Mittagessen mit den Landtagspräsidenten anlässlich des 70. Geburtstages der zehn westlichen Bundesländer

Schwerpunktthema: Rede

Villa Hammerschmidt, , 31. August 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 31. August bei einem Mittagessen für Landtagspräsidentinnen und Landtagspräsidenten anlässlich des 70. Geburtstages von zehn westlichen Bundesländern eine Ansprache gehalten: " Föderalismus ist Gemeinschaftsarbeit, die Individualität, Identität und Subsidiarität schützt und zugleich die Handlungsfähigkeit unseres Staates gewährleistet. Bundesdeutscher Föderalismus – das bedeutet insbesondere Solidarität."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Tischrede anlässlich eines Mittagessens für Landtagspräsidentinnen und Landtagspräsidenten von zehn westlichen Bundesländern im Speisesaal der Villa Hammerschmidt in Bonn

An so einem schönen Tag, in einer so wunderschönen Stadt, ist es mir eine besondere Freude, Sie hier zu sehen. Gern würdige ich heute so etwas wie einen Neubeginn. Vor siebzig Jahren wurde auf Initiative der westlichen Alliierten der Föderalismus in Deutschland wiederbelebt und damit das Fundament für unseren Bundesstaat, für unsere freiheitlich-demokratische Ordnung gelegt. Dieses Fundament, es entstand mit der Gründung Ihrer Länder, meine Damen und Herren. Deshalb erlauben Sie mir, dass ich Ihnen herzlich gratuliere zu diesem 70. Geburtstag.

Und wenn auch nicht alle Gründungsjubiläen in dieses Jahr fallen, so haben Sie doch allen Grund, sich heute gemeinsam feiern zu lassen für die gemeinsame Aufbauleistung. Ihre Länder, sie haben Geschichte geschrieben als Träger und Gestalter der damals neuen bundesrepublikanischen, bundesstaatlichen Ordnung.

Die Anziehungskraft der jungen Bundesrepublik war dann so groß, dass sich im Jahre 1955 die Saarländer für den Beitritt entschieden. Ich war damals 15 Jahre alt und war im Sommer des Beitrittsjahres im Saarland. Ein netter Tierarzt war bereit, einen Ferienbub aus der Ostzone aufnehmen, und so gelangte ich nach Saarbrücken. Das war der Sommer, in dem die Saarländer zum ersten Mal die Parteien präsentiert bekamen, die den Beitritt zur Bundesrepublik wollten, das war ein Riesenwirbel damals im Saarland. Und ich habe gedacht, so sieht es aus, wenn sich freie Menschen frei entscheiden, wie sie ihre politische Zukunft gestalten wollen. Das hat sich mir als Fünfzehnjährigem ganz stark eingeprägt. So viel als Gruß ans Saarland.

Als sich der Vorbildcharakter des bundesdeutschen Föderalismus dann abermals zeigte, im Jahre 1990, da war ich selbst ein wenig beteiligt. Die Mauer war gefallen, weil Menschen aufgestanden waren, nicht erfolglos aufgestanden wie 1953, am 17. Juni, sondern erfolgreich. Und so kamen wir zu einer frei gewählten Volkskammer. Ich hatte das Glück, damals für Bündnis 90/Die Grünen Mitglied dieser Volkskammer zu sein. Und im Juli 1990 haben wir dann die Wiedereinführung der Länder in der DDR beschlossen.

Interessanterweise war es so, dass die Bürgerinnen und Bürger aller ostdeutschen Länder sehr früh das Bedürfnis hatten, wieder Sachsen, Thüringer, Mecklenburger, Pommern und Brandenburger zu sein. Die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zur Wiedereinführung der Länder ging der staatlichen Gestaltung voraus. Die SED hatte damals ja die Länder, die nach dem Krieg zunächst noch existierten, vernichtet. Sie wollte nicht so viele Identitäten, die landsmannschaftlich begründet waren. Deshalb führte sie mit den sogenannten Bezirken ein neues Regime ein. Rostock, woher ich komme, wurde damals Bezirksstadt.

Die Geschichte hat aber gezeigt, dass die regionalen Identitäten tiefer verankert waren, als wir alle es uns vorgestellt hatten. Überraschend war das gerade für jene, die sich von politischen Themen leiten ließen. Für sie waren diese Gefühle der Heimatbindung eher Zugabe oder jedenfalls weniger wichtig. Aber diese Bindungsgefühle blieben ein sehr stabiles Element, und zwar sowohl in Mitteldeutschland als auch bei uns im Norden.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie auf Demonstrationen während der Friedlichen Revolution auch alte Landesflaggen wieder gezeigt wurden. Das war schon bewegend.

Heute sind die Geburtstage Ihrer Länder für alle Deutschen Anlass zur Freude und zur Dankbarkeit. Es war eben nicht so, dass den Deutschen in den westlichen Ländern ein Bundesstaat aufgezwungen wurde. Sondern wir haben traditionsreiche deutsche Erfahrungen mit Strukturen und landsmannschaftlichen Prägungen. Gewiss, manche der neuen Ländergrenzen, dass weiß man im Südwesten besonders gut, erschienen der Bevölkerung zunächst künstlich. Im Jahre 1952 wurde dann die Gründung Baden-Württembergs beschlossen. Insgesamt empfanden die Bürgerinnen und Bürger die Vorgaben der westlichen Alliierten aber nicht als so unpassend, dass die Option einer grundlegenden Revision genutzt wurde.

Gewiss, über die konkrete Ausgestaltung des Föderalismus lässt sich debattieren. Und so lange wir einen Bundesstaat haben, werden wir auch Debatten darüber führen. Schon im Parlamentarischen Rat war dies einer der Hauptstreitpunkte. Aber die Grundentscheidung für eine föderale Verfassungsarchitektur, sie war den Vätern und Müttern des Grundgesetzes so wichtig, dass sie eine Abschaffung dieser Ordnung durch künftige Generationen schlichtweg ausschlossen.

Und das Konzept der Einheit in Vielfalt hat sich bewährt: als Grundlage für ein friedliches und ein dynamisches Miteinander, das Eigenständigkeit und Solidarität verbindet. Bund und Länder haben dabei produktiv zusammengewirkt. Mit den föderalen Strukturen, die in der Nachkriegszeit geschaffen wurden, entwickelte sich im Westen Deutschlands zugleich ein wirksames System zur Verteilung und Kontrolle politischer Macht. Auch ging es darum, Gestaltungskräfte für den demokratischen Neuaufbau zu mobilisieren. Demokratie und Marktwirtschaft, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sind unter maßgeblicher Mitwirkung Ihrer Länder im föderalen Miteinander in der Geschichte der Bundesrepublik gewachsen.

Schaut man sich in der Welt um, so gibt es vergleichsweise wenige Länder, die föderal verfasst sind. Nur etwa zwei Dutzend der 192 souveränen Staaten haben eine föderale Verfassung. Und die föderalen Strukturen dieser Staaten sind zum Teil sehr unterschiedlich. Ein gegliedertes Gemeinwesen, in dem Einzelstaaten und Gesamtstaat immer wieder eine Balance ihrer Interessen herstellen müssen, so dass Entscheidungsprozesse manchmal mehr Zeit brauchen, wird nicht überall als hilfreich erachtet. Es gibt eben nicht die eine staatliche Organisationsform, die als Schablone taugt.

Aber für unser Land in seiner traditionellen Vielfalt kann ich mir, auch wegen meiner persönlichen Erfahrungen in einem sozialistischen Zentralstaat, nichts Besseres als unseren demokratischen und sozialen Bundesstaat wünschen. Denn Bundesstaatlichkeit bedeutet Ideen- und Handlungsvielfalt. Die Mitwirkung der Länder mobilisiert Gestaltungskräfte und fördert die Suche und Erprobung innovativer politischer Lösungsansätze.

Beteiligung und politische Verständigung in diesem Bund-Länder-System sind zweifellos anspruchsvoll und anstrengend, und mein Respekt und Dank gilt allen, die daran mitwirken. Einheit in Vielfalt oder Vielfalt in Einheit – das sagt sich leicht. Aber je nachdem, für welche Kurzformel man sich entscheidet, werden doch unterschiedliche Akzente gesetzt. Und man sieht, dass hier ein Spannungsverhältnis besteht. Welches Gewicht sollten die Länder und der Bund jeweils haben? Wo bietet sich eine klare Aufgabentrennung, wo ein Zusammenwirken an? Auf diese Fragen gibt es keine allgemeingültige Antwort. Über das rechte Maß von Vielfalt und Einheit muss immer wieder neu verhandelt werden. Föderalismus ist eben nicht nur ein abstraktes staatliches Organisationsprinzip. Föderalismus ist Gemeinschaftsarbeit, die Individualität, Identität und Subsidiarität schützt und zugleich die Handlungsfähigkeit unseres Staates gewährleistet.

Bundesdeutscher Föderalismus – das bedeutet insbesondere Solidarität. Sie äußert sich immer wieder in gegenseitiger Hilfe. Ich erinnere auch – und zwar gerne – an die Aufbauhilfe, die Ihre Länder nach 1990 im Osten geleistet haben. Sie beförderte nicht nur die Schaffung neuer Verwaltungsstrukturen. Sie brachte die Menschen aus Ost und West auch zusammen. Und natürlich freut es mich, wenn mir Beamte aus dem Westen, die damals beim Aufbau Ost halfen – und das waren wirklich viele – heute berichten, wie wertvoll diese Erfahrungen für sie gewesen sind.

Ich will es noch einmal mit persönlichen Erinnerungen unterstreichen. Diese Phase des Neustarts, des Neubeginns mitzuerleben, als die Leute im Osten das Gefühl hatten, sie erfinden die Demokratie neu, das hat viele Beamte aus dem Westen bewegt. Denn sie sahen die Begeisterung in den Augen von Menschen, die zum ersten Mal so etwas wie eine demokratische Verwaltung aufbauten, das hat die Aufbauhelfer mitgerissen.

Ihre Länder sind die Orte, an denen vor 70 Jahren der Lernprozess demokratischer Willensbildung und demokratischen Regierens begann. Im Jahre 1946 fanden die ersten Landtagswahlen statt. Auch zum Geburtstag Ihrer Landesparlamente gratuliere ich deshalb herzlich. Mir ist es ein Bedürfnis, diesen Geburtstag hier und heute mit Ihnen zu feiern, den Präsidentinnen und Präsidenten der Landesparlamente. Auch in den Ländern wird der Souverän durch die Parlamente repräsentiert. Das möchte ich mit dieser Begegnung unterstreichen, denn nur weil Klagen über Bedeutungsverluste der Landesparlamente nicht ganz neu sind, sind sie doch nicht weniger wichtig. Und wer wüsste es besser als Sie: konkurrierende Gestaltungsansprüche in der Europäischen Union, im Bund und in den Bundesländern haben die Rolle der Landesparlamente verändert.

Nun ist Föderalismus ein dynamischer Prozess, bei dem sich Gewichte durchaus auch verschieben können. Aber für mich steht fest: Wir brauchen die Landesparlamente weiterhin als kraftvolle Mitgestalter eines Miteinanders in kultureller, politischer und wirtschaftlicher Vielfalt. Und so möchte ich Sie darin bestärken: Fördern Sie dieses Miteinander, und verteidigen Sie den klugen Umgang mit Unterschieden gegen polarisierende Strömungen. Pflegen Sie den Nahraum, der jedem Land seine besondere Prägung verleiht. Wer darin engstirnige Kleinstaaterei vermutet, der sei an die Weitsicht und Gestaltungskraft erinnert, mit der Ihre Länder die Bundesrepublik aufgebaut haben. Möge diese Erinnerung Ansporn sein, das Verfassungsprinzip des Föderalismus immer wieder neu in eine Politik zu übersetzen, die lebensnah und weitblickend ist, die Unterschiede produktiv zu nutzen weiß, die Spielräume und zugleich Eintracht schafft.

Ich danke Ihnen.