Zum 60. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs

Schwerpunktthema: Rede

Danzig, , 1. September 1999

Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten

Herr Präsident,

meine Damen und Herren,

verehrte Bürgerinnen und Bürger der Republik Polen,

liebe Nachbarn,

liebe Freunde,

es gibt Orte mit besonderer historischer Bedeutung. Die Westerplatte erinnert an den Krieg, der heute vor 60 Jahren mit dem Überfall Deutschlands auf Polen begonnen hat. Dieser Krieg hat unaussprechbares Leid gebracht - zuerst über Millionen von Menschen in Polen, dann über ganz Europa und schließlich auch über uns Deutsche.

Viele Polen haben in diesem Krieg gekämpft: Gegen Überfall und Besatzung, aber auch für Toleranz, für Achtung vor dem Leben und für die Würde des anderen. Sie haben die Werte der Zivilisation verteidigt, die für alle gelten. Viele haben dafür ihr Leben gelassen. Wir trauern um alle Opfer der Barbarei.

Heute morgen, 60 Jahre später, haben Präsident Kwasniewski und ich uns auf der Oder-Brücke getroffen, die Frankfurt und Slubice verbindet. Sie wird "Friedensbrücke" genannt. Das drückt den Wunsch unserer beiden Völker aus, daß die Grenze nicht Feindselige oder Gleichgültige voneinander trennt, sondern Partner und Freunde miteinander verbindet.

Versöhnung und gute Nachbarschaft sind nicht selbstverständlich. Sie sind die Frucht langen, manchmal schmerzhaften Bemühens. Es ist gut, wenn sich zwei Präsidenten begegnen, die die Übereinstimmung der Interessen ihrer Völker an der Schwelle zum neuen Jahrhundert kennen. Gute Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschen, mehr noch, freundschaftliches Miteinander im gemeinsamen europäischen Haus - das muß im Alltag, in vielen Begegnungen der Menschen wachsen.

Zur Versöhnung zwischen Polen und Deutschen haben viele ihren Beitrag geleistet und tun das noch: Die Kirchen, mutige Politiker, viele unbekannte Frauen und Männer, ehemalige Soldaten, und die Veteranen aus beiden Ländern, die heute hier anwesend sind.

Zur Versöhnung haben die Polen beigetragen, die durch Krieg und Völkermord Mütter und Väter, Brüder, Schwestern und Freunde, oft auch die Heimat, verloren haben und die, trotz aller Trauer und allen Schmerzes bereit waren, gemeinsam in die Zukunft zu gehen.

Zur Versöhnung beigetragen haben auch - ich darf das heute hier sagen - die Deutschen, die als Folge des Krieges ihre Heimat verlassen mußten, aber keinen Gedanken an Haß und Vergeltung hegen.

Zur Versöhnung tragen auch alle bei, die sich darum kümmern, daß endlich eine gerechte Regelung für die materielle Entschädigung der Männer und Frauen gefunden wird, die als Zwangsarbeiter mißbraucht und oft auch mißhandelt worden sind.

Polen und Deutsche haben eine Geschichte, die länger währt, als die Jahre von Krieg und Völkermord. Sie ist auch voller Beispiele der Gemeinsamkeit, die uns heute ermutigen können.

Polen und Deutsche haben eine gemeinsame Geschichte auch befruchtender Nachbarschaft: Das Treffen zwischen Boleslav dem Tapferen und Kaiser Otto III. vor 1000 Jahren in Gnesen war ein früher Ausdruck der Idee einer europäischen Friedensordnung zwischen verschiedenen Reichen und Nationen - ein Vorbild für das heutige europäische Einigungswerk.

Polen und Deutsche haben eine gemeinsame Geschichte großer Wissenschaftler: Kopernikus, Hevelius, Schopenhauer, Fahrenheit begreifen wir heute nicht mehr als nationales Eigentum, sondern als Vertreter einer grenzüberschreitenden Kultur.

Polen und Deutsche haben auch eine gemeinsame Freiheitsgeschichte: Sie begann mit dem polnischen Aufstand des Jahres 1830, der für die Demokraten in Europa, vor allem in Deutschland, Ansporn und Ermutigung war.

In den 80er Jahren unseres Jahrhunderts entstand in Polen eine neue Freiheitsbewegung, die hier in Danzig ihren Ausgang nahm und die zum Fall des Eisernen Vorhangs wesentlich beigetragen hat. Uns Deutschen hat diese Freiheitsbewegung des polnischen Volkes die staatliche Einheit möglich gemacht. Daran möchte ich an diesem Tag und an diesem Ort dankbar erinnern.

Unsere beiden Länder haben die Chance, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Wir sind heute Verbündete in der Nordatlantischen Allianz. Wir wollen bald auch Partner in der Europäischen Union sein. Wir sind durch die Geschichte des Leids und der Hoffnung in einer Weise verbunden, wie Deutschland das nur noch mit Frankreich, unserem großen Nachbarn im Westen, ist. Wir sollten aus unseren Erfahrungen darauf drängen, daß drei Gebote den Umgang der Völker Europas miteinander bestimmen: 1. die Ächtung des Nationalismus; 2. Humanität als Maßstab allen politischen Handelns und 3. gute Nachbarschaft als produktive Quelle gemeinsamer Entwicklung.

Das zu Ende gehende Jahrhundert war ein Jahrhundert der Kriege. Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, daß Polen, Deutsche, alle Europäer am Ende des nächsten Jahrhunderts sagen können: Das 21. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Friedens.