrorismus und Kriege im Osten und im Nahen Osten. Das alles verbindet sich mancherorts zu einer brisanten Mischung. Plötzlich fliegen Streitworte immer schneller und manchmal unbedacht hin und her – in der Bürgerversammlung genauso wie am Abendbrottisch oder an der Theke.

Als Kommunalpolitiker kennen Sie die ganze Bandbreite von Meinungen und Haltungen, von Da müssen wir doch was machen! bis Da sollten wir uns schleunigst davonmachen! Es ist nicht einfach, sich inmitten der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse politisch zu orientieren und sich nicht hinreißen zu lassen zu schnellen, einfachen Antworten – manchmal übrigens, bevor alle Vorschläge auf dem Tisch sind. Unterschiedliche Einschätzungen gehen zurzeit quer durch die Parteien, genauso wie mitten durch Familien und Freundeskreise. Selbst der Einzelne ist manchmal in sich gespalten und vertritt überraschende Meinungsmischungen.

Wie also umgehen mit Unübersichtlichkeit und Unbehagen?

Es gibt jedenfalls einen Weg, der sich nicht eignet. Und das ist die Radikalisierung, die Unfrieden schürt und das öffentliche Klima bis in manche Kommunen hinein vergiften kann.

Bei einigen Menschen hat sich das Denken in Freund-Feind-Bildern breitgemacht, weil sie sich von der Politik und den Institutionen übergangen fühlen, weil sie sich auch, so sagen sie es jedenfalls, nicht gehört und nicht repräsentiert fühlen. Das mag ja manchmal sogar der Fall sein. Aber diese Polarisierung mündet dann oft in Kampfbegriffe wie etwa den der Lügenpresse. Manchmal geht es noch weiter – dann ist die Rede vom System, ein Begriff, der schon in der Weimarer Zeit benutzt wurde, um die Demokratie zu unterhöhlen. Manche Kritiker verbinden sich im Netz zu regelrechten Wutgemeinschaften. Und manche tragen ihr Ressentiment auf die Straße. Da wird aus Ressentiment oft Hass und aus Hass eine Straftat.

Es muss ganz klar sein: Die Toleranz des demokratischen Verfassungsstaates endet dort, wo zu Hass und Gewalt aufgestachelt wird.

Sicher sollten wir immer den Dialog suchen. Allerdings: Mit Verfassungsfeinden, also Menschen, die den Verfassungsstaat in seinen Kernbestandteilen ändern oder abschaffen wollen, gibt es keine gemeinsame Gesprächsgrundlage. Und Straftäter werden selbstverständlich mit allen Mitteln des Rechtsstaates verfolgt.

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist die Anzahl derer, die gewalttätig oder verfassungsfeindlich handeln, immer klein gewesen. Und so ist es auch heute. Diese Menschen – davon bin ich fest überzeugt – werden in unserem Land niemals eine Mehrheit werden. Es ist wirklichkeitsfern, ja lächerlich, wenn sich ihre Sprecher so äußern, als würden sie den Willen des Volkes repräsentieren.

Sie wissen es alle, ich bin in der DDR aufgewachsen und im Herbst 1989 mit Hunderttausenden auf die Straße gegangen. Deshalb war es besonders bitter, in jüngster Zeit erleben zu müssen, wie jene Losung missbraucht wird, mit der wir damals das Unrechtssystem gestürzt haben. Dieses Wir sind das Volk, vielleicht der wichtigste Satz der deutschen Politik, der jüngeren Politikgeschichte, dieser Satz von 1989 drückte damals aus, was die Mehrheit dachte und fühlte. Die Mehrheit wollte ein Unrechtsregime loswerden, das keine demokratische Legitimation besaß und nicht in freien und geheimen Wahlen abgewählt werden konnte. So war das damals.

Und heute? Denen, die auf gewissen Demonstrationen behaupten, den Willen des sogenannten wahren Volkes zu vertreten, sei in aller Deutlichkeit gesagt: Das wahre Volk, unser Volk, hat in wahren – nämlich freien, gleichen und geheimen – Wahlen entschieden, welche Vertreter seine legitimierten Repräsentanten sein sollen. Und das sind Sie – liebe Bürgermeisterinnen und Bürgermeister – so sind Sie in Ihre Ämter gekommen, so, durch solche Art von Wahl, genau wie die Ministerpräsidenten unserer Länder und die Landesregierungen, die Kanzlerin und die Bundesregierung. Und wenn Bürger mit der Arbeit dieser politischen Vertreter unzufrieden geworden sind, dann hindert sie doch niemand, bei den nächsten Wahlen anderen Repräsentanten ihre Stimme zu geben. Es hindert sie übrigens auch niemand daran, in der öffentlichen Debatte ihre Stimmen zu erheben, um zwischen den Wahlperioden Einfluss auf die öffentliche Meinung, auf Regierungs- und Parlamentsentscheidungen zu nehmen. Unsere Landesverfassungen bieten zudem den Bürgern die Möglichkeit, sich direkt über Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheide zu beteiligen. Auch viele Kommunalverfassungen lassen eine unmittelbare Bürgerbeteiligung zu. So sind unsere repräsentative Demokratie und die direkte Demokratie doch miteinander verbunden.

Unsere politischen Vertreter, Sie, sind also keineswegs Repräsentanten eines sogenannten wahren Volkswillens, sondern die Vertreter unterschiedlicher politischer Richtungen. In unserer Demokratie geht es auch nicht darum, eine kulturelle Trennlinie zu ziehen zwischen denen, die zum sogenannten wahren Volk angehören, und jenen, die ihm nicht angehören sollen. In unserer Demokratie geht es vielmehr darum, der Pluralität in der Gesellschaft Rechnung zu tragen, damit sich möglichst viele der Bürger repräsentiert sehen.

Lassen Sie uns also mit den Verschiedenen und mit allen, die das Argument schätzen und nicht die Wutkeule schwingen, in das politische Gespräch eintreten. Wir sollten uns dabei wieder stärker ins Bewusstsein rufen: Kontroversen sind kein lästiges Übel, sondern notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie. Demokratie muss Unterschiede nicht glattbügeln, sondern Raum geben für Differenz und Widerspruch, vor allem in einer Zeit, in der das politische Meinungsspektrum in Deutschland wieder breiter wird. Nur im Disput der Verschiedenen können Alternativen geprüft und Kompromisse gefunden werden, nur so kann Erneuerung in der Demokratie gelingen.

Zu diesem Prozess gehört übrigens auch die kritische Selbstreflexion. Der öffentliche Diskurs, Sie wissen es alle, er ist nie perfekt, und das müssen wir uns manchmal auch selbst klar machen. Er ist es auch in den vergangenen Jahrzehnten nie gewesen. In der Politik und in den Medien hat es bisweilen die Tendenz gegeben, aus gutem pädagogischem Antrieb heraus Diskussionen lieber einzuhegen – um dem vermeintlich Guten oder tatsächlich Guten zum Durchbruch zu verhelfen und das vermeintlich Falsche nicht zu fördern.

Aber mehr und mehr setzt sich nun die Erkenntnis durch: Spannungen löst man nicht, indem man andere ausgrenzt und Meinungen stigmatisiert. Spannungen löst man durch Offenheit und durch Gegenargumente. Je überzeugender diese sind, umso weniger kann Stimmungsmache verfangen.

Wir sollten, wie schon Willy Brandt mahnte, mehr Demokratie wagen. Auch wenn das für manchen heißen mag: Mehr Demokratie ertragen.

Wenn wir uns dies so vor Augen führen, spüren wir: Wir brauchen das Gespräch, und manchmal brauchen wir auch Geduld. Gerade in Kommunen, in denen sich alle kennen, weil sie miteinander die Schulbank gedrückt haben oder zusammen im Fußballverein gespielt haben, ist der direkte Austausch ja Alltag. Wo man sich kennt, wird es nicht so leicht geschehen, dass man den anderen wegen seiner Meinung ausschließt. In dieser Nähe kann allerdings auch eine Gefahr liegen. Kennen wir nicht alle den Satz: Eigentlich ist er doch ein ganz guter Kerl. Da wird dann die nötige politische Diskussion um des lieben Friedens willen gerne unterlassen oder eingestellt.

Umso mehr gilt es, Kommunen auch als Werkstätten der Demokratie zu begreifen, als jenen Raum, in dem wir die Debatten-Demokratie einüben. Als einen Raum, in dem wir lernen, die größere politische, kulturelle, auch religiöse und ethnische Diversität zu berücksichtigen, die sich nun einmal in unserem Land entwickelt hat. Unterschiede, Widersprüche und sogar Gegensätze werden ein Teil unserer Wirklichkeit bleiben, ob uns das gefällt oder nicht. Sie werden dieses Land weiter bestimmen. Und diese Pluralität wollen wir aushalten, dieser Pluralität gilt es sogar verstärkt Rechnung zu tragen – durch Toleranz gegenüber verschiedenen Haltungen, durch Respekt gegenüber dem Anderen, auch dem Fremden. Das gilt besonders, seitdem Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist.

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie alle wissen es: Wir treffen uns heute, am Jahrestag des Grundgesetzes, weil unsere Verfassung von der überwiegenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger anerkannt, respektiert und geachtet wird. Eine solidere Grundlage für Staat und Gesellschaft hat es in Deutschland noch nicht gegeben.

Wir treffen uns am Jahrestag des Grundgesetzes, weil wir uns einem zutiefst humanen Menschenbild verpflichtet fühlen, das ihm die Gründungsmütter und -väter aufgrund der Erfahrungen mit totalitären Regimen eingeschrieben haben – einem Menschenbild, wie es der Artikel 1 in einem einzigen knappen Satz festhält, den Sie alle auswendig kennen: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Der Staat ist um des Menschen willen da. Er findet seine Daseinsberechtigung darin, die Entfaltung der Würde des Menschen zu fördern, sie zu schützen und dazu beizutragen, dass der Einzelne durch Entfaltung seiner Persönlichkeit ein menschenwürdiges Leben führen kann. Dieses Selbstverständnis und die darauf gründende Verfassung sind die Richtschnur all unserer politischen Entscheidungen. Sie bilden die Grundlage unserer Demokratie.

Damit wir im Alltag aber tatsächlich zusammenfinden und uns mit anderen wirklich verbunden fühlen, braucht es noch mehr als die Anerkennung der großartigen Verfassung. Hilfreich für unser Zusammenleben ist etwas, das allein in unserem Innern lebt: das Selbstverständnis als Bürger. Dazu gehört die Bereitschaft, auf andere zuzugehen und Anteil zu nehmen am Geschehen im öffentlichen Raum, sei es durch den Wahlakt, durch öffentliche Kommentierung der Ereignisse oder durch aktives Tun.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es ein einigendes Band gibt zwischen all den unterschiedlichen Menschen. Es entsteht, wo Menschen sich in eben diesem Sinne als Bürger verstehen, als Bürger, die einander in einer gemeinsamen Haltung, im gemeinsamen Handeln und gemeinsamer Verantwortung verbunden sind. Wenn sich Menschen derart für ein gemeinsames Ziel einsetzen, dann tritt zurück, welcher politischen Überzeugung, welcher sozialen Schicht, welcher ethnischen Gruppe, Kultur oder Religion der Einzelne sich zuordnet.

So kann eine Tür in die Zukunft geöffnet werden: Wer sich als Bürger in der Demokratie beheimatet, wer sie wertschätzt und bereit ist, sie zu verteidigen, wird sie erhalten wollen – für sich, für die eigenen Kinder und für die nachfolgenden Generationen.

Wer so denkt, wer so fühlt, wer so handelt, der wird sich also nicht fürchten, sondern als lebensverbessernd und zukunftsbejahend das gestalten, was wir eben beschrieben haben.

Es gibt gute, sehr gute Gründe für diese offene, demokratische Bürgergesellschaft. Wir leben unter Bedingungen, die nicht per Dekret, sondern nach dem Willen der Menschen geschaffen wurden. Wir leben in einer Ordnung, die nicht auf dem Recht des Stärkeren basiert, sondern auf der Stärke und der Unabhängigkeit des Rechts. Entscheidungen erhalten in der Demokratie durch Mehrheitsbeschlüsse die größtmögliche Legitimität. Und zugleich können die Minderheiten trotz solcher Mehrheitsbeschlüsse sicher sein, dass ihre Rechte gewahrt bleiben.

In unserem Land ist Wirklichkeit geworden, wovon Menschen in vielen verschiedenen Teilen der Welt jahrhundertelang geträumt haben und viele noch immer träumen: Selbstverwirklichung in Freiheit.

Wo in der Welt existiert eigentlich ein anderes politisches System, mit dessen Hilfe die Rechte und die Sicherheit so vieler Menschen, auch ihre Chancen auf persönliche Entwicklung und Wohlstand, so weitreichend gewährleistet werden? Wo? In der Realität ist mir kein anderes bekannt. Ich kenne so etwas nur aus Träumen, Wünschen, Phantasien oder Ideologien, nicht aus der Wirklichkeit.

Ich bin Realist. Deshalb weiß ich natürlich: Auch die Demokratie ist niemals perfekt, trotz der Worte, die ich eben gesprochen habe. Sie ist nicht perfekt, und ich weiß: Auch Mehrheitsmeinungen sind gelegentlich fehlbar. Demokratie ist auch gar nicht bequem, sie ist sogar anstrengend, manchmal sehr anstrengend. Der große Vorteil der Demokratie besteht jedoch darin, dass sie beständig die Chance zur Selbstkorrektur in sich trägt, nicht zuletzt die Chance, eine neue Regierung zu wählen. Unser politischer Alltag beweist auch: Bei wichtigen politischen Themen haben sich deutsche Gesellschaft und Politik schon mehrfach für selbstkritische Fragen geöffnet – das alles gab es schon. Beispiele: Wir haben gelernt im Umgang mit der Vergangenheit, wir haben gelernt im Umgang mit den großen ökologischen Themen, und wir lernen beständig dazu im Umgang mit Migration und Integration.

Machen wir uns also immer wieder bewusst: Demokratie ist das Beste unter den politischen Modellen – im Unterschied zu anderen politischen Systemen existiert sie, weil ihre Bürger sie wollen.

Bereits zweimal in der jüngsten Geschichte unseres Landes haben die Bürger und Bürgerinnen ermächtigende Erfahrungen gemacht. Vor rund 70 Jahren ist den Deutschen Großes gelungen, als der westliche Teil Deutschlands die Möglichkeit erhielt, zur Demokratie zurückzukehren. Und vor gut 25 Jahren ist Großes gelungen, als die Demokratiebewegung im Osten die Einheit erkämpfte. Wir haben diesen Staat also mehrfach tiefgreifend verändert, wir haben ihn zu dem gemacht, was er heute ist – ein Land der Freiheit und des Rechts. Wir können uns stützen auf einen Grundvorrat an Selbstvertrauen, und diesen Grundvorrat an Selbstvertrauen, den lassen wir uns von niemandem nehmen.

Und zum Schluss: Ich wünschte mir, jede und jeder von Ihnen könnte nach unserer heutigen Begegnung die innere Gewissheit mit sich nehmen:

Wir bleiben die, die wir geworden sind: diejenigen, die sich etwas zutrauen.

Es liegt an uns, Veränderungen nicht zu fürchten, sondern sie als Aufgabe anzunehmen.

Es liegt an uns, wie wir in diesem Land zusammen leben wollen und werden.