Tagung des Rates des Lutherischen Weltbundes

Schwerpunktthema: Rede

Wittenberg, , 15. Juni 2016

Der Bundespräsident hat am 15. Juni am Eröffnungsgottesdienst anlässlich der Tagung des Rates des Lutherischen Weltbundes teilgenommen. In seiner Ansprache sagte er: "Deutschland wäre ohne die Reformation ein anderes Land, ja wahrscheinlich gäbe es Deutschland ohne die Reformation so gar nicht."

Bundespräsident Joachim Gauck hält ein Grußwort beim Eröffnungsgottesdienst bei der Tagung des Rates des Lutherischen Weltbundes in der Stadtkirche St. Marien zu Wittenberg in Lutherstadt Wittenberg

Ich freue mich, heute mit Ihnen zusammen in Wittenberg zu sein. Ich freue mich, dass Sie, die Vertreter der lutherischen Kirchen aus aller Welt, hier versammelt sind. Das erfüllt mich mit großer, tiefer Dankbarkeit und auch mit einem gewissen protestantischen Stolz. Mit Dankbarkeit, dass wir hier in dieser wunderbar restaurierten Stadtkirche, der Predigtkirche Martin Luthers, in einem freien Land und in ökumenischer Verbundenheit zusammenkommen. Mit Stolz, dass Sie als Lutherischer Weltbund nun hier bei uns in Deutschland so kurz vor dem Reformationsjubiläum selbst in Augenschein nehmen, wo die Reformation ihren Ausgangspunkt nahm und entwickelt worden ist, was Sie als internationale Gemeinschaft trägt und in Ihrem Handeln weltweit bis heute verbindet.

Manchmal frage ich mich, ob Martin Luther sich der Nachhaltigkeit und Wirkungskraft seiner Impulse wirklich bewusst war, als er vor 500 Jahren hier predigte, schrieb, leidenschaftlich stritt und noch leidenschaftlicher für die gute Botschaft des Evangeliums warb. Wir hier in Deutschland nehmen das 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017, vorbereitet durch eine Reformationsdekade, – mit der uns eigenen deutschen Gründlichkeit – zum Anlass, um dem vielfältigen Erbe, das uns Martin Luther und weitere Reformatoren hinterlassen haben, nachzuspüren und zu verstehen, wie wir eigentlich geworden sind, was wir sind.

Denn Deutschland wäre ohne die Reformation ein anderes Land, ja wahrscheinlich gäbe es Deutschland ohne die Reformation so gar nicht.

Lassen Sie mich einige Beispiele benennen und mit der Sprache beginnen. Martin Luther war nicht der erste, der die Bibel auf Deutsch übersetzt hat. Seine Sprachkraft hat es aber auf einzigartige poetische wie volkstümliche Weise geschafft, dass sich die Deutschen gegenseitig im wortwörtlichen Sinne verstanden und sich mittels einer gemeinsamen Sprache als Deutsche begriffen haben, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt immens beförderte und auch in der gegenwärtigen Situation integrativ wirkt.

Hier in der Stadtkirche ist zum ersten Mal die Heilige Messe auf Deutsch gefeiert worden – ein wichtiger Schritt, auch für das Priestertum aller Gläubigen, das ich als Schritt zur Teilhabe, zur Mitbestimmung, ja hin zu der demokratischen Bürgergesellschaft deuten will, in der wir heute leben dürfen. Eine Errungenschaft der Reformation, die mir persönlich viel bedeutet, denn sie wurzelt zugleich in der Entdeckung der Würde des Individuums vor Gott, was zu großer innerer Freiheit führt. Ein unwiderstehliches Freiheitsversprechen, denn die Freiheit, von der Luther sprach, ist ein Geschenk, das an keine Vorleistung gebunden ist. Gott hat den Menschen bedingungslos angenommen. Und das macht den Menschen frei, nicht nur um sich selbst zu kreisen oder sich abhängig zu machen von kirchlicher Autorität oder irgendeiner weltlichen Macht, sondern frei zu sein, eigenständig zu denken, zu glauben und vor allem auch verantwortlich zu handeln. Und wer dieses letzte vergisst, hat Freiheit in ihrer Tiefe nicht verstanden – eine Tradition übrigens, die hier auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine besondere Relevanz entfaltet hat. Ich weiß, dass sie das auch an anderen Stellen tut.

Zurück zu Martin Luther: Er hielt hier in dieser Kirche, die später so berühmt gewordenen Invokavit-Predigten. Er nahm Gefahr für Leib und Leben auf sich, als er 1522 von der Wartburg hierher zurückkehrte, weil es ihm um den gesellschaftlichen Frieden ging. Die Fachleute wissen, dass er damals hier bedroht war. Und noch einmal zurück zu 1989, als auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine Bewegung entstand, die später zu einer Friedlichen Revolution wurde: Da waren es vor allem protestantische Christen, die im ganzen Land aktiv wurden – übrigens aus einer Minderheitensituation heraus, es war keine Volkskirche mehr. Nun war es eine Minderheitenkirche, aus der diese Kräfte hervorgingen.

Dass sich die Reformation in ihrem 500. Jahr eine Weltbürgerin nennen kann, bezeugt, dass Luthers Evangelium der Freiheit gegenwärtig bleibt. Der Lutherische Weltbund ist dafür ein eindrucksvoller Beleg: 145 Kirchen in 98 Ländern und 72 Millionen Christen gehören ihm an.

Die Gründung des Lutherischen Weltbundes stand 1947 noch ganz im Zeichen des Krieges und seiner Folgen. Not und Verzweiflung, materielle und moralische Hypotheken belasteten die Gemeinschaft, als sie sich vor bald siebzig Jahren im schwedischen Lund zusammenfand.

Damals waren Zerschlagene zu heilen, wie es bei Lukas heißt. Praktische und geistliche Nothilfe wurde so eine tragende Säule der Arbeit des Weltbundes, und sie ist es bis heute geblieben. Dass der Weltbund inzwischen weltweit 1,3 Millionen Flüchtlinge betreut und zum unverzichtbaren Partner des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen geworden ist, etwa im Nordirak, in Zentralafrika, im Sudan und in Burundi, das alles beeindruckt mich sehr.

Ich möchte Ihnen für diese Arbeit von Herzen danken. Ich weiß, wie drängend die Not und wie wichtig die Hilfe ist. Das hat mir spätestens mein Besuch in einem jordanischen Flüchtlingslager gezeigt.

Tätige Nächstenliebe verlangt danach, sich mit anderen gegen das Elend von Krieg und Gewalt zu verbünden, mit Christen anderer Konfessionen zumal, die denselben Auftrag erfüllen wollen wie wir.

Der Lutherische Weltbund ist der Einheit der Kirche verpflichtet geblieben. Er führt, zu meiner Freude, den Dialog mit der Katholischen und der Orthodoxen Kirche ebenso wie mit den Anglikanern, den Reformierten und anderen Christen. Und er betrachtet die Ökumene ebenso als Auftrag wie den interreligiösen Dialog.

Auch dafür ist dem Weltbund und damit Ihnen zu danken. Das offene Gespräch miteinander zu pflegen, heißt doch, die Vielfältigkeit des Menschseins anzuerkennen und der Intoleranz entgegenzuwirken. Einen besseren christlichen Dienst kann ich mir gegenwärtig kaum denken.

Zu diesem Gespräch haben Sie sich als Rat des Lutherischen Weltbundes in diesen Tagen hier versammelt. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht immer einfach ist, bei so vielen unterschiedlichen Kulturen, Nationen und Generationen, die bei Ihnen im Rat vertreten sind, zu einem Konsens zu kommen. Da gilt es, getragen von der Liebe für diese Eine Welt, einander gut zuzuhören und auch auf einander zuzugehen. Genau das bedeutet es für mich, in der heutigen Zeit reformatorisch zu handeln und zu leben.

Möge der Geist des Ursprungs an diesem Ort des Wirkens Martin Luthers in diesen Tagen besonders gegenwärtig sein. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen fruchtbare Beratungen.