Gedenken an die Opfer des Amoklaufs von München

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 31. Juli 2016

Der Bundespräsident hat am 31. Juli beim Trauerakt zum Gedenken an die Opfer des Amoklaufs von München eine Rede gehalten: "Den Attentätern und Amokläufern wie den Terroristen werden wir eines nicht geben: unsere Unterwerfung. Sie werden uns nicht zwingen zu hassen, wie sie hassen. Sie werden uns nicht in der Gefangenschaft immerwährender Furcht halten."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede beim Trauerakt zum Gedenken an die Opfer des Amoklaufs von München im Bayerischen Landtag

Liebe Trauergäste,

ich stehe vor Ihnen als Bundespräsident, natürlich, aber auch als Joachim Gauck, als Ihr Mitbürger, als Mitmensch, ich bin traurig wie Sie. Nichts kann uns den Schmerz nehmen, wenn geliebte Menschen aus dem Leben gerissen werden. Nichts und niemand kann den Verlust ungeschehen machen. Niemand kann die Lücke schließen, kann jetzt heilen, was geschehen ist.

Aber zu spüren, dass es in solchen Momenten eine Gemeinschaft gibt, Menschen, die mitfühlen, die zuhören, die füreinander da sind: Das kann helfen, die nächste Stunde und den nächsten Tag zu bewältigen. Deshalb sind wir hier zusammen, und ich möchte Ihnen, den Familien und Freunden der Getöteten, versichern: Sie sind in Ihrer Trauer nicht allein. Und nicht nur unzählige Bürger trauern mit Ihnen. Die höchsten Repräsentanten des Staates sind hier, um dies zu zeigen. Sie wollen Ihnen nahe sein. Wir wollen Ihnen nahe sein.

Neun unschuldige Menschen sind tot, weil ein Zehnter entschied, ihnen das Leben zu nehmen. Sie fehlen uns plötzlich am Frühstückstisch, auf der Schulbank, im Nachbarhaus:

ARMELA fehlt uns.

CAN fehlt uns.

CHOUSEIN fehlt uns.

DIJAMANT fehlt uns.

GIULIANO fehlt uns.

JANOS fehlt uns.

SABINE fehlt uns.

SELCUK fehlt uns.

SEVDA fehlt uns.

In ihrer Umgebung, in ihren Familien ist nichts mehr, wie es war.

Das gilt auch für die 35 Menschen, die verletzt wurden. Sie werden an den Folgen des Amoklaufs vom 22. Juli – körperlich wie seelisch – zu tragen haben.

Der Täter hat sich am Ende selbst gerichtet. Er ist der zehnte Tote. So werden wir wohl nie erfahren, was ihn wirklich bewegt und angetrieben hat zu seinem menschenverachtenden Tun.

In Momenten wie diesen, da stehen wir fassungslos vor den Abgründen der menschlichen Existenz. Wir erschrecken erneut davor, was Menschen Menschen antun können. Nicht nur in irgendeiner Ferne, sondern hier bei uns – in unserem Ort, in unserer gewohnten Umgebung – so verstörend nah und deshalb so extrem erschreckend. Taten wie diese lassen uns erstarren, sie führen uns an die Grenze dessen, was wir ertragen können.

Wer auch immer glaubt, seine Person oder sein Dasein gewinne an Bedeutung, wenn er möglichst vielen selbstherrlich und willkürlich das Leben nimmt, er soll wissen: In diesen Abgrund des Denkens werden wir ihm nicht folgen. Niemals.

Worüber wir aber nachdenken müssen, und zwar erneut nachdenken müssen, das sind die Ursachen, die Menschen wie den Täter von München zu derart mörderischen Taten treiben. Da stoßen wir auf junge Männer mit labilen Charakteren, die sich von ihrem Umfeld gedemütigt, ausgegrenzt oder nicht angenommen sehen. Oft sitzen sie vor dem Computer auf der Suche nach Vorbildern, die sich an diesem Umfeld mitleidlos rächen und in der medialen Berichterstattung dann zu trauriger Berühmtheit gelangen. Wir begegnen einer Realität, die uns vielfältig Angst macht. Wieder stellt sich die Frage der Verantwortung, die in solchen Fällen für Betroffene, für Freunde, für die Familie, für die Ärzte, ja, eigentlich für die ganze Gesellschaft erwächst. Allzu schnelle Schlüsse aber verbieten sich: Weder steckt in jedem, der eine Persönlichkeitsstörung aufweist, ein Straftäter; noch entlässt sie einen Straftäter gleich aus seiner persönlichen Verantwortung. Gewiss ist aber: Diese Menschen planen ihre Taten oft lange Zeit, meist präzise. Es gibt Anzeichen für die Entwicklung – wenn man sie denn wahrnehmen will oder kann. Die Gesellschaft darf diese Menschen, gerade junge Menschen, dann nicht allein lassen und dulden, dass sie auf gefährliche Weise zu Randständigen werden.

Bei allem Entsetzen, bei aller Trauer, bei allen offenen Fragen hat der 22. Juli auch gezeigt, wozu Menschen in ihren besten Momenten fähig sind. Gerade im Angesicht von Unglück, Katastrophe und Verbrechen offenbart der Mensch eben auch sein schönes, sein menschliches Gesicht. Vor gut einer Woche stand der Tat eines Einzelnen die Solidarität unendlich Vieler gegenüber. Auf das, was Angst und Schrecken verbreiten sollte, antworteten die Münchener, indem sie ihre Türen öffneten und Hilfe anboten. Das hat mich sehr bewegt, ebenso wie die Anteilnahme, die uns aus aller Welt zuteil geworden ist. In der Gemeinschaft der Vielen, die sich ein friedliches Miteinander wünschen, können wir das Vertrauen wiederfinden, das wir gerade jetzt so dringend brauchen.

Liebe Trauergäste,

die Abfolge immer neuer Gewalttaten, die wir in diesen Jahren erleben, plötzlich so nah und in so kurzen Abständen, scheinbar ohne Ende, all das entsetzt uns. Ich verstehe sehr gut, warum viele sagen, sie seien verunsichert. Warum sie sich fragen, ob sie noch ins Konzert, ins Kaufhaus, in die Kirche gehen können.

Die Geschehnisse übersteigen unser Vermögen, die eine Tat noch von der anderen Tat zu unterscheiden. Wir können nur noch schwer auseinander halten, ob eine Tat im Namen einer Religion oder einer Ideologie begangen wurde, aus Fanatismus, Nationalismus oder Rassismus. Und doch verlangen wir Menschen immerfort nach Sinn, und wir suchen dann Motive für das, was geschehen ist. Wir betrachten zusammenfallende, nicht aber unbedingt zusammengehörende Ereignisse. Auf diese Differenzierung – so schwer sie uns manchmal fällt und so viel sie uns abverlangt – müssen wir uns einlassen und somit in manchen Fällen auch die eigene Ratlosigkeit eingestehen. Denn wir stoßen ja, wenn wir genau hinblicken, auf Abgründe von Sinnlosigkeit und Destruktivität. Wenn so etwas geschieht, dann ist sowohl unser Bild vom Menschen als auch unsere Vorstellung von einer göttlichen Ordnung gefährdet – ja, für manche total in Frage gestellt.

Falls Amokläufer und Attentäter etwas gemeinsam haben, dann wohl allein die Absicht, uns das Gefühl von Sicherheit, von Normalität zu rauben. Der Amokläufer will mit seinen Taten Rache nehmen an der Gesellschaft, von der er sich missachtet oder diskreditiert sieht. Der Terrorist, der will Furcht sähen, Furcht um unser Leben, unser Zusammenleben, unser Recht. Er verachtet den Frieden derer, die das Recht und das demokratische Miteinander leben und lieben. Aber all denen, die aus unseren Heimaten Orte der Furcht und des Schreckens machen wollen – den Attentätern und Amokläufern wie den Terroristen, werden wir eines nicht geben: unsere Unterwerfung. Sie werden uns nicht zwingen zu hassen, wie sie hassen. Sie werden uns nicht in der Gefangenschaft immerwährender Furcht halten. Wir werden nämlich bleiben, was wir sind: eine mitmenschliche, eine solidarische Gesellschaft.

Und eine Gesellschaft, die sich den Gefahren stellt. Das haben wir bereits in München erlebt, als Polizistinnen und Polizisten sich dieser Extremsituation, dem Ernstfall gewachsen zeigten, als jede zufällig beteiligte Streife, jedes Mitglied einer Spezialeinheit in der Lage war, zu tun, was notwendig war. Dafür danke ich allen Sicherheitskräften! In München hat sich gezeigt: Die Polizei ist einsatzfähig, der Staat, unser Staat ist handlungsfähig. So muss es sein, und so muss es bleiben, weil wir wissen: Die Bedrohungen dauern an. Die Verantwortlichen in der Politik, sie nehmen das wahr und erhöhen die Aufwendungen für die Sicherheit unseres Zusammenlebens.

Einen absoluten Schutz gegen Täter, vor allem gegen Einzeltäter, die es darauf anlegen, Menschen in Verzweiflung zu stürzen oder zu töten, gibt es nicht. So viel Sicherheit kann ein Staat nicht bieten, erst recht nicht ein demokratischer. Also, liebe Bürgerinnen und Bürger im Land, Ihr dürft von Euren Politikern alles verlangen, was sie können, aber Ihr dürft niemals verlangen, dass sie alles können. Einen solchen Staat haben wir nicht. Es gibt ihn nirgendwo auf der Erde, und nirgendwo auf der Erde gäbe es Politiker, die eine solche Garantie aussprechen könnten. Was wir allerdings können, ist etwas, worum wir uns neu mühen müssen. Es ist die Allianz von Staatsorganen und der wachen, aktiven Bürgergesellschaft. Und dies ist dann die beste uns mögliche Versicherung dagegen, dass das zynische Kalkül der Gewalttäter aufgeht. In einer solchen Allianz liegt in Zeiten der Bedrohung die Stärke einer offenen Gesellschaft.

Liebe Angehörige,

Schmerz vergeht nur langsam, und Trauer, sie braucht ihre Zeit. Es wird dauern, bis Ihr Leben wieder Richtung und Sinn findet. Auch wenn wir – Ihre Nachbarn und Freunde, Ihre Landsleute und Mitmenschen – Ihnen diesen Weg nicht abnehmen können, so wollen wir doch bei Ihnen sein, wir wollen Sie begleiten, Ihnen Trost spenden, wo immer wir es können, wollen an Ihrer Seite sein.

In aller Trauer und allem Mitgefühl bitte ich alle Familien der Getöteten: Erlauben Sie uns diese Gemeinschaft. Lassen Sie uns füreinander da sein – als Gemeinschaft, die den Toten Raum gibt in der Erinnerung und den Lebenden Frieden bringt.