Deutschlandfunk - Interview der Woche mit Bundespräsident Johannes Rau

Schwerpunktthema: Interview

16.09.2001, , 16. September 2001

Burchardt: Herr Bundespräsident, angesichts dieser schrecklichen Ereignisse von New York und Washington fiel ein Stichwort: Armageddon - ein biblisches Zitat, das die Ankündigung der Vernichtung alles Irdischen bedeutet hat. Sie haben in Helsinki in dieser Woche nach diesem Anschlag gesagt: 'Die Welt wird nicht mehr so sein wie sie war.' Welche Zeichen sehen Sie, was wird sich noch verändern?

Rau: Es ist ja bemerkenswert, dass einem biblische Bilder und apokalyptische Visionen kommen, wenn man das sieht und wenn man sich in Erinnerung ruft, wie da die Flugzeuge in die Türme hineinrasen und wenn man die Stimmen hört derer, die mit dem Handy ihre Angehörigen benachrichtigen. Das ist in der Tat eine Dimension des Schreckens, wie wir sie - jedenfalls außerhalb von Kriegen - nie erlebt haben. Und in der modernen Gesellschaft geht das rund um den Globus, und alle Menschen sind erschrocken, viele sind hilflos, sprachlos. Viele flüchten aus der Sprachlosigkeit in den Wortreichtum, und schon ist die Rede vom dritten Weltkrieg. Ich glaube nicht, dass wir vor dieser Gefahr stehen, sondern wir stehen jetzt vor der großen Herausforderung, Mut und Entschlossenheit zu verbinden mit Besonnenheit und mit angemessener Antwort. Das Erste muss sein, dass wir die Täter suchen und finden und vor Gericht stellen. Das Zweite muss sein, dass wir die, die sich mit ihnen gemein machen, finden und vor Gericht stellen. Aber vor dem allen noch müssen wir an die Menschen denken, über die so unendliches Leid gekommen ist - die wir nicht kennen, diese Menschen, aber viele von uns haben Verbindungen zu denen, die in New York oder Washington leben und arbeiten. Und da ist es gut, einmal innezuhalten und nicht zu schnell zu rufen nach Aktivitäten, die sehr leicht dann Aktionismus werden. Andererseits darf man jetzt nicht untätig sein, und wir sehen ja und wir erleben in diesen Tagen, dass die Menschheit empfindet: Dies ist ein Angriff auf die Zivilisation insgesamt - nicht auf Amerika allein, nicht auf den Kapitalismus allein, nicht auf Globalisierung allein, sondern auf die Zivilisation, die in vielen, vielen Jahrhunderten aufgebaut worden ist. Und darum müssen wir mit zivilen Mitteln agieren. Das ist das Erste.

Burchardt: Aber sind nicht gerade vor diesem Hintergrund, Herr Bundespräsident, die Signale, die wir jetzt aus den Vereinigten Staaten, aus der Administration hören, eher beunruhigend? Rache und Vergeltung sind die Schlagworte, und man hat das Gefühl, dass gerade auch wir Europäer hier vielleicht auch ein bisschen ratlos und auch ängstlich vor den Tönen dastehen, die jetzt aus Amerika zu hören sind.

Rau: Das erste, was Amerika von uns erwarten kann und erwarten muss, ist Solidarität. Und diese Solidarität ist auch ein Dank für amerikanische Solidarität uns gegenüber in den letzten fünf Jahrzehnten. Und zu dieser Solidarität gehört, dass wir mit den besonnenen Kräften zusammenarbeiten. Besonnene Kräfte sind nicht die, die untätig bleiben, sondern die, die angemessen handeln. Und meine Hoffnung und meine Erwartung ist, dass das in Amerika geschieht. Was immer auch in diesen Tagen vorbereitet, geplant, durchgeführt wird - wir sind ja da einerseits in Konsultationen der Regierungen, andererseits hören wir schrecklich viel Gerüchte. Wir sollten uns davon nicht irre machen lassen und schon Vertrauen haben in die, die da handeln.

Burchardt: Nach dem bisherigen Ermittlungsstand scheinen auch einige der Terroristen eine Zeit lang in Deutschland, in Hamburg nämlich, gelebt zu haben, möglicherweise auch von dort aus geplant zu haben. Hätte dies Konsequenzen für das deutsch-amerikanische Verhältnis, denn immerhin hat die Bush-Administration ja gesagt: 'Wir werden auf jedes Land genau achten, das solche Leute toleriert hat'.

Rau: Wir haben ja niemanden toleriert in Deutschland. Also, ich glaube nicht, dass die Bush-Administration so missverstanden werden kann. Dass in jedem Land der Welt terroristische Taten vorbereitet werden können, das hat auch Amerika jetzt erfahren, und zwar auf eine ganz schmerzhafte und schmerzliche Weise - gerade das, was wir aus Boston hören. Ich glaube nicht, dass wir aufrechnen sollten - Boston gegen Hamburg, Berlin gegen Washington, sondern wir sollten jetzt wirklich zeigen, dass wir zusammenstehen. Und das zeigen alle politischen Kräfte in Deutschland, dafür bin ich dankbar. Das zeigen auch die Staatsoberhäupter, und im übrigen glaube ich, dass die Zeit ausführlicher und intensiver Gespräche gekommen ist.

Burchardt: Herr Rau, was haben Sie vor dem Hintergrund dieser augenblicklichen Verunsicherung - ja nicht nur in Deutschland, in Europa, ganz weltweit, aber speziell als deutscher Bundespräsident - dem deutschen Volk zu sagen?

Rau: Dass wir zusammenstehen müssen, und zwar nicht die Deutschen gegen die Ausländer, sondern alle miteinander, dass wir Fundamentalismus nicht für eine Form christlichen Glaubens halten dürfen, sondern dass wir wissen müssen: Der Fundamentalismus ist der Feind des Glaubens, und nicht seine Basis. Glaube führt zur Weltliebe, zur Offenheit gegenüber anderen Menschen. Wir dürfen jetzt weder Völker noch Religionen noch Kulturen in den Anklagezustand versetzen, sondern wir müssen realisieren: Fanatismus ist ein Feind der Kultur, gleichgültig, von welcher Seite er kommt. Und wir wissen als Deutsche, wohin Fanatismus führt; also müssen wir dem Fanatismus absagen.

Burchardt: Hat denn gerade vor dem Hintergrund der letzten Worte Deutschland eine ganz besondere Vermittlungsrolle einzunehmen, etwa in dem Sinne, wie Walter Scheel es jetzt gesagt hat in dieser Woche - einer Ihrer Vorgänger -, dass Deutschland oder eben auch die Europäer sich stärker in die Vermittlung bei Krisenregionen und Krisenfällen einschalten sollten?

Rau: Nach meinem Eindruck haben wir das in den letzten Jahren schon getan, sowohl auf dem Balkan als auch im Nahen und Mittleren Osten. Und ich bin froh darüber, dass deutsche Politiker und Staatsmänner in diesen Regionen gehört werden und vor allen Dingen, dass sie hinfahren und zuhören, und dass wir mithelfen, Krisenherde zu begrenzen und Krisen zu verkürzen, aber auch neue Krisen zu verhindern. Das geschieht auf vielfacher Weise; das geschieht sicher meist nicht öffentlich. Wir werden da die Amerikaner nicht ersetzen können, aber dass Amerika und Europa mit unterschiedlichem Gewicht helfen können - auf dem Balkan und im Nahen und Mittleren Osten, das ist - glaube ich - inzwischen politische Einsicht und Praxis.

Burchardt: Es gibt nicht wenige Analytiker, die in dieser Woche insbesondere auch mahnend den Finger davor gehoben haben, dass Amerika möglicherweise, wie die sagen, noch stärker als bisher einen weltpolitischen Isolationismus betreibt und sagt: 'Wir finden unsere Lösung allein, und gegebenenfalls müssen dann die Verbündeten hinterher marschieren'. Ist das für Sie ein Konzept, das aufgehen kann?

Rau:Nach meinem Eindruck handelt die amerikanische Administration so nicht, sondern sie konsultiert und sie berät mit den europäischen Partnern, mit Großbritannien, mit Frankreich, mit Deutschland, aber auch mit den übrigen. Und die Schnelligkeit, mit der die Botschafter zusammengesessen, mit der die Regierungschefs miteinander das Gespräch gesucht haben, das alles ermutigt mich anzunehmen, dass es zu solchem Isolationismus nicht kommen wird. Die Gefahr wird es immer wieder geben, dass man aus innenpolitischen Gründen außenpolitische Dimensionen übersieht oder verkürzt darstellt, aber ich sehe da gegenwärtig keine Gefahr.

Burchardt:Für die deutsche Gesellschaft ist im Moment zumindest eine gewisse Verunsicherung diesbezüglich eingetreten, weil man nicht mehr genau weiß: Was hat man jetzt eigentlich beschlossen - bezogen auf die NATO-Charta. Es wurde gesprochen: Ist das jetzt schon der Verteidigungsfall? Die Antwort lautete 'nein' - ist das der Bündnisfall? - es wurde 'jein' gesagt. Der Bundeskanzler hat eine andere Formel benutzt, die Formel der 'Beistandsbereitschaft' - bedeutet also letztendlich: Werden die Amerikaner zunächst mal ihre Maßnahmen ergreifen und gegebenenfalls werden dann die Deutschen und auch andere mitmachen müssen, denn das ist versprochen. Ist das eine Grundlage für eine glaubwürdige, weltweite Antiterrorismusbekämpfung?

Rau:Nach meinem Eindruck reicht das Grundgesetz und reichen die Bestimmungen, die wir in den verschiedenen Gesetzen haben, aus, um mit der gegenwärtigen Situation sachgerecht umzugehen. Dass im Falle militärischer Beteiligung der Bundestag gehört werden muss, ist inzwischen gängige Praxis; das hat keinen mehr zu verwundern und verwundert auch niemanden mehr. Nach meinem Eindruck ist das gegenwärtig nicht gefragt, sondern gefragt ist: Beistand im Bündnis - mit welchen Mitteln auch immer - logistischer Art. Das wird die Bundesregierung zu entscheiden haben, und sie wird dann auch ermessen, wann und in welcher Weise das Parlament zu beteiligen ist. Eine Sondersitzung des Bundestages ist schon angesetzt. Jetzt kommt es - glaube ich - darauf an, dass die Menschen wissen: Die gewählten Autoritäten in Deutschland wie in den anderen Ländern handeln entschlossen, mutig und besonnen, denn darauf kommt es an - dass wir uns jetzt nicht in den Krieg hineinreden, sondern dass wir miteinander die Solidarität üben, die Amerika braucht und verdient hat, die aber nicht darin besteht, dass wir noch einen drauf setzen, sondern dass wir unseren Beitrag leisten dazu, dass das internationale Gespräch in Gang kommt oder wieder in Gang kommt.

Burchardt:Bei dem Begriff der Ursachenerforschung tauchen einige Stichworte auf - die lauten 'Nord-Süd-Konflikt', 'Crash - der Kulturenzusammenprall - der Kulturen', 'Zivilisationsbedrohung' und dergleichen Dinge mehr. Im Bericht der Nord-Süd-Kommission aus den 70er Jahren, der ja Willi Brandt vorgesessen hat, heißt es unter anderem, dass es damals schon einen nichterklärten Krieg gegeben habe, nämlich den der waffenproduzierenden Welt gegen den Teil der verarmten Welt. Ist das möglicherweise eine der Hauptursachen für die dann dort in diesen Regionen entstehenden Terrorismusgruppierungen?

Rau:Wir wissen ja gegenwärtig nicht, wo dieser Terrorismus eigentlich zu Hause ist. Aber richtig ist die Erkenntnis, dass es in einer immer ärmer werdenden Welt keine Inseln des Wohlstands geben kann, und dass Teilen dazugehört, und dass Gerechtigkeit und Friede nur erreichbar sind, wenn sie für alle Menschen angestrebt werden und nicht für manche zuerst und für manche erst am Sankt-Nimmerleinstag. Insofern ist kluges politisches Handeln das Wichtigste, wichtiger als jede schnelle militärische Reaktion. Freilich kann das militärisches Handeln nicht in jedem Falle ausschließen. Und ich glaube schon, dass wir - wenn es wieder etwas ruhiger geworden ist - Ursachenforschung betreiben müssen. Ohne Terrorismus zu entschuldigen müssen wir danach fragen: Woher kommt Terrorismus und warum hat er so weltweite Bedeutung erlangen können. Was muss getan werden, damit Menschen in Frieden und in Sicherheit leben können, und zwar überall auf der Welt.

Burchardt:Das ist sicherlich ein theoretischer Ansatz; die Frage ist: Wie ist er praktisch umzusetzen? Wir hören ja immer wieder, dass nicht einmal das UNO-Postulat des Anteils am Bruttosozialprodukt von den entwickelten Ländern als Ressourcentransfer für die armen und ärmsten Länder der Welt erfüllt wird - ganz im Gegenteil, die Entwicklung ist eher gegenläufig. Welche Vorschläge hätten Sie da zu machen?

Rau:Ich habe vor wenigen Wochen darauf hingewiesen, dass 18.000 Kinder jeden Tag an Hunger sterben. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir zu den Industrienationen gehören, die weit unter dieser 0,7-Grenze liegen, die vor mehr als 30 Jahren von den Vereinten Nationen beschlossen worden ist. Da tröstet mich auch nicht, dass andere noch schlechter liegen, sondern ich glaube schon, dass wir die weltweite Dimension in den Blick nehmen müssen, und die Ereignisse der vergangenen Woche zeigen uns ja: Dies ist eine Welt, und nicht eine Situation, in der man den anderen bei sich lassen kann und sagen: 'Wenn ich nur zufrieden lebe'. Bloß helfen da jetzt keine Appelle, sondern da hilft ein Umdenken. Und dies Umdenken anzumahnen, anzuregen, voranzubringen, das ist auch eine Aufgabe des Bundespräsidenten, aber es ist auch eine Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte - in den Parteien, in den Kirchen, in den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Zum Glück gibt es überall vernünftige Stimmen; und die vernünftigen Stimmen zu verstärken und die wortreichen Schreier leiser werden zu lassen - das gehört mit zur politischen Kultur, die jetzt gefordert ist.

Burchardt:Wie passt denn nach Ihrer Meinung, Herr Bundespräsident, dazu die augenblickliche Streitigkeit um ein neues Zuwanderungskonzept in Deutschland? Ist das nicht eher auf Abschottung angesetzt und möglicherweise dann auch in dem Sinne wirksam, als es eher ja wieder terroristische Bewegungen in diesen Regionen verstärken könnte?

Rau:Nach meinem Eindruck sind die Parteien hier näher beieinander als sie das in Wahlkampfzeiten zugeben. Nach meinem Eindruck hat sich herumgesprochen, dass wir ein Einwanderungsland sind und dass es ohne Zuwanderung nicht geht. Ich halte es für legitim, darüber zu streiten, wer denn zuwandern soll und in welchen Größenordnungen und unter welchen Bedingungen, denn wir können nur eine Zuwanderung wollen von Menschen, die bereit sind, sich auf den Boden unserer Verfassung, unserer freiheitlichen Ordnung zu stellen, unser Grundgesetz anzuerkennen. Und nach meinem Eindruck haben wir hier in den letzten Jahren mehr Integrationsleistung erbracht, als das im öffentlichen Bewusstsein ist. Das gilt vor allen Dingen für die Arbeitswelt, und das gilt für die großen Betriebe. Und wer zusammen arbeitet und zusammen lebt, der baut dabei auch Feindbilder ab. Dazu müssen wir helfen, und ich weiß, dass dazu die meisten Verantwortlichen auch bereit sind.

Burchardt:Ist nicht aber auf der anderen Seite, gerade durch die Unsicherheit, die jetzt entstanden ist, die ja teilweise auch in Panik zu geraten scheint, zu befürchten, dass es mehr Sicherheitskonzepte auf der nationalen Ebene geben wird, die dazu führt, dass man möglicherweise doch strengere und möglicherweise auch undemokratische Reformen in der westlichen Zivilgesellschaft erwarten muss?

Rau:Ich hoffe das nicht, denn das könnte den Terroristen so passen, dass wir Freiheit eingrenzen, um Freiheit zu sichern. Das kann ja nicht unser Konzept sein. Deshalb glaube ich, dass wir den Glanz, den Stolz darauf, dass wir eine freiheitliche Ordnung haben, nicht verdunkeln dürfen, indem wir Bürgerfreiheiten eingrenzen. Wir müssen allerdings immer deutlich machen: Freiheit ist was anderes als Beliebigkeit, und Toleranz ist etwas anderes als alles hinnehmen. Es muss Ordnungen geben und der Rechtsstaat muss sich erfüllen können. Aber der Rechtsstaat ist eben der, der nach Gerechtigkeit sich sehnt und nicht derjenige, der die Argumente abschneidet.

Burchardt:Ist möglicherweise vor diesem Hintergrund nicht auch die Frage zu stellen, inwieweit vor dem Hintergrund der Globalisierung, nämlich die im Wirtschaftlichen funktioniert, im Sozialen noch nicht so ganz gut, und der Terrorismus hat das offenbar erkannt - wird jetzt auch global, ist nicht vor diesem Hintergrund möglicherweise auch der Nationalstaat ein Relikt vergangener Jahrhunderte?

Rau:Für mich nicht. Ich glaube, wir brauchen den Nationalstaat, weil wir Heimat brauchen. Aber wir brauchen Klärung dessen, was der Nationalstaat noch leisten kann und was übernational geschehen muss. Und da ist mir eine Stärkung der Vereinten Nationen ganz besonders wichtig, und für diese Stärkung bin ich immer eingetreten. Daher ist es wichtig, dass die Bündnisse funktionieren - ob sie nun OECD oder NATO heißen, dass sie aber ihre Funktion wahrnehmen und nicht an die Stelle des Nationalstaates oder der Nationengemeinschaft treten.

Burchardt:Stärkung der Vereinten Nationen - da fällt einem natürlich sofort ein, dass es gerade die Amerikaner sind und nicht nur die Bush-Administration, die seit mehr als 10 Jahren ihre Gelder für die Vereinten Nationen schuldig geblieben sind, die Vereinten Nationen auch zum Teil dominiert haben, zum Teil auch sagen, sie wollen es sich nicht mehr gefallen lassen, dass Vertreter der Dritten Welt eine Mehrheit in den Vereinten Nationen haben und hier - ja - mehr schlecht als recht mitarbeiten. Muss hier nicht auch die Administration in Washington ein Umdenken einleiten?

Rau:Wir Deutschen haben ja immer die Bedeutung der Vereinten Nationen dargestellt, gestärkt, zu bekräftigen versucht, und ich habe es als ein ermutigendes Zeichen empfunden, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen mit amerikanischer Unterstützung wiedergewählt worden ist, obwohl er nicht nur Populäres sagt, nicht nur . . .

Burchardt:. . . ja, ich wollte gerade fragen: Kann das nicht auch eine Belohnung für Willfährigkeit sein?

Rau:Nein, dass ist es im Falle Kofi Annan nun wirklich nicht. Und wer gesehen hat, etwa bei der Antirassismuskonferenz, wie schwer das ist und wie schwer wir uns miteinander tun, der wird nicht ausweichen in Geduld, sondern einsteigen in Beharrlichkeit. Denn das ist gefordert und das wird gebraucht.

Burchardt:Wir haben eben über die Globalisierung gesprochen. Es gibt globale Sicherheitskonzepte. Muss da überdacht werden, was man im Augenblick macht? Muss möglicherweise auch die NATO-Charta überdacht werden, muss man möglicherweise auch noch mehr Länder versuchen, einzubeziehen in diese Partnerschaft? Ich denke hier insbesondere auch an Russland, möglicherweise - langfristiger gesehen - auch China?

Rau:Es ist ja doch bemerkenswert, dass Russland und China auf das Geschehen in New York und in Washington so reagiert haben, wie sie es getan haben. Sie wissen offenbar, wir sind eine Weltgemeinschaft, und keiner kann sich da selber herausnehmen; man gehört dazu. Und die Bedrohung von Menschen in Washington und in New York ist eine Bedrohung aller Menschen. Das ist deutlich. Wie weit sich das dann in Bündnisveränderungen niederschlägt, das kann man gegenwärtig nicht sehen. Ich selber glaube nicht, dass es einen konkreten Anlass für neue Sicherheitskonzepte gibt. Wir haben ja gesehen, dass jedenfalls nationale Sicherheitskonzepte, denen wir bisher Perfektionismus unterstellt haben, offenbar dann nicht funktionieren, wenn Menschen sich selber zu Waffen machen. Und das haben wir erlebt im Nahen Osten, das erleben wir in Amerika. Das ist schrecklich und gibt dem Ganzen eine andere Dimension. Deshalb muss deutlich sein: Hier geht es nicht nur um Technik, sondern hier geht es um Menschenbilder. Und das ist eine Bildungs-, eine Erziehungs-, eine Glaubens-, eine Kulturfrage, und wer da fundamentalistisch reagiert, der kann die Lösung nicht finden. Wir leben in einer Zeit, in der gibt es Verführer, die haben für alles eine Antwort und für nichts eine Lösung. Und die zu decouragieren, ihnen zu zeigen, dass Ideologien nicht weiterhelfen, das ist heute kluge Politik.

Burchardt:Nun hat bin Laden, einer der Hauptverdächtigen, im Augenblick jedenfalls, mal in einem Appell an seine - wie er sie nennt - Krieger Gottes gesagt: 'Wir sind Fundamentalisten, weil der Kapitalismus ebenso fundamentalistisch ist. Wir kämpfen gegen den Turbo-Kapitalismus, und dafür ist es auch wert, das eigene Leben einzusetzen'. Dagegen ist doch im Prinzip - banal gesagt - kein Kraut gewachsen?

Rau:Dagegen ist kein Kraut gewachsen, vor allen Dingen dann nicht, wenn es ein Kapitalist sagt, wie bin Laden das ist. Wir müssen abrüsten, was die Worte angeht, und ich glaube, dass Behutsamkeit in der Sprache mit dazugehört. Wenn wir deutlich machen: Keine der Weltreligionen ist auf Gewalt angelegt, aber in allen Weltreligionen gibt es gewalttätige Verführer - dann sind wir schon ein Stückchen weiter; denn was uns jetzt nicht passieren darf, ist, dass es einen Krieg des Evangeliums gegen den Islam gibt . . .

Burchardt:. . . bin Laden spricht auch von 'Kreuzzügen' der Kapitalisten . . .

Rau:. . . und er spricht von Kreuzzügen. Wer von den Kreuzzügen etwas weiß, der weiß, wie viele Menschen dabei zu Tode gekommen sind, obwohl sie schuldlos waren. Und Kreuzzüge helfen keinem weiter. Deshalb brauchen wir mehr Samariter und weniger Krieger Gottes.

Burchardt:Herr Bundespräsident, danke für das Gespräch.