Eröffnung des Forums "Herausforderungen der Demokratie"

Schwerpunktthema: Rede

Santiago de Chile/Chile, , 12. Juli 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 12. Juli bei der Eröffnung des Forums "Herausforderungen der Demokratie" anlässlich des Staatsbesuchs in der Republik Chile eine Rede gehalten: "Eine offene und freiheitlich-demokratisch verfasste Gesellschaft ist besser als jede andere im Stande, mit den Herausforderungen einer komplexer werdenden Welt umzugehen. Weil sie mit fairem Interessenausgleich und der Kraft einer lebendigen Zivilgesellschaft Mitsprache ermöglicht, weil sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt, weil sie schlicht bessere Lösungen zu finden vermag."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede zur Eröffnung der Konferenz 'Herausforderung der Demokratie' anlässlich seines Staatsbesuchs in der Republik Chile

Im September 1939 erreichte das französische Schiff Winnipeg die Hafenstadt Valparaíso. An Bord: Gut zweitausend Menschen, die nach Francos Sieg aus Spanien geflüchtet waren und nun ihre Hoffnungen und Träume mit nach Chile brachten. Zweitausend Menschen und darunter ein späterer chilenischer Literaturnobelpreisträger, der Mann, der die Überfahrt organisiert hatte: Pablo Neruda. Aus Santiago waren ganze Familien nach Valparaíso gekommen, um das Schiff bei seiner Ankunft zu begrüßen und den Flüchtlingen ihre Gastfreundschaft anzubieten.

Es ist eine Episode aus der chilenischen Geschichte, die mich sehr beeindruckt. Sie erzählt von tiefer Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, wie sie sich in der Geschichte der Völker eben immer wieder zeigt. Wer damals, 1939, aus der Alten Welt kam, fand hier in Chile die ersehnte Freiheit und Sicherheit.

Während der dunklen Jahre der Herrschaft Augusto Pinochets verkehrten sich die Verhältnisse. Da wurde Europa für viele Chilenen der Kontinent der Zuflucht und der Hoffnung – der Ort, an dem sie das Banner des Widerstands gegen die Unterdrückung in ihrem Heimatland vor den Augen der Welt hochhalten konnten. Einander in Zeiten der Not verlässlich ein sicherer Hafen zu sein, das ist eine sichere Basis für das Vertrauen, das sich zwischen uns entwickelt hat.

So spüren wir heute zwischen Chile und Deutschland, ja zwischen Chile und Europa jenes besondere Band, das Demokratien miteinander verbindet. Und so freue ich mich sehr, dass wir hier gemeinsam einer der wichtigen Fragen unserer Zeit nachgehen können – nämlich welchen Hürden und Herausforderungen die Demokratie heute gegenübersteht. Natürlich weiß ich, dass sich in Lateinamerika einiges anders darstellt als in Europa. Lassen Sie mich also, wie es nahe liegt, die Lage der Demokratie mit einem europäischen Blick und auch mit einem besonderen Blick auf Europa schildern.

Das Ende der Geschichte, 1992 von Francis Fukuyama proklamiert, ist bekanntlich ausgeblieben – und damit der erhoffte weitere Siegeszug der liberalen Demokratie. Stattdessen ist die Freiheit heutzutage mancherorts bedroht. Es scheint, als stagniere die Bewegung hin zu mehr Demokratie. In manchen Teilen der Welt ist die Akzeptanz der Demokratie als Regierungsform so niedrig wie seit 1989 nicht mehr – und mit ihr die Akzeptanz einer internationalen Ordnung, die auf demokratischen Werten und Normen beruht. Ist es nun deshalb richtig, von einer Krise der Demokratie zu sprechen, wie wir in diesen Tagen – in Europa, aber auch in Lateinamerika – mancherorts hören?

Nun ist die Rede von der Krise der Demokratie so alt wie die Demokratie selbst. Demokratien haben immer wieder mit Bedrohungen umgehen müssen – von rechts, von links, durch theokratische Herrschaftsansprüche, durch Autokraten, Traditionalisten, Oligarchen und immer wieder von äußeren Feinden. Letztere sind meist autoritär geführte Staaten und Diktaturen gewesen. Und auch wenn ich mir das Wort von der Krise nicht zu Eigen machen möchte, und auch wenn ich die Unterschiede zwischen den Weltregionen sehr wohl im Blick habe, so finde ich doch, dass die Herausforderungen für die Demokratie im Jahre 2016 besonders vielschichtig sind.

Die äußere Bedrohung, der sich vor allem die Demokratien des Westens heute gegenübersehen, besteht zum einen in der Kampfansage einer extremen islamistischen Ideologie an die freiheitlichen Werte und an das Prinzip der pluralistischen Gesellschaft. Die von Organisationen wie dem sogenannten Islamischen Staat orchestrierten oder auch von Einzeltätern verübten Terroranschläge zielen darauf, das Sicherheitsgefühl der Menschen zu zerstören und ganze Gesellschaften zu verunsichern. Und im notwendigen Kampf gegen Terroristen gelingt es nicht leicht, das fein austarierte Gleichgewicht zwischen Freiheit und öffentlicher Sicherheit zu wahren.

Eine äußere Bedrohung liegt zum anderen in einem auftrumpfenden Autoritarismus, der lockende Effizienzversprechen gibt und auf den abgrenzenden Stolz des Nationalismus setzt. Dabei kehrt unter Umständen auch imperiales Denken und Handeln zurück – in Europa mussten wir gar eine völkerrechtswidrige Annexion erleben, die die Friedensordnung unseres Kontinents in Frage stellt. Und im asiatischen Raum ist das gegenwärtige Auftreten Chinas nicht nur für die Anrainerstaaten Grund zur Sorge.

Die Renaissance des Autoritarismus spielt sich aber, wie wir wissen, nicht nur außerhalb der freiheitlichen Gesellschaften des Westens ab. Er beeinflusst und bestärkt auch jene populistischen Kräfte, die eine weit verbreitete Sehnsucht nach nationaler Autonomie bedienen und vorhandene Ressentiments nutzen, um Stimmung etwa gegen Minderheiten zu machen. Die Meinungen, die von ihrer eigenen abweichen, als Lügen verunglimpfen und die eine komplexe Wirklichkeit so lange und so rücksichtlos vereinfachen, bis sie mit ihrem persönlichen Weltbild kompatibel ist. Und wenn die Populisten dann die Macht errungen haben, kann die Versuchung unwiderstehlich sein, die eigene Macht auszubauen – auf Kosten von Freiheitsrechten.

Wer die sogenannte illiberale Demokratie für akzeptabel hält, dem ist zu erwidern: Eine Demokratie ist – sehen wir einmal von begrenzten Transformationsphasen ab – liberal oder sie ist gar nicht. Es gibt keine Demokratie à la carte. Denn eine Demokratie muss sich an der Achtung grundlegender Werte messen lassen – den unveräußerlichen Menschenrechten und der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität.

Woher aber kommt heute das Bedürfnis nach Abgrenzung und Abschottung? Mir scheint eine der wichtigsten Quellen die Furcht vor den Kräften der Globalisierung zu sein. In der Angst vor einer Entgrenzung, die den Verlust der eigenen Identität und ökonomische Einbußen für die Bürger nach sich ziehen könnte.

Das alles hat übrigens auch eine Rolle gespielt bei der bedauerlichen, aber doch eben urdemokratischen Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen. Die Sehnsucht der Menschen nach dem Eigenen gilt es deshalb überall dort zu erkennen, wo stärkere Zusammenarbeit und Integration über Grenzen hinweg vereinbart werden – so wie bei uns in Europa oder bei Ihnen hier in Südamerika.

Die Globalisierung, das dürfen wir angesichts der kritischen Einwände dieser Tage nicht vergessen, hat Möglichkeiten geschaffen, die wir einst doch kaum erträumen konnten – vor allem im Handel, in der Kommunikation und im Transport, aber auch in Bildung und Wissenschaft und in der ganzen internationalen Zusammenarbeit. Sie hat dazu beigetragen, dass sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte sehr viele Menschen auf der Welt aus der Armut befreien konnten. Und das sage ich in dem Wissen und mit dem unguten Gefühl, dass in verschiedenen Regionen der Welt, besonders hier in Lateinamerika, die soziale Ungleichheit zum Teil sogar noch wächst. Diese Entwicklung muss man besonders ernst nehmen. Aber wir müssen zugleich die Vorzüge der Globalisierung für uns und unsere Länder anerkennen und nutzen.

Trotz aller Herausforderungen, trotz eines schwieriger werdenden Umfeldes: Die Demokratie ist keineswegs auf dem Rückzug, und schon gar nicht überall. Es genügt ein Blick auf Ihr Land, auf Ihren Kontinent: In Lateinamerika hat die Demokratie eine Wiedergeburt erlebt, nachdem viele Gesellschaften in den 1970er und 1980er Jahren Gewalt und Unterdrückung erleben mussten. Natürlich gibt es heute auch in manchen Staaten Lateinamerikas Krisenerscheinungen, das ist ja nicht zu übersehen. Der Weg Chiles ist gleichwohl beeindruckend – politisch wie ökonomisch.

Dass der Diktator Augusto Pinochet, der den ersten 11. September über Chile gebracht hatte, ausgerechnet mit einem Plebiszit entmachtet wurde, das ist gewiss eine Ironie der Geschichte. Wie in Ostdeutschland, wo ich aufgewachsen bin, ist es in Chile gelungen, eine autoritäre Herrschaft ohne Blutvergießen zu beenden. Das ist eine kaum zu überschätzende, historische Leistung. Ihr Land ist seitdem wieder das, was es vor 1973 war – eine Demokratie. Ich weiß natürlich um den eingeschränkten Handlungsspielraum der Demokraten nach dem Ende der Militärdiktatur. Übrigens nicht nur hier, sondern auch in anderen Teilen der Welt. Gerade deshalb aber muss üblicherweise dieser Phase der Transition, die in Chile zweifellos in vielem geglückt ist, eine Transformation folgen – und durch mutige weitere Reformen müssen jene Schranken fallen, die zuvor einer wirklichen Erneuerung im Weg gestanden hatten. Ich spreche von der Hoffnung auf eine Entwicklung, die das Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie genauso wie das Vertrauen der Bürger zu sich selbst, zur eigenen Gestaltungskraft und letztlich zu ihrem Staat zu vertiefen vermag.

Frau Präsidentin,

ich drücke Ihnen meinen Respekt dafür aus, dass Sie in diesem Geiste politisch wirken und dass Sie dort ansetzen, wo die Weichen für die Zukunft einer Gesellschaft gestellt werden. Denn Armut und fehlende Aufstiegschancen untergraben auf Dauer die Demokratie. Auch leidet deren Glaubwürdigkeit, wenn manche bessere Chancen haben als andere, ihre Interessen durchzusetzen. Der Zugang zu Bildung für alle und die Teilhabe am Arbeitsleben sind unverzichtbare Voraussetzungen einer gedeihlichen Entwicklung.

Die Bürgerinnen und Bürger an einer neuen Verfassung für Ihr Land zu beteiligen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Partizipation und Transparenz und damit auch zu einer stärkeren Bindung zwischen Bürgern und ihrem Staat. Mit einer neuen Verfassung ist stets die Frage verbunden, für welches Entwicklungsmodell man sich entscheidet. Die Chileninnen und Chilenen haben damit die Chance, über die Grundlagen ihrer Zukunft zu entscheiden – auch wenn dieser Prozess sicher Geduld und Ausdauer brauchen wird. Ich sehe und höre, dass Sie da ein sehr ambitioniertes Programm haben, und wünsche Ihnen viel Erfolg damit. Die Menschen zu Wort kommen zu lassen, ihnen aufmerksam zuzuhören, das kann auch der chilenischen Zivilgesellschaft weitere neue, wichtige Impulse geben.

Die chilenische Zivilgesellschaft hat in den vergangenen drei Jahrzehnten bereits einiges von jenem öffentlichen Raum zurückerobert, den ihr die Militärdiktatur genommen hatte. Ich bin mir sicher, dass sie auch Korrektiv sein kann. Wie die Zivilgesellschaft zum Korrektiv wird, haben wir in Deutschland zum Beispiel bei einem ganz konkreten Thema erlebt. Ich nenne die Umweltbewegung. Da ist es gelungen, positive Impulse aus der Zivilgesellschaft politikfähig zu machen. Die Akteure der Umweltbewegung sind Gesprächspartner geworden, Ratgeber, und schließlich Mitgestalter in Politik und Wirtschaft.

Der Zustand der Zivilgesellschaft sagt übrigens viel über eine Gesellschaft insgesamt aus: Wo sie schwach ist, da ist in aller Regel auch die Demokratie schwach. Wo aber der Staat Handlungsspielräume erweitert statt einengt, wo er Bürgerinnen und Bürger zur Mitgestaltung des Gemeinwesens einlädt, dort wird Vertrauen wachsen.

Ein schönes Beispiel für einen solchen Prozess sind Stiftungen. Ich freue mich sehr, dass diese Konferenz auf gemeinsame Initiative von Ihnen, Frau Präsidentin, und den deutschen politischen Stiftungen organisiert wird. Und dass damit ein Forum geschaffen wird – für den offenen Austausch zwischen Wissenschaftlern und Journalisten, Menschenrechtsvertretern und Vertretern staatlicher Institutionen aus beiden Ländern.

Genau das zeichnet ja die Arbeit der politischen Stiftungen aus – sie regen zum Dialog an, sie knüpfen ein breites Netz an Kontakten in die Zivilgesellschaft des Gastlandes und sie fördern und stärken Demokratien. Für diese Arbeit, liebe Vertreterinnen und Vertreter der deutschen politischen Stiftungen, möchte ich mich bei Ihnen heute und hier herzlich bedanken – und gleichermaßen bei all Ihren Kolleginnen und Kollegen in vielen Ländern der Welt

Für Ihre Tätigkeit finden Sie in Chile sehr gute Bedingungen vor. Hier können Sie und Ihre Partner vor Ort frei agieren. Leider – wir wissen es – ist das nicht in allen Teilen der Welt so. Die Arbeitsmöglichkeiten der Stiftungen werden in einigen Ländern zunehmend eingeschränkt. Die Mitarbeiter werden dort gegängelt. Oder sie werden gar als ausländische Agenten diffamiert oder unter Vorwänden des Landes verwiesen, wenn sie kritisches Denken wagen. Wir, die demokratischen Staaten, müssen uns dagegen zur Wehr setzen und uns dort einsetzen, wo Handlungsspielräume für Stiftungen eingeengt oder gar verschlossen werden.

Die demokratische Entwicklung eines Landes hat viele Quellen. Eine weitere ist die Fähigkeit zum Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Für Deutschland gilt: Es war die Ablehnung von Demokratie und westlichen Werten – ja, die Auflehnung dagegen –, die mein Land in die Katastrophe des Nationalsozialismus und das Menschheitsverbrechen des Holocaust führte und die Welt schließlich in den schlimmsten aller Kriege stürzte. Es dauerte lange, bis Verdrängung und Verleugnung von Schuld einem offenen Umgang mit der Vergangenheit wichen. Dass dies in Westdeutschland gelang, veränderte nachhaltig die Identität des Landes und es sollte zudem später die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur, jener in Ostdeutschland, erleichtern.

Wir haben es in Deutschland erfahren – die Erfahrungen und Prägungen einer Diktatur wirken lange nach, in Einstellungen, in Denkmustern und auch in Haltungen. Jenen, die einst unterdrückt wurden, fällt es manchmal schwerer, von ihren Rechten Gebrauch zu machen, weil sie die Angst eben nie verlassen hat. Auch deshalb ist es wichtig, eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte zu führen. Die Erfahrungen der Opfer einer Gewaltherrschaft dürfen nicht ungehört bleiben, individuelle und kollektive Traumata nicht gleichsam eingeschlossen und eingefroren weiterleben.

In Chile waren besonders die Hinterbliebenen der Opfer betroffen, die das Regime entführen, inhaftieren, foltern oder ermorden ließ. Jegliche Spur der Geschehnisse wurde verwischt. Das Leid der Opfer sollte in Vergessenheit geraten.

Die Suche nach der Wahrheit ist aber für alle Menschen zentral, ob für Folteropfer oder Hinterbliebene. Nur wenn die Wahrheit ans Licht kommt, können Wunden heilen, beim Einzelnen wie in der Gesellschaft.

Ariel Dorfman, der chilenische Autor und Aktivist, schrieb im Nachwort seines Stückes Der Tod und das Mädchen folgendes:

Es […] ist heute mehr denn je mein Glaube, dass eine junge Demokratie nur durch den für alle sichtbaren Ausdruck der großen Tragödien und Schmerzen und Hoffnungen, die ihr zugrunde liegen, gestärkt werden kann; denn nicht durch das Verbergen der Schäden, die wir uns selbst zugefügt haben, können wir ihre Wiederholung verhindern.

Wie kann das gelingen? Es gelingt vor allem durch die Fähigkeit zur Selbstkritik – nicht zuletzt diese Qualität ist es, die Demokratien ermöglicht, sich zu erneuern und sich weiterzuentwickeln. Denn natürlich machen auch demokratisch verfasste Staaten Fehler. Und manchmal laden auch sie Schuld auf sich. Das sehen wir auch, wenn wir auf deutsche Spuren in Chile blicken. Wenn z.B. deutsche Diplomaten jahrelang wegschauten, wenn in der deutschen Sekte Colonia Dignidad Menschen entrechtet, brutal gefoltert, unterdrückt wurden, und dann gar der chilenische Geheimdienst dort foltern und morden konnte, so ist unser Erschrecken groß – auch darüber, was Demokraten zu verdrängen und zu verschweigen vermochten.

Unser Außenminister tut gegenwärtig genau das, was richtig und notwendig ist: die deutschen Akten zu diesem Fall frühzeitig zugänglich zu machen und so die offene Aufarbeitung zu fördern. Die wichtigeren Akten über die Diktatur sind allerdings nicht die deutschen, sondern die chilenischen. Hier in Ihrem Land befindet sich das Herrschaftswissen der Diktatur. Und dieses Herrschaftswissen sollte in einer Demokratie in die Herzen und Köpfe der Opfer gelangen.

In ganz besonderer Weise haben die allermeisten Europäer – wie auch ich selber – eine kostbare, auf Erfahrung gegründete Einsicht gewonnen: Eine offene und freiheitlich-demokratisch verfasste Gesellschaft ist besser als jede andere im Stande, mit den Herausforderungen einer komplexer werdenden Welt umzugehen. Weil sie mit fairem Interessenausgleich und der Kraft einer lebendigen Zivilgesellschaft Mitsprache ermöglicht, weil sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt, weil sie schlicht bessere Lösungen zu finden vermag. Sie ist zudem ein lernfähiges System, sie ist somit – zugespitzt formuliert – zukunftssicher.

Die einfachen Rezepte der neuen Autoritären mögen heute zunächst für manche vielversprechend klingen, doch sie legen keine nachhaltigen Grundlagen für das Morgen. Eine Gesellschaft, die im 21. Jahrhundert in Kompromissen nur Schwäche erkennen kann, ist weder lern- noch ist sie zukunftsfähig.

In der Demokratie gehen politischer und gesellschaftlicher Konsens aus Debatte und aus Streit hervor. Darin liegt eine der wesentlichen Stärken der Demokratie. Aller Diskurs muss aber eingebettet sein in eine zivilisierte politische Kultur. Und diese Kultur muss aktiv verteidigt und gefördert werden. Hier sind wir alle gefordert, vom Bürger bis zum Präsidenten.

Zu solch einem sorgsamen Umgang mit unserer Demokratie gehört auch das vertrauensvolle Verhältnis der Bürger zu ihren Repräsentanten. Es darf nicht zu einer solchen Distanz zwischen Politik und Bevölkerung kommen, die zuerst Sprachlosigkeit und dann gegenseitige Entfremdung bewirkt.

Gerade wenn wir uns das immer wieder bewusst machen, haben wir als Demokraten durchaus Grund zum Optimismus. Ja, wir erleben auch Rückschläge. Wir müssen sie verstehen und die richtigen Schlüsse aus ihnen ziehen. Doch sie sind kein Grund, ein Grablied auf die Demokratie anzustimmen. Würden wir uns der Schwarzseherei hingeben, dann läge darin die Gefahr einer selbsterfüllenden, womöglich gar selbstzerstörerischen Prophezeiung.

Die freiheitliche Demokratie ist und bleibt die größte Hoffnung für Wohlstand und Gerechtigkeit – auch in einer Welt der Krisen und der Kriege. Das Bekenntnis zur Demokratie und zu den Menschenrechten verbindet unsere Länder. Lassen Sie uns also gemeinsam weltweit für die Demokratie werben und für sie einstehen. Und lassen Sie uns weiterhin gemeinsam an einer kooperativen, wertebasierten und regelgeleiteten Weltordnung mitwirken. Zusammen, gemeinsam, dauerhaft und verlässlich.

Vielen Dank.