Empfang der Teilnehmer des Forums "FAZIT Deutschland"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 22. September 1999

Bundespräsident Johannes Rau zum Abendessen der Teilnehmer des Forums: FAZIT Deutschland, und zur anschließenden Lesung von Marcel Reich-Ranicki im Schloß Bellevue

Meine Damen und Herren,

"Was heißt heute deutsch?": so sind die wenigen Worte, die ich zu Ihnen sprechen soll, im Programmheft überschrieben.

Abgesehen davon, daß ich die Frage - schon grammatikalisch - nicht so ganz verstehe, will ich aber, da ich dem Titel nicht widersprochen habe, sagen, was mir dazu einfällt. Es sind einige Puzzle-Teile. Vielleicht ergibt sich daraus ein kleines Bild.

"Was heißt heute deutsch?" - Wahrscheinlich zunächst einmal, daß man solche Fragen stellt - oder sich stellen läßt. Ich kann mir kaum denken, daß der französische Staatspräsident oder der portugiesische oder der polnische - bei einem Essen in seinem Haus - aufgefordert würde, zur Frage zu sprechen: was heißt heute französisch oder portugiesisch oder polnisch.

Jeder, der so fragt oder sich fragen läßt, gerät in Gefahr, in Stereotypen zu reden. Wenn etwadieFranzosen ganz allgemein überdieDeutschen reden - oder umgekehrt - ist der Erkenntnisgewinn so hoch, wie wenn die Münchner über die Berliner reden. Unsere Gäste aus Spanien und Frankreich wissen das noch besser, wenn man in Marseille über Paris oder in Barcelona über Madrid spricht.

Bleiben wir aber einen Moment bei der Vorliebe der Deutschen, über sich selber zu reden.

Diese deutsche Besonderheit oder Sonderbarkeit wurzelt in unserer Geschichte und in unserer Geographie. Deutschland war immer ein Gebilde aus unterschiedlichen Ländern, die Menschen sind durch ihre Landschaften geprägt, durch unterschiedliche Traditionen, Bräuche und Dialekte. Man ist auch heute noch zuerst Bayer und Westfale, bevor man Deutscher ist.

Die Frage ist so alt wie die deutsche Geschichte. Wenn sie immer noch gestellt wird, sehe ich das in einer bestimmten Hinsicht sogar sehr positiv: Offenbar ist das uns von vielen nachgesagte oder auch eingeredete "neue deutsche Selbstbewußtsein" noch nicht so weit, daß wir uns nicht immer wieder selber kritisch befragen. Mir ist Selbstbefragung sympathisch, Selbstkritik noch mehr.

Wir sind dabei, in der Welt größere Verantwortung zugemutet zu bekommen und wir nehmen sie auch wahr. Deutsch sein heißt aber heute nicht wie manchmal in der Vergangenheit, alles besser zu wissen. Wir gehören einer internationalen Lerngemeinschaft an, die nur dann Wege in eine gute Zukunft finden wird, wenn sie das gemeinsam, aufeinander achtend und voneinander lernend tut.

Deutsch sein heißt heute auch oft - ein Paradoxon - gerade nicht aus Deutschland zu stammen. Fast nirgendwo leben so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft wie bei uns. Hier in Berlin merken Sie das besonders. Die vielen Menschen sollen, das wünsche ich mir, hier heimisch werden. Sie sollen ihre Kultur bewahren, aber ihre Zukunft soll nicht ausschließlich durch ihre Herkunft bestimmt sein.

Wir müssen also weniger darüber nachdenken, was es heißt, deutsch zu sein, sondern darüber, was es heißt, gemeinsam in Deutschland zu sein, gemeinsam hier zu leben und gemeinsam die Zukunft zu gestalten.

Deutsch sein heißt heute - das ist mein nächster Punkt - zu einer sehr freien, ungleich offeneren und liberaleren Gesellschaft zu gehören als jemals zuvor. Viele junge Leute aus der ganzen Welt kommen zu uns, und ich weiß, daß sie über die deutsche Gesellschaft, über ihre Buntheit und Vielfalt staunen. Das Land entspricht längst nicht mehr dem alten Bild, das immer noch kolportiert wird. Hier in Berlin ist das besonders zu spüren, aber auch in vielen anderen Städten, übrigens im Westen wie im Osten.

Damit liegt der nächste Punkt auf der Hand: Deutsch sein heißt heute, immer noch im Prozeß der Einigung zu stecken. Manche haben am 3. Oktober 1990 geglaubt, mit der Unterschrift unter den Vertrag sei Deutschland geeint oder wiedergeeint. Wir haben alle lernen müssen, daß der Prozeß viel länger dauert. Vereinigung geschieht - oder scheitert - vor allem auf der im weitesten Sinne kulturellen Ebene.

Wo Kulturen (und Lebenskulturen) nicht zusammenkommen, da helfen weder politische Übereinkommen noch finanziell-ökonomische Vorhaben. Das haben wir in Deutschland gelernt, das erfahren wir im Prozeß der europäischen Einigung und das gilt auch für die Globalisierung und den dafür notwendigen Dialog der Kulturen.

Kultur war lange Zeit ein wichtiges Wort für unsere nationale Selbstwahrnehmung, wie auch für das Bild der anderen von Deutschland. Das Wort von der Kulturnation - zwar im Ursprung anders gemeint, nämlich als Ersatz für die staatliche Einigkeit Deutschlands - hat uns oft geschmeichelt. Kultur hat aber nicht nur mit großer Kunst, mit Dichtern und Denkern zu tun, sondern mit der Begegnung im Alltag und mit kollektiver Erinnerung.

Wenn wir Deutschen uns an dieses zu Ende gehende Jahrhundert erinnern, dann erinnern wir uns auch an den großen Kulturbruch, den wir über Europa und die Welt gebracht haben - und der uns selber schließlich zutiefst verändert hat. Wer fragt: was ist heute deutsch, muß diesen Kulturbruch, diese Zeit der radikalen Verneinung aller humanen Kultur, immer mitdenken.

Darum bin ich dankbar dafür, daß heute Marcel Reich-Ranicki unser Gast ist. Er wird - nachher - aus seinem Buch "Mein Leben" lesen. Dieses sein Leben ist eine, nicht die einzige, aber eine ganz besonders gewichtige Antwort auf die Frage, was heute deutsch sei.

Ich brauche ihn nicht ausführlich vorzustellen. Aber einiges ist für mich heute abend wichtig: Marcel Reich-Ranicki, im polnischen Wloclawek geboren, in Berlin aufgewachsen (und in seiner Jugend offenbar im emphatischen Sinne Berliner), nach Polen verschleppt, das Ghetto und die Shoah überlebt, nach dem Krieg im polnischen Geheimdienst, dann als Schriftsteller tätig, 1958 nach Deutschland gekommen (nein: zurückgekehrt), schließlich der einflußreichste deutsche Literaturkritiker wohl der ganzen deutschen Literaturgeschichte.

Dieser Marcel Reich-Ranicki erinnert an einer Stelle seines Buches an Heinrich Heines Gedanken, die Juden hätten - indem sie nach der Zerstörung des Tempels die Bibel gerettet und mitgenommen haben - wohin immer sie gingen, nur ein "portatives Vaterland". (Salomon Korn, der heute abend hier ist, hat übrigens bei der Gedenkfeier für Ignatz Bubis ebenfalls an diesen Heine-Satz erinnert.)

Marcel Reich-Ranicki hat, wie er selber sagt, analog dazu die deutsche Literatur als "portatives Vaterland" erfahren. Vielleicht ist seine Beziehung zur deutschen Literatur deshalb so unvergleichlich eng und leidenschaftlich.

Wie sich Kultur und Lebenskultur verbinden, dafür ist sein Buch ein großes Zeugnis. Aber auch für den deutschen Kulturbruch, von dem ich sprach und dessen vernichtende Auswirkungen Marcel Reich-Ranicki und seine Familie am eigenen Leib erfahren haben.

Daß gerade er so unendlich viel für die deutsche Kultur - auch im Sinne der Erinnerung und des Gedächtnisses - getan hat, dafür können wir alle ihm nur dankbar sein.
Was heißt heute deutsch? - Wir können diese Frage nicht beantworten, ohne die Biografie von Menschen wie Marcel Reich-Ranicki zu kennen. Und wir wüßten weniger Antworten darauf ohne seine Arbeit für das portative Vaterland der deutschen Literatur.