Bundespräsident a. D. Joachim Gauck bei der Vereidigung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 22. März 2017

Joachim Gauck hat am 22. März bei der Vereidigung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Bundesrats eine Rede gehalten: "Wir brauchen, hier wie draußen, überall Menschen, die sich immer wieder selbst ermächtigen, um unser Zusammenleben zu stärken und zu verbessern. Wir brauchen eine Bürgergesellschaft, die gerade in der heutigen Zeit Einheimische und Eingewanderte im Streben nach dem demokratischen Rechtsstaat vereint."

Joachim Gauck hält eine Rede im Deutschen Bundestag bei der Vereidigung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Bundesrats

Es ist nun fünf Jahre her, als ich hier stand, schon einmal vor Bundestag und Bundesrat. Damals als Bundespräsident durfte ich jenen Eid leisten, den gleich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hier ablegen wird. Heute darf ich noch einmal zu Ihnen sprechen; ich tue es diesmal als Bürger.

Als Erstes muss ich gestehen: Diese fünf Jahre als Bundespräsident, sie sind wie im Flug vergangen. Aber sie sind weitgehend anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt habe. Einmal mehr hat sich bestätigt: Geschichte ist nicht vorgezeichnet, sie ist auch nicht vorhersehbar. Sie ist voller Überraschungen – im Guten, aber leider auch im Bösen.

Ordnungen, die nahezu unverrückbar erschienen, sie haben Risse bekommen oder lösen sich manchmal sogar auf. Landesgrenzen gar werden nicht mehr von allen respektiert, internationale Verträge, internationale Bündnisse und demokratische Spielregeln nicht mehr von allen beachtet. An den Rändern Europas herrschen kriegerische Aktivitäten.

Die demokratische Ordnung, einst Sehnsuchtsziel vieler Länder Europas und in der Welt, sie hat für manche ihre Attraktivität verloren. Nationalistisches, autoritäres und fundamentalistisches Denken hingegen hat an Boden gewonnen. Demokratie und Freiheit sehen sich von innen wie von außen unterschiedlich starken Gegenkräften ausgesetzt. All dies hat viele verstört und auch erschreckt und zu überraschenden Veränderungen in der politischen Landschaft einzelner Länder geführt.

Doch gestatten Sie mir heute, nicht die Sorgen und Ängste in den Mittelpunkt zu stellen. Vielmehr möchte ich Sie alle teilhaben lassen an Eindrücken und Erfahrungen aus meiner Zeit als Bundespräsident, die mein Verhältnis zu diesem Land verändert haben, Eindrücke und Erfahrungen, die in mir das Gefühl großer Dankbarkeit ausgelöst haben. Bei den Auslandsreisen konnte ich, ähnlich wie Frank-Walter Steinmeier es schon beschrieben hat, unser Land mit den Augen von Fremden erblicken und es so neu schätzen lernen. Eine beglückende Erfahrung wurde dadurch bestärkt: Viele Länder orientieren sich bei ihrem gesellschaftlichen Wandel an unserem Modell des Rechtsstaates, an unserer demokratischen Praxis mit dem umstandslosen und friedlichen Wechsel von Regierungen, nicht zuletzt auch an unserem Sozialstaat und unserer Sozialpartnerschaft mit ihren ausgleichenden Wirkungen auf die ganze Gesellschaft. Viele Länder schätzen Deutschland auch als verlässlichen Bündnispartner und als Stabilitätsanker in einer Welt der Unwägbarkeiten. Länder mit eigener Diktaturerfahrung orientieren sich auch an Deutschlands selbstkritischem Umgang mit seiner Vergangenheit, am Umgang mit Schuld und Versagen.

Ich habe oftmals, und zwar auf eine außerordentlich berührende Weise, erlebt, wie Überlebende oder deren Kinder, Enkel und Urenkel es wissen und spüren: Das Deutschland von heute verurteilt und verfolgt Naziungeist und -methoden wie kaum ein anderes Land. An den Stätten des einstigen Grauens, etwa im französischen Oradour-sur-Glane, im griechischen Lingiades, im italienischen Sant’Anna di Stazzema, im tschechischen Lidice, sind mir Menschen daher im Geist der Versöhnung und sogar mit Freundschaft begegnet. Ja, ehemalige Opfer haben Vertrauen zu Deutschland entwickelt, und Migranten wählen Deutschland als neue Heimat, darunter Abertausende von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Für einen, der im Krieg geboren ist, ist dies eine unglaubliche und wunderbare Erfahrung und Grund zu tiefer Dankbarkeit.

Mögen sich viele zu Recht über das einstige Wirtschaftswunder und den wirtschaftlichen Aufschwung unseres Landes, der ja immer noch anhält, beständig freuen und sich dafür begeistern, für mich gibt es eine noch größere Leistung der alten und neuen Bundesrepublik: Es ist das beglückende Demokratiewunder, das unser Land bis heute prägt.

Die dunklen Schatten der Vergangenheit begleiten uns noch, aber sie dürfen auch die Erfahrungen und Prägungen der letzten Jahrzehnte nicht überdecken – Erfahrungen und Prägungen, die bestimmt wurden durch Teilhabe am normativen Projekt des Westens. Wir haben allen Grund, das Erreichte mit Freude und Dankbarkeit anzuschauen. Welch andere Ordnung hat den Menschen ähnlich viel Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden gebracht? Welch andere Ordnung hat auch nur annähernd so erfolgreiche Wege zu Korrekturen gefunden, Korrekturen, die nicht durch Gewalt oder Bürgerkrieg, sondern durch Dialog und Gewaltlosigkeit erzielt wurden?

Nach meiner fünfjährigen Amtszeit ist mir noch mehr als zuvor bewusst: Unsere Gesellschaft hat ein zunehmend reflektiertes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein gewonnen; sie hat sich damit selbst beschenkt. Denn Vertrauen und Zutrauen zu sich selbst geben Kraft und eröffnen Zukunft. Wir dürfen die sein, die sich mehr Verantwortung zutrauen – in Deutschland, in Europa und in der Welt.

Schauen wir uns gegenwärtig um: Trotz der Verunsicherung in letzter Zeit sind die meisten Bürger nicht in Verzagtheit verfallen, haben sich nicht ins Private abgesetzt oder sind gar in Wut und Hass verfallen.

Ich habe in den Jahren meiner Präsidentschaft unzählige Arbeiter und Angestellte, Unternehmer und Wissenschaftler, Schüler, Eingewanderte, Tausende von Ehrenamtlichen in den verschiedensten Landesteilen gesprochen. Ich habe dabei die Gewissheit gewonnen: Diese Bürger verschließen nicht die Augen vor den großen Problemen unserer Zeit. Das Erstarken antidemokratischer Kräfte wird von ihnen oftmals sogar als ein Weckruf empfunden. Weil das Bewusstsein von Bedrohungen wächst, wächst eben auch das Rettende. Wir Bürger werden gerade wieder wacher, und wir packen mehr an. Viele von uns lernen wieder – und einige neu: Frieden und Demokratie können gelingen, weil wir sie wollen. Deshalb!

Diese Kraft, diesen Optimismus, diese Zukunftszugewandtheit einer starken Zivilgesellschaft spüren zu dürfen, das war eine der beglückendsten und eine mich stärkende Erfahrung dieser Präsidentschaft. Ich bin zutiefst dankbar dafür.

Vor mir sehe ich sie, die Bürger, die sich den neuen Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft wirklich stellen und den Vereinfachern und Verführern mit der Kraft der Vernunft begegnen. Sie widerstehen dem traditionellen politischen Extremismus, verschließen aber auch die Augen nicht vor neuem Populismus und auch nicht vor der Demokratieferne, dem Nationalismus oder Islamismus unter Teilen unserer Einwanderer. Sie unterstützen den Dialog mit unseren engeren und weiteren Nachbarn, wollen aber auch nicht hilflos werden gegen Destabilisierungsversuche von außen, egal, ob sie durch offene Provokationen oder anonyme Cyberattacken erfolgen. Demokraten wissen: Freiheit ist notfalls auch dadurch zu verteidigen, dass sie für die Feinde der Freiheit begrenzt wird. Unsere Gesellschaft hat dabei beständig abzuwägen. Freiheiten dürfen zwar niemals vorschnell zur Abwehr von Bedrohungen geopfert werden; sie dürfen aber auch nicht zu lange dem Missbrauch überlassen bleiben.

Manchmal führt das in ein Dilemma; das ist mir wohl bewusst. Einfache Lösungen stehen eben oftmals nicht zur Verfügung. Aber ich habe die Zuversicht – auch unter den neuen Bedingungen und angesichts neuer Bedrohungen: Unsere Demokratie ist und bleibt wehrhaft.

Vor mir sehe ich Politiker wie Sie, auf die in Gegenwart und Zukunft besondere Verantwortung zukommt. Es gilt, große Fragen zu klären, Fragen, die sich in einem Geist der Furcht vor der Problemfülle oder der Furcht vor den Wählern nicht lösen lassen. Ich schaue Sie noch einmal an und denke an die kommenden Wahlkämpfe. Schenken Sie denen, die mit Ressentiments und Hass auf die Straßen strömen, nicht Ihre Furcht, und fürchten Sie sich nicht vor den bösen Zwergen und Trollen, die im Internet Hass und Niedertracht erzeugen!

Sie sollen sich auch nicht fürchten vor den Scheinriesen, die draußen, in der erweiterten politischen Welt, herumspringen und um Aufmerksamkeit buhlen.

Politik hat in der Vergangenheit der Bundesrepublik gerade dann Erfolg gezeigt, wenn sie Kontroversen nicht scheute, wenn sie innovativ und unter Umständen so weitsichtig war, dass sie in einigen Fällen nicht auf Mehrheiten in der Bevölkerung zählen konnte. Wir brauchen offene und erhellende Debatten, und das Parlament ist ein guter Ort dafür.

Wir brauchen, hier wie draußen, überall Menschen, die sich immer wieder selbst ermächtigen, um unser Zusammenleben zu stärken und zu verbessern. Wir brauchen eine Bürgergesellschaft, die gerade in der heutigen Zeit Einheimische und Eingewanderte im Streben nach dem demokratischen Rechtsstaat vereint. Denn ich weiß: Es sind wir, die einheimischen und die eingewanderten Bürger, die mit der Demokratie und der Freiheit in unserem Lande viel zu verteidigen haben. Wir wollen nicht Hass, sondern Dialog, nicht Ausgrenzung, sondern Einbindung und Mitwirkung aller.

Ich will es ruhig mit dem diesem Anlass angemessenen Pathos sagen: Wir wollen, dass sich all diese unterschiedlichen Menschen, die hier leben, engagieren für das Land, in dem wir gemeinsam leben: für unser Deutschland.

Zum Schluss möchte ich auch allen Menschen danken, die mir Vertrauen geschenkt und mich als Bundespräsident auf verschiedene Weise unterstützt haben. Dankbar bin ich für die fruchtbare und faire Zusammenarbeit mit den anderen Verfassungsorganen, dem Bundestag, dem Bundesrat, dem Bundesverfassungsgericht, der Bundesregierung, und insbesondere auch Ihnen, Frau Bundeskanzlerin Merkel.

Mein Dank gilt ferner all den Menschen im Land, die mich zu Beginn ermutigt haben, die Präsidentschaft anzutreten, und die mich mit einem hohen Maß an Zustimmung begleitet haben.

Das gilt ganz besonders für einen Menschen, von dem heute schon gelegentlich die Rede war: für die Frau, die sich entschloss, sich von ihrem Beruf zu verabschieden und an meiner Seite das Amt zu stärken. Ihre Offenheit, ihre Neugier, ihre Klugheit und vor allem ihre Menschenfreundlichkeit haben diese Präsidentschaft mitgeprägt und mitgetragen. Daniela, zusammen mit vielen anderen Menschen, aber auf meine ganz persönliche Weise sage ich dir hier vor dieser Öffentlichkeit von Herzen: Danke!

Das letzte Wort aber gilt Ihnen, Herr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Lieber Herr Bundespräsident, wir wissen es alle: Sie treten Ihr Amt in schwierigen Zeiten an. Aber Sie haben diesem Land schon lange auf vielfältige Weise gedient. Sie sind dabei Schwierigkeiten nicht ausgewichen, sondern sind ihnen immer entschlossen begegnet. Unzählige Menschen in unserem Land sind Ihnen dafür dankbar.

Sie haben den Bürgern im Land nach Ihrer Wahl vor allem Mut zugesprochen. Nun möchte ich es sein, der Ihnen Mut zuspricht, Mut, aber auch Geduld, Freude und Schaffenskraft. Gottvertrauen schadet dabei nicht, und Zutrauen zu den Menschen wird zum Segen für das Land.