Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht – Entlassung und Ehrung von Herbert Landau sowie Ernennung von Christine Langenfeld

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 20. Juli 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 20. Juli anlässlich des Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht eine Rede gehalten: "Demokratische Rechtsstaaten leben von einer unabhängigen Justiz, davon, dass Urteile respektiert und befolgt werden, durch alle Bürgerinnen und Bürger, die politisch Verantwortlichen und die übrigen Verfassungsinstitutionen."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede anlässlich des Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht im Langhanssaal in Schloss Bellevue

Seien Sie alle herzlich willkommen, hier im Schloss Bellevue.

Wir treffen uns zu einem Richterwechsel, und offensichtlich kommen Richterwechsel immer überraschend – ähnlich wie Weihnachten! Auch von Ihrem Ruhestand, lieber Herr Landau, war die Politik offenkundig ein wenig überrascht, deshalb mussten Sie länger im Amt bleiben. Aber heute ist es nun soweit, und ich kann Sie in Ihren wohlverdienten Ruhestand entlassen.

Ich möchte diesen Richterwechsel zum Anlass nehmen, auf etwas hinzuweisen, das gerade in dieser Zeit und in diesen Tagen einer besonderen Betonung bedarf: eine unabhängige Justiz als Conditio sine qua non eines Rechtsstaates. Dass unabhängige Richter die Handlungen der staatlichen Gewalt kontrollieren und gegebenenfalls in rechtliche Schranken weisen, das ist eine unverzichtbare zivilisatorische Errungenschaft. So sieht es jedenfalls dieses Deutschland. Deshalb können wir es nicht schweigend hinnehmen, wenn in der Welt, ob nah oder fern, die Wächterrolle der Justiz in Frage gestellt wird und sich die Exekutive und Legislative den Kontrollen der Gerichte entziehen wollen.

Das heißt nun nicht, dass Kritik an der Justiz unerhört wäre. Als Theologe muss ich hinzufügen, auch die Justiz gehört zu dem Bereich der gefallenen Welt, ähnlich wie die Kirche. Deshalb darf auch hier Kritik walten, und das Bundesverfassungsgericht muss sich dann erfahrungsgemäß auch solcher Kritik an seinen Urteilen stellen. Sie alle, liebe Mitglieder des Verfassungsgerichts, haben das schon erlebt. Kritik an Gerichtsurteilen gehört zum Rechtsstaat und zu unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung, zum Diskurs in der Gesellschaft. Es hat allerdings eine andere Qualität, wenn die Zuständigkeiten und Kontrollkompetenzen der Gerichte, zumal der Verfassungsgerichte, beschnitten werden sollen oder übergangen werden. Demokratische Rechtsstaaten leben von einer unabhängigen Justiz, davon, dass Urteile respektiert und befolgt werden, durch alle Bürgerinnen und Bürger, die politisch Verantwortlichen und die übrigen Verfassungsinstitutionen. Rechtstreue und Rechtsgehorsam sind ein fragiles Gut – gerade die Verfassungsgerichtsbarkeit, die kaum Möglichkeiten hat, Urteile zu vollstrecken, ist auf diese Rechtstreue angewiesen. Und eine unabhängige Justiz braucht unabhängige Richterpersönlichkeiten. Womit ich – nach diesen allgemeinen Bemerkungen – zu Ihnen, lieber Herr Landau, zurückkommen möchte.

Als ungewöhnlicher, ja exotischer Neuling wurden Sie damals in den Medien vorgestellt, als der Bundesrat Sie im Jahre 2005 zum Richter des Bundesverfassungsgerichts wählte. Ihre Vita erregt bis heute Aufsehen, auch bei mir: Vom Bäcker zum Top-Richter, lautete eine der Schlagzeilen. Es mag sein, dass Ihnen diese Verkürzung Ihres Lebensweges nicht liegt. Aber es ist doch bemerkenswert, dass ein Siegerländer Bäckerjunge vom Dorf erst den Weg in die handwerkliche Familientradition einschlägt, dann als Sozialarbeiter tätig ist und mit 26 Jahren, verheiratet und mit zwei kleinen Kindern, ein rechtswissenschaftliches Studium anschließt. Dieses Fundament, auf dem Ihre beeindruckende Laufbahn in der Justiz und der Justizpolitik aufbaut, kann den jungen Menschen Mut machen und sie anspornen, ihre Talente und Fähigkeiten zu entfalten. Das ist das, was mir so besonders gefällt, denn ich sehe mich auch als einen Ermutiger, als einen derjenigen, die sich in der Gesellschaft gerade jenen zuwenden, die noch nicht ganz glauben können, welche Potenziale in ihnen stecken und welche Möglichkeiten ihnen unsere Gesellschaft bietet. Deshalb erzähle ich solche Geschichten gerne.

Ihre eigene Antriebsfeder war, so haben Sie es selbst beschrieben, lieber Herr Landau, die Chance, ihr eigenes Leben zu gestalten und zugleich an gesellschaftlichen Entwicklungen mitzuwirken.

Dazu hatten Sie Gelegenheit – in historisch bewegenden Zeiten, in denen Sie als Vertreter der hessischen Justiz an den Verhandlungen zur Deutschen Einheit in einer Bonner Justizarbeitsgruppe den Einigungsvertrag mit vorbereiteten. Daran schloss sich die Organisation und Koordination der hessischen Aufbauhilfe für die Justiz in Thüringen an. Für Ihre Beiträge, das Grundgesetz und den demokratischen Rechts- und Sozialstaat für alle Deutschen zu verwirklichen, möchte ich Ihnen heute von Herzen danken – auch stellvertretend für alle, die sich damals engagiert haben.

Individuelle Freiheit ist für Sie untrennbar verbunden mit Verantwortung und sozialem Pflichtbewusstsein. Von Herzen stimme ich Ihrer Aussage zu, Freiheit, die ohne Verantwortung gelebt wird, zerstört die Gemeinschaft – ein Zitat, in dem ich auch meine Vorstellung von Freiheit ausgedrückt sehe. Diese Erkenntnis und Ihr christlicher Glaube haben Sie bereits in jungen Jahren angespornt, sich in der Kirche sozial zu engagieren. Später als Sozialarbeiter haben Sie mit verurteilten Straftätern gearbeitet. Sie kennen Strafvollzug und auch Resozialisierungsbemühungen und damit eine Lebenswirklichkeit, die noch so gründliche theoretische Studien nie ganz ausleuchten können.

Soziale Beweggründe waren es dann auch, die mit dazu führten, dass Ihr Werdegang als Jurist sich in weiten Teilen auf dem Gebiet des Strafrechts vollzog. Sie waren Strafrichter, leitender Oberstaatsanwalt und schließlich drei Jahre Revisionsrichter im 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs. Als Staatssekretär im Hessischen Ministerium der Justiz starteten Sie zusammen mit Sachsen-Anhalt ein parteiübergreifendes Modellprojekt zur Nachbetreuung entlassener Gewalt- und Sexualstraftäter.

Wie soll der Staat mit Menschen umgehen, die an den Rand der Gesellschaft geraten sind und die Grenzen des Rechts überschritten haben? Wie können Straftäter in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden? Wie kann den Opfern geholfen werden? Das waren für Sie nie nur juristische oder rechtspolitische, sondern zugleich auch humanitäre Fragen. Sich einzulassen auf die Menschen, ihrer Persönlichkeit gerecht zu werden, ja einen tiefen Einblick in die Seele, in das Gute und Böse zu nehmen, das gehörte für Sie zum richterlichen Selbstverständnis.

Im Strafrecht haben Sie auch als Berichterstatter wichtige Entscheidungen vorbereitet: das Urteil zur Verständigung im Strafprozess etwa, das den sogenannten Deal in engen Grenzen gestattet. Oder die Entscheidung zur Sicherungsverwahrung, nach der der Gesetzgeber den Umgang mit gefährlichen Sexual- und Gewaltstraftätern neu gestalten musste. Mitgeprägt haben Sie auch die Rechtsprechung zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen und zu den Grundsätzen des Berufsbeamtentums. Insgesamt haben sie als Berichterstatter mehr als 4.200 Verfahren vorbereitet. Und diese Zahl ist deshalb erwähnenswert, weil sie verdeutlicht, welches Pensum ein Bundesverfassungsrichter zu erledigen hat. Ich wünschte, die Öffentlichkeit wüsste mehr davon.

In Ihren Ämtern wurde zugleich immer auch der Mensch Herbert Landau sichtbar. Unabhängigkeit, Bodenständigkeit, Standfestigkeit, klare Positionen – das sind Eigenschaften, die diejenigen an Ihnen schätzen, die Sie kennen und die mit Ihnen zusammenarbeiten. Für manche mag das durchaus unbequem gewesen sein – für Prozessbevollmächtigte vielleicht, von denen Sie in mündlichen Verhandlungen Antworten erwarteten, die der Siegerländer Maxime folgen: Ein Wort ist bei uns ein Wort. Wir reden nicht lange drum herum. Ihnen ging es darum, einer Sache auf den Grund zu gehen, ein Argument auszuleuchten, Unwichtiges vom Wichtigen zu unterscheiden.

Unter der rauen Schale des Herbert Landau gibt es einen weichen Kern – da begegnet uns der Mozartliebhaber, der Familienmensch, für den seine Frau, seine Kinder und Enkelkinder besonders wichtig sind. Der Herbert Landau, der geprägt ist durch eine tiefe Humanität und Menschenliebe! Ihr älterer Bruder hat diesen Wesenszug gewürdigt, als er sich Ihnen zu Ehren im liber amicorum mit dem 1. Korinther 13 auseinandersetzte.

Lieber Herr Landau,

Ihre Amtszeit in Karlsruhe endet. Aber Sie werden Ihr Engagement für Staat und Gesellschaft nicht einstellen, sondern sich ehrenamtlich einbringen, um die Prinzipien und Freiheiten des Grundgesetzes weiter mit Leben zu erfüllen.

Lieber Herr Landau, Sie haben sich um unser Land in besonderem Maße verdient gemacht. Dafür danke ich Ihnen – als Präsident wie auch persönlich – von Herzen. Es ist mir eine Freude, Ihnen als Zeichen der Anerkennung jetzt das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen.

Liebe Frau Langenfeld,

ich freue mich, Sie wiederzusehen und meine Freude ist besonders groß, weil ich Sie heute zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts ernennen werde. Am 8. Juli hat der Bundesrat Sie in das Amt gewählt. Meinen herzlichen Glückwunsch zu dieser gleichermaßen ehrenvollen wie anspruchsvollen Aufgabe.

Als Staatsrechtslehrerin befassen Sie sich seit Jahrzehnten mit dem Verfassungsstaat und dem Verfassungsleben. Schon von Beginn Ihrer akademischen Laufbahn an haben Sie nicht nur das deutsche Recht in den Blick genommen, sondern über die Grenzen geschaut. So führte Sie das Studium der Rechtswissenschaften unter anderem nach Frankreich. Ihre wissenschaftliche Laufbahn war durch das Europarecht geprägt ebenso wie durch aktuelle gesellschafts- und rechtspolitische Fragen. Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht lautet der Titel Ihrer Doktorarbeit. Und im Jahre 2000 habilitierten Sie sich mit einer Arbeit zur Integration und kulturellen Identität zugewanderter Minderheiten – ein Thema, das uns auch heutzutage intensiv beschäftigt und uns verschiedentlich zusammengeführt hat. Weitere Schwerpunkte Ihrer Forschung sind Bildungs-, Religionsfragen und der gesellschaftliche Zusammenhalt. Seit 2000 lehren und forschen Sie dazu als Professorin für öffentliches Recht an der Georg-August-Universität Göttingen. 2012 übernahmen Sie den Vorsitz des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration – ein Amt, das uns bei Veranstaltungen, beim Gedankenaustausch zu Fragen der Zuwanderung und der Flüchtlingspolitik zusammenkommen ließ.

Künftig werden Sie mit Ihrem Sachverstand und Ihrer wissenschaftlichen Expertise das Bundesverfassungsgericht bereichern.

Frau Langenfeld, meinen herzlichen Glückwunsch! In Karlsruhe warten viele neue Herausforderungen auf Sie. Ich weiß: Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen werden Sie gut aufnehmen und Ihnen den Start leicht machen. Für den neuen Lebensabschnitt, der heute für Sie beginnt, wünsche ich Ihnen alles Gute und Gottes Segen.