Staatsakt zum Tod von Bundespräsident a.D. Walter Scheel

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 7. September 2016

Der Bundespräsident hat am 7. September beim Trauerstaatsakt für Altbundespräsident Walter Scheel eine Rede gehalten: "Walter Scheels Wirken hat Spuren hinterlassen, in Deutschland und darüber hinaus. Sein Leben steht beispielhaft für den erfolgreichen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg und zugleich für die Neuorientierung der Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre. Zu beidem hat er Wichtiges beigetragen, so viel wie nur wenige Deutsche seiner Generation."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache beim Trauerstaatsakt für Bundespräsident a. D. Walter Scheel im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie


Walter Scheel ist von uns gegangen. Wir verneigen uns heute vor einem hochgeschätzten Bundespräsidenten und Bundesminister, vor einem prägenden Politiker. Er hat unserem Land in entscheidenden Momenten Richtung gegeben und unserer Demokratie Orientierung verliehen.

Ihnen, Frau Scheel, und der ganzen Familie spreche ich mein tief empfundenes Beileid aus.

Walter Scheels Wirken hat Spuren hinterlassen, in Deutschland und darüber hinaus. Sein Leben steht beispielhaft für den erfolgreichen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg und zugleich für die Neuorientierung der Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre. Zu beidem hat er Wichtiges beigetragen, so viel wie nur wenige Deutsche seiner Generation.

Es ist ein Politiker und Mensch von uns gegangen, der andere Menschen zu gewinnen verstand. Seine Mitmenschen mochten ihn, und er mochte sie. Es war eine tiefe und wechselseitige Sympathie. Walter Scheel war ein Glücksfall für unser Land.

Die energiegeladenen Aufbaujahre spiegeln sich in Walter Scheels Karriere. Vom Glück des Überlebens als Soldat im Zweiten Weltkrieg geprägt, trifft sein Aufstiegswille auf die Durchlässigkeit einer zunehmend egalitären Industriegesellschaft. Aus dem Sohn eines Facharbeiters wird ein wohlhabender Unternehmer, aus dem Solinger Stadtverordneten schließlich der höchste Repräsentant des Staates.

Während seiner frühen Laufbahn als Bundespolitiker unterstützt Walter Scheel die wesentlichen Entscheidungen der Adenauer-Ära, die Aufbau und Aufstieg der jungen Bundesrepublik politisch absichern: die Einführung einer Marktwirtschaft mit sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und sozialer Absicherung, die Wiederbewaffnung, den Beitritt zur NATO und die Westintegration. Als überzeugter Europäer stimmt er im Bundestag den Römischen Verträgen und damit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu.

Sein gesamtes politisches Leben lang hat Walter Scheel ein feines Gespür für die Notwendigkeiten und Chancen seiner Zeit bewiesen. Er hat den Mut, Konsequenzen aus seinen Einsichten zu ziehen, auch da, wo das Handeln Unwägbarkeiten und Risiken in sich birgt. Walter Scheel ergreift Gelegenheiten, wo sie sich bieten. Er führt, wo andere sich wegducken. Er ist kühn, wenn es darauf ankommt. Und so gehört Walter Scheel in den 1960er Jahren zu denen, die früh verstehen, dass eine nach den Aufbaujahren langsam erstarrende Bundesrepublik frische Impulse braucht.

Lange bevor er 1969 Außenminister und Vizekanzler wird, erkennt er die Notwendigkeit einer Aussöhnung mit den Staaten Mittel- und Osteuropas. Lange vor den Massendemonstrationen der neuen Umweltbewegung spricht er vom Raubbau an der Natur. Die Freiburger Thesen, die er als FDP-Vorsitzender 1971 in seiner Partei durchsetzt, sind ein Markstein auf dem Weg in eine offenere und tolerantere Gesellschaft. Seine Definition der Entwicklungshilfe, die er als erster Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit formuliert, bildet die Grundlage des andauernden Engagements der Bundesrepublik in vielen Ländern des Südens.

Gerade im Rückblick erschließt sich die Tragweite seiner Ideen und die dauerhafte Bedeutung ihrer politischen Umsetzung. Walter Scheel ist ein Wegbereiter der Reformära gewesen, im Wortsinne ein Pfadfinder unserer Republik.

Auch hat er einen neuen Ton angeschlagen, schon in seiner Antrittsrede als Bundespräsident im Jahr 1974. Er appelliert an die Bürger, den eigenen Kräften zu vertrauen und ihre Potentiale zu leben. Er macht ihnen Mut. Er vertraut darauf, dass die Bürger des demokratischen Deutschlands auch neuartige Herausforderungen meistern werden. Wie aktuell, meine Damen und Herren.

Er spricht, was damals keineswegs gewöhnlich ist, von der Liebe zu unserem Land und von dessen geistigen und moralischen Kräften. Er findet damit Worte des Stolzes für ein erfolgreiches Vierteljahrhundert unter dem Grundgesetz. Walter Scheel wird zu einem Präsidenten der demokratischen Selbstvergewisserung, und das gerade in schwierigen Zeiten. Der Zeitgeist wehte eigentlich anderswo hin.

Und er tut all das ohne jede intellektuelle Schulmeisterei, aber in einem Stil und mit einer Mentalität, die für manche Kritiker zunächst gewöhnungsbedürftig ist: nämlich mit entspannter Fröhlichkeit und lockerer Weltläufigkeit, mit Mühelosigkeit und Unbeschwertheit. Auf seine Weise verkörpert Scheel so das Lebensgefühl der Zeit und damit auch ein wenig die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik.

Als der vierte Bundespräsident sein Amt antritt, wird er gerade erst 55 Jahre alt. Zusammen mit seiner zweiten Frau Mildred ziehen erstmals Kinder in den Amtssitz des Bundespräsidenten ein. Walter Scheel macht die Villa Hammerschmidt zum Familiendomizil und zugleich die Patchwork-Familie präsidiabel. Auch darin ist der unkonventionelle Walter Scheel seiner Zeit voraus.

Walter Scheel ist zu verdanken, dass der Amtssitz des Bundespräsidenten das wurde, was er bis heute blieb: ein Haus der Bürger. Scheel ist es, der den Kreis der Gäste ausweitet und sich selbst einen sogenannten Fahrplan der Begegnung verordnet. Zum Beispiel lädt er alle zwei Wochen eine große Abendgesellschaft aus allen Teilen der Gesellschaft ein. Allein im ersten Amtsjahr empfängt er mehr als 4500 Besucher und verdient sich so den Ruf der Volksnähe.

Zu den stereotypen, schwer zu korrigierenden Missverständnissen über Walter Scheel zählt die Vorstellung, ein Mensch von so liebenswürdiger Heiterkeit und so gewinnender Lässigkeit könne kein seriöses Staatsoberhaupt sein und auch kein ernst zu nehmender Politiker. Tatsächlich ist aber genau diese Gelassenheit ein Ausweis der Souveränität Walter Scheels. Einer, der singt, Volkslieder, und das noch öffentlich, der ist ja doch deshalb kein Leichtgewicht, nur man muss es erst einmal begreifen. Er setzt vielmehr ein Zeichen gegen die Unnahbarkeit von Politik und Politikern. Walter Scheel ist als langjährigem Bundestagsabgeordneten und Bundesminister die Auffassung immer fremd gewesen, zum Beruf des Politikers zähle der sauertöpfische Gestus eines Zuchtmeisters. Er ist überzeugt: Wer etwas verändern will, wer Menschen gewinnen will, braucht Lebensfreude, braucht Optimismus.

Wer Scheel kennengelernt hat, der weiß, dass die freundliche Beschwingtheit seines öffentlichen Auftritts leicht seine Zielstrebigkeit überdecken konnte. Er galt als unnachgiebiger und zugleich geschickter Verhandler. Einer seiner Weggefährten berichtete einmal, Scheel gebe, bevor er den Konferenzraum betrete, seine rheinische Frohnatur an der Garderobe ab.

Jedenfalls können die großen Entscheidungen, die Walter Scheel treffen muss, nicht ohne Durchsetzungswillen zustande gekommen sein, und auch nicht ohne politischen Instinkt. Seit 1968 betreibt er die politische Neuorientierung seiner Partei und führt sie 1969, trotz erheblichen Widerstandes, in die sozialliberale Koalition. Seine Entschlossenheit ist ausschlaggebend für den ersten Wechsel der Kanzlerpartei in der Geschichte der Bundesrepublik. Scheel hilft so, ein Stück demokratische Normalität einzuüben. Das ist es, was – jenseits der Parteitaktik des Moments und jenseits der machtpolitischen Folgen – bis heute Bedeutung hat.

Walter Scheel hat, wo nötig, Klartext gesprochen. Legendär die kämpferische Rede im Deutschen Bundestag, mit der er Bundeskanzler Brandt 1972 verteidigt, in der Debatte um das Konstruktive Misstrauensvotum. Die hohe Kunst, den politischen Gegner zu stellen ohne ihn zu verletzen, beherrscht er so gut wie wenige andere. Wohl auch deshalb sind ihm einige seiner politischen Gegner später freundschaftlich verbunden geblieben.

Mit Walter Scheel ist man hingegen nicht immer zimperlich umgegangen. Als Wegbereiter der Entspannungspolitik trifft er auf entschiedene Opposition, besonders anfänglich. In der Rückschau sind es gerade sein Mut, der diese Politik möglich macht und sein Geschick als Außenminister, die uns doch heute tiefen Respekt abverlangen. Sein eigener Beitrag zum Moskauer Vertrag von 1970 tritt besonders im Brief zur Deutschen Einheit hervor, den er vor Vertragsunterzeichnung seinem sowjetischen Amtskollegen sendet. Darin heißt es, der abzuschließende Vertrag werde nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland stehen, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Wissend um das, was seither geschehen ist, klingt diese Formulierung ja geradezu prophetisch.

Das Amt des Bundespräsidenten hat Walter Scheel in schwieriger Zeit ausgeübt. Kaum fünf Monate nach seiner Wahl wird in Berlin der Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann erschossen – von Terroristen. Zu Scheels schwersten und gewiss traurigsten Aufgaben zählt drei Jahre später die Trauerrede für den entführten und dann ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Scheel nutzt diesen Moment für ein leidenschaftliches Plädoyer für den Verfassungsstaat. Die Kritik, so sagt er, ist das Lebenselixier der Demokratie. Die legitime Kritik hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Terrorismus zu tun. Walter Scheel sucht das Gespräch mit den kritischen Stimmen aus der jungen Generation. Er zählt zu den wenigen Spitzenpolitikern, die beim Besuch einer Universität damals nicht gleich ausgebuht werden. Er nutzt diese Position, um den Intellektuellen, besonders den Schriftstellern, ins Gewissen zu reden, sich eindeutig zur freiheitlich-demokratischen Ordnung zu bekennen.

In den Krisenzeiten des sogenannten Deutschen Herbstes verleiht die ruhige und besonnene Stimme des vierten Bundespräsidenten den Institutionen der immer noch jungen Republik den Rückhalt – Rückhalt, den sie dringend braucht. Gerade als die Freiheit bedroht ist, zeigt Walter Scheel, was er unter Liberalität versteht: Er beschwört den Geist der Freiheit als Geist des Maßes und des Ausgleichs.

Walter Scheel war ein langes Leben beschieden. Auch im Ruhestand bleibt er aktiv. Bis ins hohe Alter übernimmt er Ehrenämter, hält Vorträge, steht seiner Partei als Ratgeber zur Verfügung – bis eben die Krankheit es nicht mehr zulässt.

Und da denken wir besonders an Sie, Frau Scheel, Sie, seine Frau Barbara, hat ihn in diesen Jahren begleitet. Ich fühle mich heute Ihnen, wie den Kindern und Angehörigen, in Trauer und Dankbarkeit verbunden.

Walter Scheel ist nun von uns gegangen. Eine große Stimme des deutschen Liberalismus ist verstummt. Die Erinnerung an sein Lebenswerk, an seine Liebenswürdigkeit, an seinen Mut, seine Weitsicht und seine Prinzipientreue, sie werden bleiben.

Walter Scheel hat sich verdient gemacht um unser Land, um seine und unsere Bundesrepublik Deutschland.