102. Konferenz der Interparlamentarischen Union

Schwerpunktthema: Rede

10. Oktober 1999

Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Eröffnungsveranstaltung im Reichstagsgebäude

Frau Präsidentin, Herr Bundestagspräsident, meine Damen und Herren,

ich freue mich, Sie alle ganz herzlich im Namen der Bundesrepublik Deutschland hier in Berlin im Reichstag begrüßen zu können. 138 Delegationen bilden eine eindrucksvolle, hochansehnliche Festversammlung.

Das könnte uns vergessen lassen, daß am Anfang der Interparlamentarischen Union zwei Menschen standen. Ein Franzose und ein Engländer. Die beiden haben damals, 1898, gesagt: So kann das nicht weitergehen, daß Brückenköpfe gebaut werden und keine Brücken, so kann das nicht weitergehen, daß wir in Nationalismen verharren, statt Wege zueinander zu finden. Aus diesen zwei Menschen und dem was sie nicht nur gesagt, nicht nur gedacht, sondern getan haben, ist eine weltweit agierende und funktionierende Organisation entstanden. Freilich eine Organisation mit den Schwächen aller Organisationen: Sie hat Bürokratien entwickelt, sie läßt Betriebsblindheiten zu, aber sie ist eine Organisation geworden, in der man Brücken baut und nicht nur Brückenköpfe errichtet. Darüber bin ich von Herzen froh.

Freilich, wenn jetzt jede der 138 Delegationen die Chance hätte, auch nur in 5 Minuten die Probleme des einzelnen Heimatlandes darzustellen, würde uns Hören und Sehen vergehen. Wir würden Angst bekommen vor der Aufgabe, die jedem Parlament, die jeder Regierung gestellt ist, wir würden das alles für unerfüllbar halten. Es wäre wie mit einem Griff nach dem Horizont: Unser Arm wäre zu kurz, wir würden den Horizont nie erreichen. Dennoch sage ich: Die Demokratie ist ein Geschenk, die Demokratie ist eine Herausforderung, die Demokratie ist eine nicht enden wollende Aufgabe.

Wir müssen diese Aufgabe anpacken, diese Herausforderung annehmen und uns dieses Geschenk geben lassen. Das sage ich gerade als Deutscher: Wir haben Diktaturen nicht nur erlebt, sondern wir haben auch aufgrund verbrecherischer Regime Diktatur über andere gebracht. Wir wissen, wie das ist, wenn die Welt sich aufteilt in Täter und Opfer, in Mitwirkende und Wegsehende, in Zuschauer und in Widerstandleistende. Wir haben daraus gelernt: Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen, denn die Demokratie ist die Staatsform der Toleranz. Toleranz ist eines der höchsten Güter der Menschheit. Freilich ist es wie bei allen höchsten Gütern der Menschheit: Sie sind verwechselbar, sie können in mancherlei Gestalt auftauchen und sehr oft lassen wir uns täuschen. Es gibt Menschen, die reden von Toleranz und meinen Beliebigkeit. Es gibt Menschen, die reden von Toleranz und meinen Indifferenz, sie meinen eine Welt, in der alles möglich ist und nichts wichtig.

Der deutsche Dichter Hermann Hesse hat einmal gesagt: "Gestaltlose Nebel begegnen sich nie." Toleranz setzt eigenes Profil voraus, die Bereitschaft Konturen zu haben, ein Bekenntnis und Überzeugungen zu haben. Toleranz heißt auch, bei Überzeugungen im Wettstreit mit anderen Überzeugungen zuerst zuhören zu lernen und erst dann ein Rednerseminar zu besuchen. Ein russischer Dichter hat einmal gesagt: Toleranz heißt, den anderen nicht hinnehmen, sondern ihn so wollen, wie er ist. Tolstoi sagt, ihn so wollen, wie Gott ihn gemeint hat - "God whatever you conceive him to be", wie es in dem Gebet von Baltimore heißt. Solche Toleranz brauchen wir. Toleranz ist ein schwieriger Lernprozeß, sie ist nie Besitz einer Gruppe oder Klasse, einer Religion oder Konfession, sie ist immer wieder zu erringen, sie ist auch Erziehungsziel und Erziehungsmethode, wir brauchen solche Toleranz, wenn wir miteinander leben wollen. Toleranz lernen heißt auch, den Dialog der Kulturen zu wollen.

Wir alle wissen: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den Weltreligionen und dem Weltfrieden. Wir alle wissen: Religiöse Überzeugung kann Brücken bauen und religiöse Überzeugung kann intolerant machen. Wir alle wissen: Dieser Lernprozeß wird jedem von uns abgefordert und viele gleiten weg in Beliebigkeit oder in Indifferenz.

Wir in Deutschland erleben und erfahren, was die schnelle Entwicklung unseres Landes, auch unserer Wirtschaft, bedeutet. Das Stichwort Globalisierung ist in aller Munde. Nicht nur Finanzströme, sondern auch Meldungen, auch Nachrichten gehen immer schneller um den Globus. Viele Menschen werden dabei heimatlos, viele Menschen bekommen dadurch Fremdenangst, viele Menschen werden Opfer der schrecklichen Vereinfacher, die für alles eine Antwort haben und für nichts eine Lösung.

Darum ist es unser Auftrag, Menschen in ihrer Fremdenangst abzuholen und ihnen zu zeigen: Es gibt einen Weg von der Angst über die Neugier zur Vielfalt. Dieser Weg ist der demokratische Weg, dieser Weg ist der Weg in die Zukunft, dieser Weg ist die Alternative zu der Kette von Angst über Hass zu Gewalt. Das müssen wir lernen, damit, wie es Theodor Adorno einmal als Wunsch geäußert hat, eine Welt entsteht, in der man ohne Angst verschieden sein kann.

Eine solche Welt wäre demokratisch. Eine solche Welt ist die Zielvorstellung, nicht für die Menschen, die auf das eigene Bekenntnis und auf das eigene Profil verzichten, sondern für solche, die bereit sind, mit dem eigenen Profil für Menschenwürde, für Mitmenschlichkeit einzutreten und die Agenda abzuarbeiten, die in den einzelnen Ländern und Kontinenten vor uns liegt.

Wie beginnen wir diesen Lernprozeß? Ich bin davon überzeugt: Würde man jetzt darüber diskutieren, gäbe es 138 Antworten. Diese 138 Antworten werden sich zum Teil ausschließen, würden einander widersprechen. Um so dringender der Dialog, um so dringender die Erkenntnis, daß Demokratie nicht irgendeine Spielart ist, in der man Mehrheiten ermittelt und Minderheiten duldet. Die Antworten werden von der nächsten Generation von uns allen erhofft, erwartet, erbeten. Es gibt auch Menschen, die trauen uns keine Antwort mehr zu. Sie wenden sich gelangweilt ab. Auch diese Menschen dürfen wir nicht aufgeben. Auch diese Menschen müssen wir zu gewinnen und zu erreichen versuchen: Die Demokratie lebt davon, daß Menschen sich einmischen in ihre eigenen Angelegenheiten.

Wie lernen wir, wie lehren wir so unterschiedliche Ziele? Wie helfen wir mit, daß Grenzen ihren trennenden Charakter verlieren? Wie üben wir die Worte ein, die so unterschiedlich sind und doch zusammengehören: "Compassion" und "Zivilcourage", das eine aus der Sprache des Engländers, das andere aus der des Franzosen, den beiden Gründervätern der Interparlamentarischen Union. Wie macht man das in einer Welt, die, wenn man es richtig gezählt hat, in Wirklichkeit nicht 200 Staaten, sondern 3500 unterschiedliche Ethnien umfaßt?

Meine Damen und Herren, wenn Sie müde werden, wenn Sie mutlos werden angesichts der Agenda, die vor Ihnen liegt in den unterschiedlichen Ländern unserer Welt, dann denken Sie daran: Es waren damals zwei Menschen, die vor 110 Jahren den Wunsch gehabt haben, nachzudenken, zu reden, zu handeln. Diese zwei haben die Welt verändert, sie haben Demokratie lebendig gemacht. Heute hat diese Demokratie Chancen in allen Ländern der Welt, auf allen Kontinenten. Es ist nicht vergeblich, was wir tun. Damals waren es zwei, heute sind Sie viele, unübersehbar viele. Das ist eine große Chance.

Ich erkläre die 102. Interparlamentarische Konferenz für eröffnet.