Abendessen zu Ehren von Wolf Biermann anlässlich seines 80. Geburtstages

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 21. November 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 21. November bei einem Abendessen zu Ehren von Wolf Biermann anlässlich dessen 80. Geburtstages eine Ansprache gehalten. Darin heißt es: "Gäbe es ein Lehrbuch über Zivilcourage, jenes leider bis zur Unkenntlichkeit überstrapazierte Wort, es müsste darin ein Kapitel über Leben und Werk Wolf Biermanns geben."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Tischrede im Schinkelsaal anlässlich eines Abendessens zu Ehren von Wolf Biermann in Schloss Bellevue

Biermann breitbeinig mitten auf der Oranienburger Straße, fotografiert aus ‚Froschperspektive’ in Richtung Fernsehturm (2 Aufnahmen).

So schildert ein IM mit dem schönen Decknamen Joachim für die Stasi einen Fototermin Wolf Biermanns mit dem Fotografen Thomas Hoepker am 10. Mai 1973. Hoepker, aus Westdeutschland stammend, lebte damals, nach dem Grundlagenvertrag ging das, in Ost-Berlin und dokumentierte für die Zeitschrift Stern das Leben in der DDR.

Er hatte sich mit dem Dichter angefreundet, und an diesem 10. Mai 1973 machte er das vielleicht wichtigste Foto von Wolf Biermann, das für dessen Leben und Werk eine Ikone werden sollte.

In der Stasi-Akte hört sich das so an: "Biermann vor und neben dem Adlermotiv, das sich im Geländer der Weidendammer Brücke befindet.

a) auf der Westseite in Richtung Bahnhof Friedrichstraße (Gegenlichtaufnahme)

b) auf der Ostseite in Richtung Fernsehturm, ca. 5 Aufnahmen, 1 Aufnahme mit der weiblichen Person."

Ein schönes Beispiel dafür, wie man trotz detaillierter Beschreibung das Wesentliche verfehlen kann. Hier war die Stasi ein schlechter Eckermann.

Wolf Biermann, dem auf dem Foto rechts und links die gusseisernen Flügel des preußischen Adlers wachsen, ist damals der bedeutendste politische Dichter Deutschlands – der aber in seiner ostdeutschen Heimat nicht singen und spielen darf, dessen Platten und Bücher im Westen gehört und gelesen werden, wohin er aber nicht reisen kann. Und so lässt sich der Dichter im Foto als preußischer Ikarus inszenieren, dessen Flügel nicht abheben, der zum stummen Dableiben verurteilt ist.

Dann aber, als Wolf Biermann zum ersten Mal wieder in den Westen reisen kann, als er 1976 in Köln sein erstes, unvergessenes Konzert gibt, da singt er ganz zum Schluss und zum ersten Mal öffentlich die Ballade, die er zu dem Foto gedichtet hat, die Ballade vom Preußischen Ikarus. Der Sänger kann den Text des neuen Liedes offensichtlich noch nicht richtig auswendig, und plötzlich bricht er den Vortrag ab. Und so steht dieser Moment bis heute auch für die Sprachlosigkeit, in die am Ende jedes Denken und Reden und Singen über die absurde und mörderische deutsch-deutsche Grenze führte.

Weil viele so vieles schon wieder vergessen haben, sollten wir uns an eine besonders deutliche Strophe aus dem Preußischen Ikarus erinnern:

Der Stacheldraht wächst langsam ein

Tief in die Haut, in Brust und Bein

ins Hirn, in graue Zellen.

Umgürtet mit dem Drahtverband

Ist unser Land ein Inselland

umbrandet von bleiernen Wellen.

Dass da ein Linker, ein Kommunist sogar, vom Fluch der Teilung und damit von der Sehnsucht nach der deutschen Einheit sang – das wird in Köln, wie auch schon im ersten Lied, dem großen So oder so – die Erde wird rot, mit Schweigen beantwortet. Keine Hand rührt sich zum Applaus. Die Tonaufnahme dieses Konzerts zeigt unmissverständlich, wie fern vielen im Westen der Einheitsgedanke war, gerade einmal fünfzehn Jahre nach dem Mauerbau und vierzehn Jahre vor der Einheitsfeier am Reichstag. Dass sich die SED ebenfalls längst davon verabschiedet hatte und es ihr auch aus diesem Grund vor diesem Dichter grauste, das wussten wir auch damals schon.

Die Mächtigen hatten Angst vor diesem dichtenden und singenden Einmannbetrieb – nicht nur, weil er unerwünschte Ansichten hatte, sondern wegen der Qualität seiner Texte. In ihren besten Momenten vereinten sie Präzision und Schönheit, und das machte sie, ob verboten oder zensiert, zu tatsächlichem Volkseigentum.

Für die Wirkung politischer Lyrik ist nichts so schädlich wie gut gemeinte Texte. Gelungene Gedichte und Lieder dagegen beeindrucken auch den politischen Gegner. Sie ringen ihm zähneknirschende Anerkennung ab – und darum werden die Könner, die guten, die witzigen, die sprachgewaltigen, besonders entschieden bekämpft. Biermann war der beste – und darum durfte er am wenigsten. Und darum führte der Erfolg seines Kölner Konzerts ins Zwangsexil.

Hier hatte er fast 7.000 Zuschauern vorgeführt, dass er ein großer Dichter, Sänger und Komponist war, aber auch ein begnadeter politischer Entertainer, der viereinhalb Stunden lang sein Publikum fesseln konnte. Seine Kritik an den Zuständen der DDR, die er als bekennender Kommunist vortrug, war nicht nur schneidend und treffend, schlimmer noch: Sie war unterhaltsam und voller Witz. Aber Humor: Das können Diktaturen gar nicht.

Dass man diesen Mann umgehend loswerden musste, war für die DDR-Oberen sonnenklar. Selten aber folgte der vermeintlichen politischen Vernunft die List der Geschichte so direkt auf dem Fuße.

Der Ausbürgerung, wir wissen es, folgte der Entschluss der ARD, das Konzert in voller Länge auszustrahlen, das vorher nur die Zuschauer im Saal und die Radiohörer in der Region mitbekommen hatten. Erst nach und wegen der Ausbürgerung bekamen also Millionen Menschen im Westen wie im Osten mit, wer Biermann war und wofür er stand. Mit einem Schlag war er, der Ausgebürgerte, der bekannteste Dissident und populärste Künstler der DDR. Wenn im Sinne Talleyrands jemals eine politische Handlung mehr war als ein Verbrechen, nämlich ein Fehler, dann war es im Deutschland nach dem Weltkriege diese Ausbürgerung.

Als Intellektuelle und Künstler die berühmte Protest-Petition gegen die Ausbürgerung unterschrieben, da begann ein großer geistiger Exodus, gewissermaßen der Anfang vom Ende der Diktatur. Manfred Krug, der kürzlich verstorbene große Schauspieler, hat bekanntlich unter höchster Gefahr ein Gespräch in seinem Haus aufgezeichnet, zwischen den Unterzeichnern der Protest-Petition und dem Politbüromitglied Werner Lamberz. Dessen Argumentation dokumentiert, für alle Nachgeborenen nachlesbar, das ganze geistige und kulturpolitische Elend, den Zynismus und die intellektuelle Hilflosigkeit einer Diktatur.

Krug schreibt über Biermann: Er war die Vorhut. Wenn er Richtung Front losging, und es blieb ruhig, konnte man bequem hinterherrobben. Nein, den Biermann wollte keiner loswerden. Der war unverzichtbar für die Orientierung. Als sie uns den weggenommen haben, wurden wir alle zum ersten Mal richtig böse.

Wir wissen, wie die Geschichte weiterging. Das wusste Wolf Biermann damals natürlich nicht und auch nicht die, die gegen seine Ausbürgerung protestierten. Soviel ist heute klar: Das in Freiheit vereinigte Deutschland verdankt sich auch dem Mut und der Entschiedenheit von einigen Menschen in jenen entscheidenden Tagen – und der Haltung des damals aufrechten Linken Wolf Biermann.

Dass er heute längst allen linken Illusionen abgeschworen hat, ja, ein unerbittlicher Feind von allem ist, das auch nur von ferne an kommunistische Ideologie erinnert, das ist allerspätestens bei seinem Auftritt im Deutschen Bundestag am 7. November 2014 jedermann klar geworden. Haltung zeigen und eine Haltung gründlich korrigieren: Dazu braucht man jene Tapferkeit vor dem Freund, von der einst Ingeborg Bachmann gesprochen hat. Und erbitterte Gegner stellen sich von ganz allein ein. Gäbe es ein Lehrbuch über Zivilcourage, jenes leider bis zur Unkenntlichkeit überstrapazierte Wort, es müsste darin ein Kapitel über Leben und Werk Wolf Biermanns geben.

Darum bin ich stolz darauf und dankbar dafür, Wolf Biermann heute hier am Sitz des Staatsoberhauptes zu ehren. Das hat auch schon Horst Köhler einmal getan, aber angesichts der Geschichte, die wir gerade rekapituliert haben, ist es nur angemessen, wenn er einmal von einem Bundespräsidenten aus dem Westen und einmal von einem aus dem Osten geehrt wird.

Dem einst geteilten und nun wieder ganzen Land hat er sein dichterisches Werk vermacht. Und was für eines: Wer unter Deutschlands Dichtern seit Heinrich Heine hat so messerscharf politisch reimen und gleichzeitig auch so zärtliche Gedichte über die Liebe und die schönen Seiten des Lebens schreiben können? Und die hohe Kunst der dialektischen Formulierung traf uns manchmal direkt ins Herz, wenn sie die Widersprüchlichkeit einer Existenz in der DDR in die eine Zeile brachte: Ich möchte am liebsten weg sein – und bleibe am liebsten hier.

Und welches Gedicht der vergangenen Jahrzehnte wurde – und wird wohl noch – in so vielen Jugendzimmern, Studentenbuden und an so vielen anderen Orten an die Wand geheftet, in so viele Tagebücher oder Alben geschrieben, von so vielen Menschen abgeschrieben wie die Ermutigung: Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit...

Ausgerechnet also Ulbrichts bestes Pferd im Bitterfelder Stall, wie die Presse im Westen über einen Auftritt unseres Jubilars in den frühen 1960er Jahren einmal schrieb, der wurde der preußische Ikarus, einer der großen Sprachmeister unserer Literatur und ein Wegbereiter der Einheit und Freiheit unseres Vaterlandes.

Der anfangs erwähnte Thomas Hoepker, der später das vielleicht bekannteste Foto vom 11. September gemacht hat, und der neulich eigens aus New York zu einer Soiree zu Ehren der Fotografie hier ins Schloss kam, ist heute leider nicht da. Sonst hätte er jetzt ein Foto machen können: Biermann, breitbeinig, mitten im Schloss Bellevue – im Kreise von Freunden und Weggefährten, wo der Bundespräsident jetzt das Glas auf sein Wohl erhebt.

Und ein offizieller Mitarbeiter nähme das zu den Akten.