Rede zum Ende der Amtszeit zu der Frage "Wie soll es aussehen, unser Land?" aus der Antrittsrede vom 23. März 2012

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 18. Januar 2017

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 18. Januar zum Ende der Amtszeit zu der Frage "Wie soll es aussehen, unser Land?" eine Rede gehalten: "Wir müssen eine Kommunikation wagen, die deutlich stärker als bisher die Vielen einbezieht und nicht nur die, die regelmäßig am politischen Diskurs teilnehmen. Austausch und Diskussion sind der Sauerstoff der offenen Gesellschaft, Streit ist ihr belebendes Element."


Als ich vor fast fünf Jahren das Amt des Bundespräsidenten übernahm, da habe ich mich und meine Landsleute gefragt, wie es denn aussehen solle, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal unser Land sagen sollen. Und ich fand vieles, auf das wir aufbauen können und das mich dankbar und zuversichtlich für die Zukunft stimmt. In tausenden von Begegnungen habe ich inzwischen auch die Kraft gespürt, die Energie, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes füreinander, für Demokratie, Freiheit und Fortschritt entwickeln. Und ich habe das Privileg gehabt, Deutschland auch mit den Augen von anderen zu sehen. Bei den zahlreichen Reisen ins Ausland habe ich den Respekt, ja manchmal sogar die Bewunderung erlebt, die unserem freien und stabilen Land entgegengebracht werden.

Ja: Wir leben in einer Republik, die persönliches Glück und Fortkommen ermöglicht und die Freiheit mit Chancengerechtigkeit und sozialem Ausgleich zu verbinden sucht. Das Recht ist nicht in der Hand der Macht. Verwaltungs- und Verfassungsgerichte garantieren, dass die Bürger ihre Rechte gegenüber dem Staat geltend machen können. Freie Gewerkschaften gestalten die Arbeitswelt mit, ebenso eine verantwortungsbewusste Unternehmerschaft. Soziale Marktwirtschaft, Kultur und die Künste können sich entfalten, freie Medien in großer Vielfalt beflügeln die Diskurse und befördern die Meinungsbildung. Und dann, besonders erfreulich: Eine starke Bürgergesellschaft aus Initiativen, Vereinen, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und Ad-hoc-Gruppen nimmt Einfluss auf die Gestaltung der öffentlichen Dinge. Es ist, das glaubte ich damals und das glaube ich heute, das beste, das demokratischste Deutschland, was wir jemals hatten. Aber wenn ich an die nachfolgenden Generationen denke, dann wünsche ich mir den Mut, aktuellen Herausforderungen so zu begegnen, dass dieses Land so lebenswert bleibt – am besten noch ohne einige der uns bekannten Mängel.

Nun, nach fast fünf Jahren bin ich stärker beeinflusst von dem Bewusstsein, dass diesem demokratischen und stabilen Deutschland auch Gefahren drohen. Und dass große Anstrengungen notwendig sein werden, um es für die Zukunft stark zu machen. Deshalb möchte ich heute nicht nur fragen: Wie soll es aussehen, unser Land? Sondern, wichtiger noch, ich möchte auch fragen: Was können wir unseren Kindern und Enkeln mitgeben, damit dieses friedliebende, freie und soziale Deutschland erhalten und entwickelt werden kann? Und vor allem: Mit welcher Haltung soll dies gelingen?

Allein schon eine kleine Auswahl der Schlagzeilen aus den vergangenen zwei Jahren, die wir soeben gesehen haben, erinnert uns daran: Die Welt steckt nicht nur voller Widersprüche. Es ist auch vieles einfach anders gelaufen, als wir uns das vor einem guten Vierteljahrhundert vorgestellt hatten – damals, wir erinnern uns, als die Berliner Mauer fiel und wir den Traum von einem Europa der freien und liberalen Demokratien hegten. Ich erinnere mich noch gut an die allgemeine Euphorie, natürlich auch an meine eigene. Der Siegeszug des westlichen Gesellschaftsmodells galt als vorgezeichnet. Ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit, wie es die Charta von Paris zeichnete, erschien auch mir fast naturnotwendig.

Stattdessen sind wir heute in Europa weder alle einig, noch leben wir überall in Frieden. Die Bindekraft der Europäischen Union hat deutlich nachgelassen, Zweifel im Inneren werden auch von außen geschürt. Erstmals will ein Staat sogar die Union verlassen. Die Kriege im Nahen Osten und in der Ostukraine sowie die russische Besetzung der Krim haben die begrenzten Handlungsmöglichkeiten deutscher und europäischer Außenpolitik offenbart. Die Bedrohung durch den islamistischen Terror ist gewachsen. Mit dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten stehen wir vor Herausforderungen für die internationale Ordnung und die transatlantischen Beziehungen, besonders die NATO.

Die Erwartungen vom Ende der Geschichte haben sich also längst zerschlagen – überall in Europa, natürlich auch in Deutschland.

Das Ziel war Freiheit – nun fühlen sich einige in Freiheit bedroht oder gar verloren.

Das Ziel war ein Europa ohne Grenzen – nun erscheint einigen die Offenheit als Bedrohung.

Das Ziel war ein vereinter Kontinent – nun fürchten einige den Verlust von zu viel eigener Souveränität.

In unseren Gesellschaften wachsen zudem Bewegungen heran, die Gegenentwürfe präsentieren, aber keine kohärenten Programme. Doch ihre Denkrichtung, die offenbaren sie deutlich: Sie propagieren die Rückkehr ins Nationale, die Abwehr von Fremden und Freihandel. Sie ziehen kulturelle Geschlossenheit der Vielfalt vor und präsentieren Konkurrenzmodelle zur repräsentativen Demokratie. Sie erklären sich zum alleinigen Sprecher des Volkes und attackieren das sogenannte System. Sie stellen das europäische Projekt in Frage. Einige mischen antiamerikanische und antiwestliche Reflexe mit Sympathien für die autoritäre Herrschaft in Moskau.

Wir kommen nicht umhin, uns dieser Herausforderung zu stellen: Die liberale Demokratie und das politische, normative Projekt des Westens, sie stehen unter Beschuss.

Es ist, als befänden wir uns alle in einer Übergangssituation: das Maß – so empfinden es viele –, in dem wir mit Unwägbarkeiten konfrontiert sind, übersteigt bislang das Maß, in dem wir fähig sind, unsere Demokratie den neuen Herausforderungen anzupassen.

Jede Generation muss ihre eigenen Erfahrungen machen. Aber ein Blick in die Geschichte kann doch hilfreich sein. Dann sehen wir nämlich, dass sehr häufig machtvolle Ängste markante historische Umbrüche begleitet haben: die Furcht vor der Freiheit, die Furcht vor dem Risiko, auch die Furcht vor dem Verlust identitätsstiftender Bindungen in Religion, Kultur und vertrauter Umgebung. Und doch: Die Menschen haben es immer wieder vermocht, eine zunächst als bedrohlich empfundene Entwicklung zu ihrem Guten zu nützen. Sie haben sich mit dem Unvertrauten vertraut gemacht, sich erweiterte Erkenntnis- und Handlungsräume erschlossen und sich schließlich im Neuen beheimatet.

Denken wir nur an die Zeit der industriellen Revolution: Erst pflügte sie die Gesellschaft mit einer Plötzlichkeit ohnegleichen um und schuf gewaltigen Reichtum, aber ebenso schreiendes Elend. Dann aber führte der Widerstand gegen den Manchester-Kapitalismus zu Revolutionen oder Sozialreformen, später dann zu Sozialer Marktwirtschaft und zu einem relativen Wohlstand auch für Arbeiter. Warum sollten wir historische Erfahrungen wie diese nicht ernst nehmen?

Wir wollen weiter darauf vertrauen, dass große Veränderungen sich keineswegs als unentrinnbares, überwältigendes Verhängnis erweisen müssen. Wir sind weiter überzeugt, effektive Antworten finden zu können – auf die politischen Entwicklungen genauso etwa wie auf Klimawandel, Umweltverschmutzung, Bevölkerungswachstum, selbst auf die digitale Revolution, die in nächster Zeit nahezu alle Bereiche unseres Lebens durchdringen wird und unser Bild vom Menschen stark verändern dürfte. Lassen Sie uns also Kraft schöpfen aus der bisherigen Erfahrung, dass vernunftgeleitete Wahrnehmung zu Erkenntnis und zu entschlossenem Handeln und weitsichtigem Handeln führen kann.

Entschlossenes Handeln – ja, aber das kann schwer sein in Zeiten des Wandels, in denen das, was erst wächst, nur begrenzt erkannt werden kann, und wir Unsicherheit zeitweilig aushalten müssen. Es ist auch schwer, entschlossen zu handeln, wenn sich eine Gesellschaft, die seit Jahrzehnten in Frieden und Wohlstand lebt, bequem eingerichtet hat und das Risiko scheut.

Zwar gibt es einerseits bei uns die vielen Ehrenamtlichen und Engagierten, die unserem Land eine innere Verfasstheit von Zusammenhalt und Solidarität geben. Aber andererseits existiert in Teilen der Gesellschaft ein Anspruchsdenken, das den Staat allein als Dienstleister sieht, von dem sie wie Kunden erwarten, dass er ihre Erwartungen und Wünsche möglichst umfassend befriedigt. Aber Demokratie ist kein politisches Versandhaus. Demokratie ist Mitgestaltung am eigenen Schicksal – in der Gemeinde, Stadt, in der Region, in der Nation. Demokratie baut auf den freien Bürger, der Phantasie und Verantwortung nicht abgibt an einen starken Mann oder eine starke Frau, die sagen, wo es langgeht. Demokratie erfordert, ja, sie ist Selbstermächtigung: Wir, die Bürger, sind es, die über die Gestalt unseres Gemeinwesens entscheiden. Und wir, die Bürger, tragen die Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder und Enkel.

Schritt zu halten mit der Realität ist in Zeiten rasanter Veränderungen natürlich auch eine besondere Herausforderung für Regierungen. Wir erleben vielfältige Bemühungen, die Kontrolle zu behalten oder wiederzugewinnen und in Jetztzeit Ideen und Strategien für den Wandel zu entwickeln. Generell gilt: Wer sich in solchen Phasen versitzt in Entscheidungsschwäche und Risikoscheu, oder wer auf halbem Weg stehen bleibt, der muss unter Umständen einen sehr hohen Preis zahlen, finanziell und – wichtiger noch – politisch, und zwar im weitesten Sinn: außenpolitisch, gesellschaftspolitisch, rechts- und sicherheitspolitisch. Nur an zwei wichtige aktuelle Problemfelder möchte ich erinnern:

Einmal: Es ist gelungen, die Zahl der Flüchtlinge und illegalen Einwanderer nach Europa und nach Deutschland deutlich zu reduzieren. Aber alle wissen: Ohne eine effiziente Sicherung der europäischen Außengrenzen, ohne eine geregelte europäische Einwanderungspolitik und letztlich ohne Verbesserung der Lebensumstände in den Herkunftsländern werden krisenhafte Zuspitzungen auch in Zukunft zu erwarten sein. Und manche der europäischen Gesellschaften könnten mit Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Migranten auch überfordert sein.

Zum anderen: Es ist unter enormer Anstrengung gelungen, für die Stabilisierung des Euro Instrumente zu entwickeln, um die Gemeinschaftswährung nicht preiszugeben. Aber alle wissen, dass die Zukunft der gemeinsamen Währung wohl auf längere Sicht am besten mit einer gemeinsamen Haushalts- und Finanzpolitik zu sichern wäre.

Entschlossenes und weitsichtiges Handeln generiert Vertrauen. Wenn aber für Teile der Bevölkerung die Regierenden nicht mehr Herr der Lage sind, haben Populisten einen Grund mehr, Zweifel an der liberalen Demokratie zu säen.

Keinesfalls sollte allerdings geschehen, wovor der amerikanische Politologe Francis Fukuyama warnt: dass der Begriff des Populismus zu einem Etikett wird, mit dem politische Eliten die bei ihnen unbeliebten politischen Ansichten einfacher Bürger versehen und pauschal aus dem Diskurs ausgrenzen.

Ja, die Einbeziehung von Positionen und Themen, die von der politischen Mitte kritisch beäugt werden, verschärft die Debattenlage, natürlich – aber sie kann auch hilfreich sein, denn sie erhöht mittelfristig die Akzeptanz demokratischen Regierens. Das ist es doch, was wir wollen: Eine repräsentative Demokratie soll eben möglichst viele Bürger repräsentieren. Das bedeutet natürlich nicht, Ressentiments zu adeln und Vorurteilen den Rang von Argumenten einzuräumen.

Ich denke: Wir müssen eine Kommunikation wagen, die deutlich stärker als bisher die Vielen einbezieht und nicht nur die, die regelmäßig am politischen Diskurs teilnehmen. Austausch und Diskussion sind der Sauerstoff der offenen Gesellschaft, Streit ist ihr belebendes Element. Das mag so manchem nicht gefallen, aber daran zu erinnern, scheint mir gerade jetzt angemessen.

Die Vielzahl von Lebensentwürfen hat in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Milieus mit jeweils eigenen Kommunikationswegen hervorgebracht. Pluralität existiert oft nicht mehr in einem Miteinander, sondern in einem unverbundenen Nebeneinander oder sogar Gegeneinander. Umso wichtiger ist es, der Zersplitterung entgegenzuwirken, und zwar möglichst in Begegnungen mit Menschen, die anders denken als man selbst. Eine substanzielle Auseinandersetzung ist oft die Vorstufe eines Kompromisses und der Ausgangspunkt von Veränderung – und damit der Entwicklung der Demokratie.

Darum schließe ich mich dem fast paradoxen Vorschlag des englischen Historikers Timothy Garton Ash an, der für die Diskussionskultur eine robuste Zivilität fordert. Das meint doch wohl: heftig streiten – aber mit Respekt und manchmal auch mit dickem Fell. Heftig streiten auch, füge ich hinzu, aber eben wie im Sport unter Anerkennung von Regeln.

Die Demokratie ist ein großes Zelt. Für mich endet das Miteinander in ihm erst dort, wo Parteien, Bewegungen und Individuen die Normen und Gesetze der Demokratie übertreten. Wo sie Hass predigen und Gewalt ausüben – egal, ob aus rechts- oder linksextremistischer, aus islamistischer oder sonst irgendeiner Motivation heraus.

Wir leben in rauen Zeiten: Oft ist nicht mehr erkennbar, was wahr ist und was falsch. Vor allem in den sozialen Netzwerken wird fast grenzenlos gelogen, beschimpft, verletzt. Ausländische Mächte betreiben zudem gezielt Informationskriege zur Destabilisierung anderer Staaten. Das fällt umso leichter, als Emotionen für die Meinungsbildung oftmals entscheidender geworden sind als Fakten. Wir sollten uns vor Augen führen: Wenn wir nur noch das als Tatsache akzeptieren, was wir ohnehin glauben, wenn Halbwahrheiten, Interpretationen, Verschwörungstheorien oder Gerüchte genauso viel zählen wie Wahrheit, dann ist der Raum freigegeben für Demagogen und Autokraten.

Nur wenn wir an Tatsachen, wenn wir an Wahrheit festhalten, lässt sich Macht bewerten und – wo erforderlich – kritisieren. Lassen wir es nicht dazu kommen, dass sich Macht wieder ohne das wahrheitsgestützte Argument durchsetzt. Verteidigen wir stattdessen die Demokratie als eine Macht, die sich dem Argument anvertraut und sich von ihm leiten lässt.

Kürzlich erzählte mir eine Bekannte, dass sie an einem ruhigen Abend das Grundgesetz aus dem Bücherregal gezogen habe und dann darin gelesen habe – noch einmal, und zwar ganz bewusst. Und zu ihrer eigenen Überraschung habe die Lektüre nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihr Herz erreicht. Sie habe plötzlich Stolz auf ihre Vorfahren verspürt, die Deutschland nach so vielen Jahren der Kriege und der Diktatur auf eine demokratische Grundlage gestellt haben. Und sie habe sich innerlich gestärkt gefühlt, weil ihr bewusst geworden sei, wie modern das Grundgesetz nach wie vor ist und warum seine Normen und sein Geist weiterhin als Richtschnur für Denken und Handeln dienen können.

Diese Frau hat sich an jenem Abend politisch zugehörig empfunden. Zugehörig zu einer Bürgergesellschaft, die jene Werte und Institutionen schätzt, die unserem Land Freiheit, Wohlstand, Rechtssicherheit, soziale Absicherung und Frieden gebracht haben. Zugehörig zu Bürgern, die bereit sind zu vertreten und zu verteidigen, was sie nicht verlieren wollen, weil es ihnen lieb und wert ist.

Ich erwähne dieses Beispiel, weil es ein kleiner Beleg dafür ist, dass das in der akademischen Welt geborene Wort Verfassungspatriotismus nicht nur ein Theorem ist, sondern Lebenswirklichkeit sein kann – überall dort, wo Menschen diese Geneigtheit gegenüber der Demokratie empfinden. Sie widerlegt all jene, die den Verfassungspatriotismus für ein blasses, blutleeres Konstrukt halten, einen Notbehelf aus den Zeiten der geteilten und moralisch diskreditierten Nation.

Auch meine eigene Bindung an die Verfassung, also mein eigener Verfassungspatriotismus resultiert nicht nur aus intellektueller Einsicht, sondern ebenso aus emotionaler Berührtheit. Dieses Land ist die Heimat meiner Werte – es ist es geworden. Besonders deswegen fühle ich mich hier zugehörig, zuhause.

Wie viele meiner Generation habe ich Vertrauen und Zugehörigkeit zu Deutschland erst spät entwickeln können, als es eben nicht mehr vor der eigenen Schuld weglief, sondern existenzielle Selbstbefragung wagte. Letztlich sind es das Demokratiewunder im westlichen Nachkriegsdeutschland und das spätere Ja der Ostdeutschen zur Demokratie mit der Friedlichen Revolution, die mich als Verfassungspatrioten in diesem so gewordenen Deutschland beheimateten, mit meinem Herzen wie mit meinem Verstand. Teilte ich doch mit unzähligen anderen Menschen die Erfahrung, dass die Ziele unserer Sehnsucht, dass Freiheit und Selbstbestimmung tatsächlich politische Wirklichkeit wurden.

Als Verfassungspatriot bleibe ich natürlich aber auch Deutscher. Ich lebe mit unserer Sprache, mit unseren Liedern, mit unserer Literatur. Ich lebe mit unseren wunderschönen Landschaften und mit unserer so unglaublich wechselvollen Geschichte. Eine demokratische Verfassung mit universellen Werten zu schätzen heißt ja nicht, die eigene Kultur abzustreifen oder historisch gewachsene Eigenheiten zu ignorieren.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nur an die Herausbildung unseres auch verfassungsmäßig verankerten Sozialstaats erinnern – eine Errungenschaft, um die uns manch anderer Staat in der Welt beneidet. Sozialistische und sozialdemokratische Vorstellungen haben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit konservativen Ideen eines christlichen Menschenbildes verbunden: Und durch staatliche Umverteilung sollte jenen geholfen werden, die in Not gerieten. Bismarcks Kranken- und Unfallversicherung, so unzureichend sie auch sein mochte, machte Deutschland weltweit zum Vorreiter eines staatlichen Sozialsystems, das sich historisch stetig weiter entwickelte.

Vor 45 Jahren sagte Willy Brandt: Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land! Ich hätte damals noch nicht so sprechen können. Das gilt, wenn ich mir diesen Satz anhöre, ganz besonders für den inneren Frieden, den wir in Deutschland nicht zuletzt aufgrund unseres Sozialstaates, aber auch durch wachsende Chancengerechtigkeit geschaffen haben. Unser Land kann nicht jedem Bürger einen gefüllten Tresor schenken, aber es ist unerlässlich, den vielen Verschiedenen unterschiedslos die gewünschte Bildung zu ermöglichen. Das ist leider heute noch nicht überall der Fall. Aber wir sind auf dem Weg zu mehr Chancengerechtigkeit schon ein gutes Stück vorangekommen. Diese und andere kostbare Errungenschaften, sie dürfen nicht aufs Spiel gesetzt werden. Wir müssen erhebliche Phantasie und großen Willen aufwenden, um sie für nachkommende Generationen zukunftsfest zu gestalten.

Von unseren historischen Erfahrungen geprägt sind auch andere Kernbereiche des Grundgesetzes. Unter dem Eindruck der Weimarer Republik, die sich als wehrlos gegenüber dem Aufstieg des Nationalsozialismus erwies, haben die Schöpfer des Grundgesetzes eine eindeutige Richtungsentscheidung getroffen. Die neue deutsche Demokratie sollte nicht schwach, sondern wehrhaft sein. Sie sollte – so sagte es Carlo Schmid, einer der großen Nachkriegspolitiker – auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.

Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, der jede Opposition verfolgte und das Individuum einem diktatorischen Regime unterwarf, hat sich bei vielen aber auch die Furcht vor einem starken Staat erhalten. Liberale Grundrechtsverteidiger etwa befürchten, verstärkte Sicherheitsbestimmungen könnten die individuellen Freiheitsrechte zu stark einschränken. Da stehen wir vor einem Dilemma: Ja, die Freiheit schränkt ein, wer der Sicherheit unverhältnismäßig viel Raum einräumt. Aber der Rechtsstaat verliert, wenn er sich im Kampf gegen Gewalt und Terror als zu schwach oder gar hilflos erweist. Nicht zuletzt verliert er seine Vertrauenswürdigkeit.

Lassen Sie mich daran erinnern: In Deutschland existiert ein kostbares, keineswegs selbstverständliches Gut – die weit verbreitete Rechtstreue der Bevölkerung. Diese Haltung ist entstanden, weil sich die Menschen auf die ordnende und schützende Hand des Staates verlassen konnten. Es gehört zu den herausragenden Aufgaben des demokratischen Staates, dieses wertvolle Gut zu erhalten. Insofern ist es doch gegenwärtig so, dass mehr Sicherheit keine Gefahr für die Demokratie bedeutet, mehr Sicherheit ist vielmehr ein Erfordernis zu ihrem Schutz.

Wir brauchen eine engere internationale Zusammenarbeit und eine effektivere Gefahrenabwehr im Inneren. Was wir allerdings ganz besonders brauchen, ist wirksame Prävention durch politische, kulturelle und religiöse Bildung, so dass Menschen gar nicht erst in den Bann von Extremisten gleich welcher Couleur geraten. Wir brauchen Demokratieerziehung, weiterhin und noch intensiver als bisher – beginnend in den Familien, dann aber auch in den Kindergärten, Schulen, in den Integrationskursen, Universitäten bis hinein in die Medien, auch und gerade im Internet.

Demokratie leben und lernen– als Respekt vor dem Anderen.

Demokratie lernen und leben – als Verantwortung für das Gemeinwesen.

Demokratie lernen und leben – als ständige Selbstermächtigung zur politischen Teilhabe.

Dann bemerken wir: Demokratie ist nicht einfach nur, Demokratie wird. Sie lebt, und sie ist lernfähig. Neue Themen, neue Generationen und neue Kommunikationswelten erfordern immer wieder neue, der Zeit und den Erfordernissen angepasste Antworten. So hat der Staat etwa den Schutz von ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheiten in das demokratische Gefüge eingebaut. Er hat neue Gebiete des Rechts erschlossen, etwa mit dem Datenschutzrecht, dem Umweltrecht, und steht jetzt vor der großen Herausforderung zur Regelung der digitalen Technologie. Die Mühlen der Demokratie mahlen vielleicht langsam, aber die Geschichte zeigt, dass trotz mancher Rückschläge kein anderes System politisch und ökonomisch so anpassungsfähig, so effektiv und damit so erfolgreich ist wie eben die Demokratie.

Die Mütter und Väter unserer Verfassung wollten nicht nur eine wehrhafte, eine streitbare Demokratie, sie wollten auch eine wertebasierte Demokratie. Sie setzten sich Frieden und Gerechtigkeit zum Ziel und stellten den Schutz der Menschenwürde unter eine Ewigkeitsklausel, die jede Veränderung ausschließt. So haben wir nun beides: eine unverbrüchliche, geschützte Grundlage für unsere Demokratie und einen offenen Raum, in dem Pluralität leben soll. Dieses dialektische Miteinander von Bindung und Freiheit hat im Laufe der Jahrzehnte noch an Bedeutung gewonnen. Denn die Gesellschaft ist sehr viel heterogener geworden – politisch, kulturell, religiös, ethnisch und auch in Hinsicht auf die Anerkennung sexueller Orientierung.

Im jungen Einwanderungsland Deutschland ist dieses Wechselspiel von Bindung und Freiheit immer noch und immer wieder eine Herausforderung. So sind Einheimische und Eingewanderte einerseits verpflichtet, in gleicher Weise die Verfassung und die Gesetze zu achten. Andererseits ist es Einheimischen und Eingewanderten überlassen, nach eigenen kulturellen oder religiösen Überzeugungen zu leben – so, wie sie es individuell für richtig halten und solange sie nicht die Freiheit des Anderen einschränken.

Für ein gedeihliches Miteinander ist aber die Bereitschaft zur Offenheit erforderlich: von den einen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, von den anderen gegenüber den Minderheiten. Die einen müssen Teilhabe wollen und die anderen Teilhabe ermöglichen. Was keinen Platz hat in diesem Miteinander, das sind Verunglimpfung, Hetze, Ausgrenzung und Hass, und erst recht keine Gewalt gegenüber den Eingewanderten. Andererseits darf die Angst vor dem Vorwurf des Rassismus nicht dazu führen, dass wir Intoleranz und Normenverletzungen unter Einwanderern verschweigen oder die Diskussion darüber unterlassen, welches Islamverständnis etwa zu einer säkularen, demokratischen Gesellschaft passt.

Lassen Sie es mich so sagen: Die entscheidende Trennlinie in unserer Demokratie verläuft nicht zwischen Alteingesessenen und Neubürgern, auch nicht zwischen Christen, Muslimen, Juden oder Atheisten. Die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten. Es zählt nicht die Herkunft, es zählt die Haltung. Gerade unter den Einwanderern finden sich viele, die unser Land hoch zu schätzen wissen, weil sie hier zu Wohlstand gekommen sind und hier in Frieden, Freiheit und Rechtssicherheit leben können, fern ihrer Heimat und doch am Ziel ihrer Sehnsucht.

Wer die Demokratie liebt, wird sie schützen, nicht allein gegen die Feinde der offenen Gesellschaft im Inneren. Wer die Achtung der Menschenwürde zu einem Wesenskern der eigenen Verfassung macht, wird Mitverantwortung übernehmen auch für den Fortbestand der internationalen Ordnung, deren Kern gemeinsame Normen und Werte und deren Ziel die Aufrechterhaltung von Frieden und Recht sind.

Wir wissen längst: Deutschland kann sich nicht zur Insel machen, kann sich nicht abschotten von der Welt, kann sich nicht einfach ins Nationale zurückziehen. Frieden und Wohlergehen im eigenen Land sind untrennbar verwoben mit Frieden und Wohlergehen andernorts, und institutionell sind wir verwoben mit internationalen Organisationen und militärischen Bündnissen, deren Mitglied Deutschland ist. Was etwa in China geschieht, hat Auswirkungen auf unser Leben in Deutschland. Es träfe uns auch unmittelbar, wenn die Vereinigten Staaten ihre Haltung zur Europäischen Union oder dem westlichen Sicherheitsbündnis tatsächlich verändern sollten.

Jeder Tag konfrontiert uns zudem aufs Neue mit der Tatsache, dass das, was sich in Syrien zuträgt, Einfluss hat auf Fluchtbewegungen nach Deutschland. Und das, was etwa in Maghreb-Staaten passiert, die Terrorgefahr in Deutschland erhöhen kann.

Jeder Tag stellt uns zudem vor die Frage, ob wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren, wenn wir uns nicht wenigstens in den dramatischsten Fällen von Inhumanität, brutaler Verfolgung sowie der Vernichtung von Menschenleben auf der Welt entgegenstellen. Wir müssen uns fragen, ob wir moralisch abstumpfen, in Fatalismus oder Zynismus verfallen und damit den Anspruch auf die universelle Geltung der Menschenrechte untergraben.

Auch auf der internationalen Bühne gilt: Wer entschlossenes und reflektiertes Handeln durch Zuwarten ersetzt, überlässt anderen das Gesetz des Handelns. Nicht zuletzt durch amerikanische Selbstbeschränkung entstehen Zonen, in denen sich Mächte neu gruppieren oder neue Ansprüche anmelden. Sich autoritär gebende Staatenlenker sind längst dabei, eigene Regeln zu diktieren, anerkannte Normen internationaler Zusammenarbeit ihrer Machtpolitik unterzuordnen und eigene Ordnungen zu schaffen.

Deutschland – doch eigentlich die ganze Europäische Union – kann natürlich zusehen und Schadensbegrenzung betreiben. Aber Deutschland, als starker und verantwortungsvoller Partner in der Union, kann auch mehr Gestaltungswillen als bisher für das größere Ganze aufbringen. Wir können? Nein, müssen! Wir müssen mehr tun, um gemeinsam mit anderen Ordnung zu erhalten, Konflikten vorzubeugen, Krisen zu entschärfen und Gegner abzuschrecken. Das heißt auch: Wir müssen mehr tun, um die Europäische Union zu stabilisieren und den inneren und äußeren Versuchen, sie zu spalten, entgegenzuwirken.

Trotz mancher Selbstzweifel und interner Krisen: Mit der Europäischen Union ist ein einzigartiges Friedens- und Wohlstandsprojekt entstanden. Deutschland und die meisten anderen europäischen Staaten sind überzeugte Mitglieder der NATO, deren Bedeutung angesichts der augenblicklichen Entwicklung ja nicht ab-, sondern wieder zunimmt! Deutschland und die Europäische Union sind gewichtige Stimmen in der Welt. Und sie haben allen Grund, sich selbstbewusst für den Schutz einer internationalen Ordnung einzusetzen, die auf der Idee von Frieden, Demokratie und Menschenrechten gründet. Angesichts der vor uns liegenden gewaltigen Herausforderungen können und dürfen wir Europäer, wir Deutschen uns dieser Verantwortung nicht entziehen.

In den vergangenen Jahren ist schon einiges geschehen. Ein Mentalitätswandel hat eingesetzt. Der politische Wille zu wirksamem und effektivem Engagement, er ist gewachsen. Die Bundesregierung hat verschiedenste Instrumente entwickelt, um auf Krisen zu reagieren, und sie gibt dafür auch mehr Geld aus.

Trotzdem kommt Deutschland gegenwärtig bei weitem noch nicht allen Verpflichtungen nach. Ich unterstütze deshalb, dass wir einhalten, was wir unseren Partnern und Freunden zugesagt haben. Gemessen an den Herausforderungen unserer Zeit und an unseren Möglichkeiten, könnten und sollten wir deutlich mehr tun: für Krisenprävention und Diplomatie, für Entwicklungszusammenarbeit und Missionen der Vereinten Nationen, aber auch für eine verbesserte Verteidigungsfähigkeit im westlichen Bündnis. Denn die Aussage, es könne niemals eine militärische Lösung geben, sie klingt ja gut, und sie ist gut, allerdings nur, solange sich alle Seiten an diese Maxime halten. Ich unterstütze daher verstärkte europäische Verteidigungsbemühungen, die weitere diplomatische Bemühungen um Deeskalation keineswegs ausschließen. Und ich trete ein für eine unzweideutige Klarstellung gegenüber unseren osteuropäischen Nachbarn: Die Beistandspflicht der NATO gilt ohne Abstriche.

Niemand muss sich sorgen, dass Deutschland seinen Charakter als friedliebendes und dialogbereites Mitglied der internationalen Gemeinschaft verliert. Im Gegenteil: Es geht darum, die Bedingungen für Friedfertigkeit und Dialogbereitschaft zu schaffen. Dafür muss sich Deutschland engagieren, wenn das eigene Land und andere europäische Staaten nicht zum Spielball der Interessen jener werden sollen, die ganz andere Ziele verfolgen. Das ist der Kern der wehrhaften Demokratie, das ist republikanische Verteidigungsbereitschaft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war nicht absehbar, dass Deutschland wieder integraler Bestandteil der abendländischen Zivilität werden könnte. Und mussten die Baumeister der frühen Bundesrepublik noch daran zweifeln, ob die tief gefallenen Deutschen jemals wahre Demokraten werden könnten, so haben die Nachgeborenen aus dem Wissen um die Schuld ihrer Vorfahren eine besondere Verantwortung, ja, Verpflichtung gespürt, ein glaubwürdiges, ein verlässliches und damit gegen Verführung immunes Ja zur neu erstandenen Demokratie zu leben. Es sollte nie wieder ein nationalistisches, sondern ein europäisches Deutschland sein, das sie gemeinsam erbauten und in dem auch die Ostdeutschen ihren Platz erstrebten und später fanden.

Selbstvertrauen, um das es mir so sehr geht, haben wir lange nicht leben wollen, nicht leben können. Zu nah schien es uns an einem Gefühl unaufgeklärten Stolzes. Und so entstand die dominierende Kultur von Zurückhaltung und Selbstbeschränkung. Aber wann, wenn nicht mit dem Aufbau der Demokratie in Westdeutschland und der Friedlichen Revolution im Osten, mit der Vereinigung Deutschlands und Europas, wann hätte es bessere Gründe für ein gesundes Selbstvertrauen gegeben?

Wenn wir übersehen, welche Potenziale in uns stecken, werden wir verharren in einer ewigen politischen Warteschleife – in einer unheilvollen Kultur von Ängstlichkeit, Indifferenz und Selbstzweifel. Bis andere, mit anderen Werten und ganz ohne Selbstzweifel, Hand an unsere Lebenswelt, an unsere Freiheit legen.

Wenn ich mich nun frage, was das Wichtigste ist, das wir unseren Kindern und Kindeskindern mit auf den Weg geben, so ist es für mich vor allem eine Haltung: Es ist das Vertrauen zu uns selbst, das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Wir bleiben gelassenen Mutes.

Mögen Ängste uns auch begleiten: Wir lassen uns das Vertrauen zu uns selbst und zu unserer Demokratie nicht nehmen.

Mögen die Verführer auch den Talmiglanz eines abgelebten Nationalismus preisen: Wir bleiben Deutsche als Europäer.

Mögen die Unwägbarkeiten der Zeit uns auch erschrecken: Wir fliehen nicht aus der Verantwortung.

So entschieden wie wertetreu geben wir eine tiefe, in uns gewachsene Überzeugung weiter: Das, was wir geschaffen haben und was uns am Herzen liegt, werden wir bewahren, entwickeln und verteidigen.