Mittagessen anlässlich des Antrittsbesuchs des Präsidenten der Republik Österreich

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 3. März 2017

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 3. März beim Mittagessen anlässlich des Antrittsbesuchs des Präsidenten der Republik Österreich eine Ansprache gehalten: "Die Europäische Union will nationale Identitäten nicht auslöschen, sondern integrieren. Auf diese Weise entsteht ein stabiles, belastbares Gewebe des Miteinanders, das den Anfeindungen des Nationalismus und Populismus von innen wie von außen widerstehen wird."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Tischrede beim Mittagessen im Schinkelsaal anlässlich der Begrüßung mit militärischen Ehren des Präsidenten der Republik Österreich Alexander Van der Bellen in Schloss Bellevue

Seien Sie herzlich willkommen in Berlin. Ich freue mich sehr, Sie in Schloss Bellevue begrüßen zu können, und ich freue mich noch mehr, dass mit Ihrem Antrittsbesuch meine eigene Amtszeit auf eine so erfreuliche und ermutigende Weise ausklingt.

Wie gewinnt man Menschen für Europa? An Ihrem Beispiel ließ sich das im vergangenen Jahr auf ebenso wohltuende wie ermunternde Weise studieren: mit Haltung, Selbstvertrauen und Überzeugung, aber auch mit Geduld, Offenheit und Toleranz, die man ja immer auch von sich selbst verlangen muss, wenn man sie anderen empfehlen will.

Ich wiederhole deshalb gern, was ich Ihnen schon im Dezember vergangenen Jahres nach Ihrer Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten geschrieben habe: Deutschland freut sich auf eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Ihnen. Es ist schön, Sie im Ringen um ein einiges, starkes und handlungsfähiges Europa an unserer Seite zu wissen.

Wo immer wir Heimat gefunden haben in diesem Europa, stellen wir fest, dass das, was wir lieben und uns vertraut ist, sich den unterschiedlichsten Einflüssen verdankt. Unsere kulturellen Wurzeln greifen weit über Grenzen hinaus. Sie, verehrter Herr Bundespräsident, sind gewissermaßen eine Verkörperung dieses Gedankens.

Ihre Vorfahren stammen aus Holland und ließen sich im 18. Jahrhundert im Russischen Zarenreich nieder, von wo die Revolution Ihren russischen Vater und Ihre estnische Mutter 1919 vertrieb. Sie wurden in Wien geboren und wuchsen in Tirol auf. In Ihrer bemerkenswerten Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, vor wenigen Tagen, zogen Sie aus dieser Familiengeschichte den Schluss: ethnisch und kulturell bin ich Österreicher und ein Kind Europas, entstanden aus einer glücklichen Verbindung einzigartiger Umstände.

Wer Europa, jedenfalls in seinen hellsten Stunden, als glückliche Verbindung einzigartiger Umstände begreift, der weiß, dass eine europäische und eine österreichische, deutsche, französische oder italienische Identität einander nicht widersprechen. Sie greifen vielmehr ineinander, können einander überlagern, ja manchmal bedingen sie einander sogar. Viele Deutsche haben nur als Europäer zu einem Verhältnis zur eigenen Nation zurückgefunden. Man kann Europäer sein und Österreicher, Deutscher, ja auch Engländer, wie wir wissen. Sie haben das in Ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament in sehr einleuchtender und überzeugender Weise in Worte gefasst: Europa ist ein Kontinent des und, nicht des entweder/oder.

Diese Überzeugung redet nicht der Gleichmacherei das Wort. Europa wird ein Kontinent der Verschiedenheiten, manchmal sogar der Widersprüche bleiben. Eine Gemeinschaft wie die Europäische Union ist kein statisches Gebilde, sie muss, um auf Herausforderungen reagieren zu können, offen und beweglich bleiben, und sie sollte sich der Gefahren bewusst sein, die ein Übermaß an Zentralisierung und bürokratischer Rationalisierung bedeuten.

Die Europäische Union will nationale Identitäten nicht auslöschen, sondern integrieren. Auf diese Weise entsteht ein stabiles, belastbares Gewebe des Miteinanders, das den Anfeindungen des Nationalismus und Populismus von innen wie von außen widerstehen wird.

Deutschland und Österreich wissen aus den Erfahrungen der jüngsten Zeit sehr gut, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei der Lösung von Problemen aufeinander angewiesen sind. Die Aufnahme schutzbedürftiger Flüchtlinge, aber auch die Bekämpfung des Schleuserunwesens sind Aufgaben, die weder Österreicher noch Deutsche allein bewältigen werden. Es sind Herausforderungen für Europa, denen wir mit Geschlossenheit begegnen müssen. Dass es dabei auch zu Diskussionen um die angemessenen Mittel und Wege kommt, das ist selbstverständlich und vielleicht sogar im Sinne der Sache. So wird es kaum einen Ausgleich von Interessen ohne Kontroversen geben.

Österreicher und Deutsche können zum europäischen Zusammenhalt beitragen. Uns verbindet vieles: Wir sind einander wichtige Handelspartner, wir besuchen einander gern, und wir leben gern miteinander, die Deutschen in Österreich, die Österreicher in Deutschland. Wir teilen eine wechselvolle, reiche, zuweilen auch düstere Geschichte. Ja, selbst die gemeinsame Sprache verbindet uns wieder, nachdem Germanisten auf beiden Seiten der Grenze versichern, dass Karl Kraus Gegenteiliges niemals behauptet habe.

Ich weiß die österreichisch-deutsche Freundschaft bei Ihnen, verehrter Herr Bundespräsident, und bei meinem Nachfolger Frank-Walter Steinmeier gut aufgehoben. Und ebenso sicher weiß ich, dass Sie die europäischen Herausforderungen annehmen werden.

Ich bitte Sie, das Glas zu erheben auf den Präsidenten der Republik Österreich, auf die Freundschaft unserer beiden Länder und ihre Zukunft in einem geeinten Europa!