Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht – Entlassung und Ehrung von Reinhard Gaier sowie Ernennung von Yvonne Ott

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 8. November 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 8. November anlässlich des Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht dem Richter Reinhard Gaier seine Entlassungsurkunde überreicht und ihm das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband verliehen. In seiner Würdigung hieß es: "Ihr Lebensweg zeigt, dass unsere Gesellschaft durchlässig sein kann und den Aufstieg selbst zu höchsten Richterämtern zulässt. Ich wünschte mir, so etwas öfter zu sehen."

Bundespräsident Joachim gauck hält eine Rede anlässlich des Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht im Langhanssaal in Schloss Bellevue

Herzlich willkommen im Schloss Bellevue! Es ist noch nicht allzu lange her, dass wir uns an dieser Stelle aus vergleichbarem Anlass getroffen haben. Heute nun verabschieden wir gemeinsam Herrn Gaier und anschließend darf ich die Nachfolgerin, Frau Ott, als Richterin des Bundesverfassungsgerichts ernennen.

Lieber Herr Gaier,

als Sie der Bundesrat vor zwölf Jahren – am 15. Oktober 2004 – zum Richter des Bundesverfassungsgerichts wählte, teilten Sie das Schicksal wohl aller Berufsrichter des Bundesverfassungsgerichts: Trotz der besonderen Bedeutung und des Ansehens des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung sind die einzelnen Mitglieder relativ selten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt – und für die sechs Berufsrichter gilt das in noch stärkerem Maße. Allerdings: Der Fachöffentlichkeit sind diese Richterinnen und Richter meistens sehr wohl und bestens vertraut. Sie verfügen über einen ausgezeichneten Ruf, haben bereits eine beeindruckende Karriere hinter sich, und genauso war das auch bei Ihnen, Herr Gaier.

Ihr morgendlicher Weg zur Arbeit veränderte sich damals nur unwesentlich – statt zur Herrenstraße mussten Sie nunmehr zum Schlossplatz in der schönen Stadt Karlsruhe. Aber inhaltlich, da hat sich doch Bedeutendes verändert. Es eröffnete sich Neuland. Denn am Bundesgerichtshof waren Sie im Wesentlichen mit dem Grundstücksrecht befasst. Und Sie galten nicht nur als Experte für zivilprozessuale Fragen, sondern sogar als Liebhaber dieser Materie, so hat man mir jedenfalls glaubhaft versichert. Bis heute äußern Sie sich zur Entwicklung des Verfahrensrechts – und mahnen zum Beispiel an, dass für eine Industrie 4.0 ein Prozessrecht 1.5 kaum zeitgemäß ist. Ich kenne mich als Laie natürlich in diesem Rechtsgebiet nicht aus – und ich glaube, ich darf auf Ihre Nachsicht hoffen wenn ich das bekenne. Aber auch ich habe bei meinen Gesprächen mit dem Nationalen Normenkontrollrat und dem Ausschuss Digitale Agenda gelernt, dass in einem Industriestaat wie der Bundesrepublik der Einsatz der Informationstechnik in der öffentlichen Verwaltung und in den Gerichten noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie es technisch möglich und angemessen wäre. Das ist auch auf anderen Gebieten der öffentlichen Verwaltung so, aber bei Gerichten finde ich das besonders beklagenswert.

Der Weg in die Juristerei – lieber Herr Gaier – war Ihnen keineswegs in die Wiege gelegt. Denn Sie stammen nicht aus einer Akademikerfamilie. Ihr Lebensweg zeigt, dass unsere Gesellschaft durchlässig sein kann und den Aufstieg selbst zu höchsten Richterämtern zulässt. Ich wünschte mir, so etwas öfter zu sehen. Nach dem Abitur studierten Sie Rechtswissenschaft und wurden Zivilrichter. Schnell machten Sie Karriere und erreichten Ihren Traumjob – Vorsitzender Richter am Landgericht. Dabei hätten Sie es vielleicht bewenden lassen können, aber auch andere hatten Ihr Talent längst erkannt. Stationen in der Justizverwaltung wechselten sich mit richterlicher Tätigkeit ab, bis Sie schließlich mit nur 46 Jahren zum Richter am Bundesgerichtshof gewählt wurden.

Auch wenn eine Karriere rückblickend leicht und mühelos wirkt –wir wissen doch alle, welche Energie, welcher Fleiß hierfür notwendig sind. Dass Sie eine besondere Arbeitsfreude auszeichnet und Sie mit Freude ein hohes Arbeitspensum erledigen, bekunden Menschen, die Sie gut kennen. Ich denke, einige davon begleiten Sie hier heute Abend. Und das zeigt übrigens auch Ihre Promotion: Denn Sie entstand während Ihrer Tätigkeit am Oberlandesgericht Frankfurt 1998 – und da waren Sie bereits 42 Jahre alt. Es ist selten, dass Praktiker während ihrer beruflichen Tätigkeit, die sie ernst nehmen, noch die Zeit und die Energie finden, eine Dissertation anzufertigen.

Nach Ihrer Wahl an das Bundesverfassungsgericht 2004 mussten Sie sich neue Rechtsgebiete – teilweise jenseits des Zivilrechtes erschließen: Sie waren in Ihrer gesamten Amtszeit im Ersten Senat insbesondere für die Berufsfreiheit der Freien Berufe, das Wirtschaftsrecht etwa im Bereich der privaten Krankenversicherung und das Wettbewerbsrecht zuständig, zuletzt auch das Recht der Sozialhilfe, das Mietrecht sowie die Grundsicherung für Arbeitssuchende.

Die Laudatio für einen ausscheidenden Verfassungsrichter kann nicht ganz ohne Zahlen auskommen, weil das Arbeitspensum, das Verfassungsrichter zu bewältigen haben, sonst nicht deutlich werden kann. Ich nenne eine solche Zahl: Sie haben 5.095 Entscheidungen als Berichterstatter vorbereitet! Ich kann mir so etwas, ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Sie haben einmal selbst geäußert, der Reiz der Arbeit am Verfassungsgericht läge für Sie darin, dass es ein Bürgergericht sei. Da passt es gut, dass es sich bei den meisten der Entscheidungen in Ihrer Zuständigkeit auch um Verfassungsbeschwerden handelte. Dem Bürgergericht machen die Bürger eben auch Arbeit.

Lieber Herr Gaier,

nun treten Sie also in den Ruhestand. Aber Sie beenden heute lediglich Ihre Amtszeit als Verfassungsrichter. In den vergangenen Jahren haben Sie sich immer wieder auch zu rechtspolitischen Fragen geäußert – zur Notwendigkeit eines zeitgemäßen Zivilprozessrechts, zu Verbraucherschutzfragen, zum Finanzmarktrecht. In Ihren Äußerungen ist deutlich geworden, dass Ihnen die Freiheit des Einzelnen besonders am Herzen liegt. Sie könne aber auch durch unterschiedliche wirtschaftliche Stärke der Vertragsparteien bedroht sein. Deshalb müsse der soziale Rechtsstaat, wie ihn unsere Verfassung vorsieht, gegebenenfalls auch die Vertragsfreiheit zugunsten der Schwachen einhegen.

In jüngerer Zeit haben Sie sich in der Juristenausbildung als Honorarprofessor engagiert – Ihre Seminare und Veranstaltungen an der Universität Hannover gehören – so habe ich mir jedenfalls erzählen lassen – zu den beliebtesten Veranstaltungen. Das finde ich toll. Da lockt doch Zukunft. Denn Sie scheuen sich ganz im Sinne des Bürgerrichters nicht, Einblicke in die verfassungsrichterliche Tätigkeit zu gewähren. Und dass Sie Ihre Erkenntnisse nicht für sich behalten, sondern zu rechtsstaatlichen Entwicklungen beitragen, wird in Ihrem Engagement im Verfassungsforum mit der China University of Political Science and Law deutlich. Daher bin ich sicher, dass nicht nur die zivil- und zivilprozessuale Fachwelt von Ihnen auch in Zukunft hören wird, sondern – trotz aller berufsrichterlicher Zurückhaltung, die Sie auszeichnet – auch die breitere Öffentlichkeit. Für die kommende Zeit wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute!

Lieber Herr Gaier,

es bedarf eigentlich keiner besonderen Erwähnung mehr – gleichwohl: Unser Land verdankt Ihnen viel! Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich – übrigens nicht nur als Präsident sondern auch als Bürger. Ich freue mich, Ihnen für Ihr Engagement und Ihre Leistungen heute das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen.

Liebe Frau Ott!

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl am 14. Oktober. Eine Besonderheit gibt es auch zu vermerken. Einem Hessen folgt eine Hessin nach – das finde ich schön. Heute beginnt ein neuer Lebensabschnitt auch für Sie, auch wenn Ihnen Ihre neue Wirkungsstätte ja nicht ganz neu ist: Denn Sie waren bereits einmal von 2002 bis 2004 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet. Von heute an gehören Sie nun dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichtes an. Da kommt – so haben wir ja gerade gehört – enorm viel Arbeit auf Sie zu. Mein Eindruck aber ist: Dafür sind Sie gut gewappnet, wie Ihr Werdegang zeigt. Nach dem Studium an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und dem ersten Juristischen Staatsexamen arbeiteten Sie zunächst an der Universität Frankfurt am Main, absolvierten Ihre Referendarzeit und schlossen Ihre Promotion ab. Ihre berufliche Laufbahn starteten Sie im hessischen Finanzministerium, um 1998 in den Richterdienst des Landes Hessen zu wechseln. Seit 2010 wirkten Sie als Richterin am Bundesgerichtshof im 2. Strafsenat.

Ich bin überzeugt, dass Ihr Sachverstand und Ihre richterliche Erfahrung eine Bereicherung für das Gericht sein werden.

Liebe Frau Ott!

Nochmals: meinen herzlichen Glückwünsch und viel Erfolg in Ihrem neuen Amt. Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen werden Sie sehr gut aufnehmen und Sie werden sich schnell heimisch fühlen.