Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 29. Mai 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat beim Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste am 29. Mai in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Wir alle können erleben, dass die Potenziale, die in uns stecken und besonders in denen, die mit einer herausragenden Begabung gesegnet sind, dass diese Potenziale eine heilende Botschaft und ein heilendes Tun beinhalten. Jeder Wissenschaftler und jeder Künstler tut das auf seine Weise. Aber er tut es fortwährend."

Bundespräsident Joachim Gauck hält bei einem Abendessen anlässlich der Jahrestag des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste eine Ansprache in Schloss Bellevue

Wir haben gemeinsam etwas Wunderbares, einen ganz besonderen Nachmittag, erlebt. Das waren Stunden gefüllt mit Würde, großartigen Texten und unglaublicher Musik. Wenn ich mich noch einmal hineinversetze in diese Minuten der Bach'schen Suite, meisterhaft gespielt von Miklós Perényi – für mich war das Ganze so etwas wie eine Meditation über das Leben. Ihnen, lieber Christoph Wolff, zu Ehren war das Stück gewählt. Sie sind der Bach-Experte, wie er uns beschrieben ist in der wunderbaren Laudatio auf Sie. Gleichzeitig herrschte dort ja gleichzeitig so etwas wie eine atemberaubende Stille. Wir spürten: Mit dieser Musikauswahl ist ein besonders schöner Bogen geschlagen, auch zu denen, die von uns gegangenen sind, so Nikolaus Harnoncourt, der mit der Barockmusik auch tief verbunden war.

Und mir ist es so denkwürdig vorgekommen, in dieser Musik nicht nur den Verlust von etwas Großem und Großartigem zu spüren, sondern auch eine Begegnung mit dem Leben – mit einer musikalischen Aufforderung, Ja zu sagen zum Leben. Das hat mich bewegt, als ich die würdigenden Worte der Nachrufe gehört habe. Innerhalb weniger Monate haben wir – hat vor allen Dingen Ihr Kreis – mehrere herausragende Menschen verloren, die Musik, Literatur und Linguistik in ganz bedeutender Weise geprägt haben. Neben Nikolaus Harnoncourt auch Pierre Boulez, Imre Kertész und Umberto Eco. Und vor wenigen Tagen, ist auch noch Fritz Stern gestorben, der hier in Deutschland so weithin bekannt war und der so wichtige Impulse gegeben hat. Alle diese Menschen vermissen wir schmerzlich. Und gleichzeitig wissen wir, dass ihre Werke überdauern werden. Und was will ein Künstler, was will ein Autor, ein Wissenschaftler mehr, als dass er Spuren hinterlässt, die für die anderen Menschen, für die Lebenden von Bedeutung sind.

Ich komme noch einmal zurück zu dem Stück von Johann Sebastian Bach und zu dem großen Geheimnis, das entstanden ist in einer Welt, wo Menschen über das eine geredet haben, und über anderes geschwiegen haben. Beide Arten des Daseins – zu reden und zu schweigen, sich mit dem Leben verbunden zu fühlen oder das Leben zu erleiden – sind in unterschiedlichen Jahrhunderten ja unterschiedlich gewesen. Und wenn es dann gelingt, durch das Wissen oder die Künste eine Brücke über die Jahrhunderte hinweg zu schlagen, dann spüren wir etwas von den Potenzialen, die in uns Menschen stecken und die gerade Sie in diesem erlauchten Gremium darstellen.

Wir alle können erleben, dass die Potenziale, die in uns stecken und besonders in denen, die mit einer herausragenden Begabung gesegnet sind, dass diese Potenziale eine heilende Botschaft und ein heilendes Tun beinhalten. Jeder Wissenschaftler und jeder Künstler tut das auf seine Weise. Aber er tut es fortwährend. Wir haben an diesem Nachmittag so etwas wie gefüllte Zeit erlebt. Und wir wundern uns vielleicht fast darüber, denn was wir in den Zeitungen lesen und im Fernsehen sehen, ist alles unruhig, ist gejagt von Ängsten. Es wird bisweilen suggeriert, als wäre Europa in schwerstem Wasser. Das Europa, das mehrere Weltkriege und große zerstörerische Auseinandersetzungen gehabt hat, hat zwar Probleme, aber es lebt heute in Frieden. Es ist nicht wirklich in schwerem Wasser. Es gibt Sorgen über Wege, die wir finden mögen oder nicht, aber die Menschen ängstigen sich, und in Deutschland ängstigen sich manche gerne. Es geht ihnen so gut, dass das uralte Wissen des Lebens bedroht ist, ja teils verloren gegangen scheint. Und indem sie die Ängste evozieren, haben sie – jedenfalls nach meiner inneren Überzeugung –, so etwas wie ein magisches Handwerkszeug, mit dem sie dem Schicksal oder Gott sagen: Schau, wie ich mich ängstige. Es ist gar nicht so gut, wie ich mich fühle. Bitte sei nicht böse, liebes Schicksal oder lieber Gott, dass es mir so gut geht. So können unsere Ängste manchmal eine Menge über Zeitläufte erzählen – ohne dass die, die sich ängstigen, die Gründe ihrer Angst kennen.

Durch eine so besondere Begegnung mit Ihnen in diesem Kreis habe ich so etwas wie eine Stärkung erhalten. Ein Präsident braucht auch manchmal Stärkung. Er hat nicht alle Kräfte aus sich selbst heraus. Und das ist wunderbar zu erleben, dass wir in diesem Land der Ängste und der Sorgen, der Schimpferei und der Unsicherheit, auch der geistigen Orientierungslosigkeit, dass wir trotz allem verbunden sind in einem Netzwerk derer, die sich dem Wesentlichen verpflichtet fühlen. Bei unterschiedlichen Wegen, auf denen wir unterwegs sind, und bei so unterschiedlichen Arten, wie Sie dem Wesentlichen auf der Spur sind, eint uns doch aber etwas: dass wir meinen, nicht nur dem Zufall dienen zu sollen auf bestmögliche Weise, sondern unser Fragen, unser Sorgen, unser Wissen und unser Können miteinander zu verbinden, um jene Spuren, von denen ich vorhin sprach, in dieser Welt einzuprägen. Die Spuren, die sie braucht, um Fortschritt, Wachstum, geistige Gesundheit und Glauben daran, dass Zukunft möglich ist, zu evozieren. Und all das empfinde ich, wenn ich Ihnen begegne. An diesem Sonntag fühle ich mich daher plötzlich beschenkt wie an Weihnachten. Und das haben Sie geschafft, als Sie miteinander an jene gedacht haben, die von uns gegangen sind.

Ich möchte mich nun an die Familien wenden, die getrauert haben im vergangen Jahr: so intensiv zu spüren, dass das Fortgehen aus dieser Welt und das Dableiben so intensiv zusammengehören, wie wir das heute in den wunderbaren Nachrufen gehört haben. Ich bin zutiefst dankbar für das, was ich gehört habe. Ich bin zutiefst dankbar, dass das Land, das ich repräsentieren darf, von Ihnen geprägt ist, von Ihrer Kraft, auch von Ihrer Hoffnung und von Ihrem Können, von Ihrem Ja zum Leben und von Ihrer Neigung, die Menschen wahrzunehmen als das, was sie sind. Sie sind unserer Mühen, unserer Liebe und unserer Zuneigung würdig. Und wenn ich unter Ihnen bin, dann spüre ich, dass jeder von Ihnen dieses Wissen in einer ganz besonderen Weise in die Welt bringt. Das ist ein großes Geschenk für mich. Und dafür danke ich Ihnen von Herzen.

Auf alles, was ich eben beschrieben habe – den Geist, dieses Miteinander von Würde, das Ja zum Leben, trotz all unserer Fragen und Zweifel, und die beständige Neigung, auf diesem Weg mit dem Wesentlichen in Verbindung zu bleiben – auf all das möchte ich mit Ihnen anstoßen.

Frau Kanzlerin, was für ein schönes Ehrenamt es doch ist, das Sie ausfüllen!