Zum 20jährigen Bestehen des Institut Français des Relations Internationales

Schwerpunktthema: Rede

Paris, , 4. November 1999

Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Konferenz zum 20jährigen Bestehen des Institut Français des Relations Internationales

Bevor ich meine Gedanken über den "Erfolg" Europas an der Schwelle zum 21. Jahrhundert darstelle, möchte ich mit einem Zitat deutlich machen, was für mich "Europa" bedeutet. Kardinal Vlk, Erzbischof von Prag und Präsident der Europäischen Bischofskonferenzen, hat gesagt: "Europa ist eine bestimmte Sehweise von Mensch, Gesellschaft und Welt, eine Wertegemeinschaft ? trotz der Katastrophen in seiner Geschichte und in seiner Gegenwart. Die tragenden Werte, die sich mit der europäischen Kultur untrennbar verbinden, sind die Würde der Person, die Herrschaft des Rechts und die Unterscheidung zwischen Geistlichem und Weltlichem. Sie machen die europäische Identität aus".

Wenn Europa eine "Gesinnung" ist, wie Romano Guardini es nennt, dann ist diese Gesinnung selbstverständlich ebenso eine osteuropäische wie eine westeuropäische. Als Gemeinschaft der Demokratien und der Menschenrechte ist Europa auch eine Gemeinschaft des Friedens. Zu einer Zeit, als es in Europa nur zwei Republiken gab, Frankreich und die Schweiz, wagte Immanuel Kant in seiner Schrift über den Ewigen Frieden die These, dass Demokratien untereinander keinen Krieg führen. 200 Jahre später gehört diese These zu den wenigen einigermaßen gesicherten Erkenntnissen der politischen Theorie. Die Erweiterung der Europäischen Union als Ausdehnung der Wertegemeinschaft ist also nicht nur eine idealistische Verpflichtung. Sie ist eine praktisch vielversprechende Friedensstrategie und liegt deswegen in einem wohlverstandenen "realistischen" Sinne auch in Westeuropas eigenem sicherheitspolitischen Interesse.

Dieser Gedanke gilt auch im Verhältnis Europas zur Welt. Die Friedensgemeinschaft Europa hat der Welt gegenüber gleichermaßen Verpflichtung und Interesse an stabilen Friedensordnungen in so vielen Regionen wie möglich. Auf der globalen Ebene erweitert sich das sicherheitspolitische Interesse auf ganz neue Bereiche: Soziale Ungleichgewichte, Krisen auf den Finanzmärkten, fundamentalistische Gewalt und Drogenhandel gehören zu den sogenannten neuen Sicherheitsrisiken, die transnational wirken und mit den klassischen Mitteln der Sicherheitspolitik nicht mehr fassbar sind.

Wie kann Europa gegenüber solchen Risiken überhaupt "reüssieren"? Was kann es besser leisten als die zunehmend machtlosen Nationalstaaten? Wie steht es mit seiner Handlungsfähigkeit, und wie kann europäisches Handeln legitimiert werden?

Obwohl die Einsicht wächst, daß die Globalisierung uns alle in gleicher Weise trifft und Europa eines unserer besten Mittel ist, um ihr zu begegnen, leisten wir uns weiterhin die alten begrifflichen Grabenkämpfe, die schon immer eine europäische Spezialität waren: zwischen den Hütern nationaler Souveränität und den Anwälten der internationalen Gemeinschaft, zwischen den Verfechtern privater Freiheit und den Mahnern der öffentlichen Verantwortung, zwischen der Dogmatik der Effizienz der Märkte und dem Engagement für soziale Solidarität. Mir liegt daran, dass über diese Gräben Brücken der Verständigung gebaut werden.

Die ideologischen Gegensätze zwischen den Bewahrern der nationalen Souveränität und den Anwälten dereuropäischenGemeinschaft scheinen mir gar nicht unüberwindlich. Um sie überbrücken zu können, sollten wir uns über zwei Dinge klar werden: erstens über die politischen Ziele, denen Europa sich verpflichtet fühlt, und zweitens über die institutionelle Gestalt, die es sich geben muß, um diese Ziele erreichen zu können.

Was die politischen Zielsetzungen angeht, sind sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union heute erstaunlich einig. Innenpolitisch haben bei der großen Mehrzahl der Mitgliedsstaaten die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Haushaltssanierung im Sinne der Maastricht-Kriterien höchste Priorität. Sogar in der Außenpolitik, der vornehmsten Prärogative nationalstaatlicher Souveränität, haben wir eine geradezu dramatische Konvergenz erlebt. Auf dem Berliner Gipfel haben die Regierungschefs sich unter dem Druck der Ereignisse im Kosovo erstmals zu einer wirklichen gemeinsamen Außenpolitik durchgerungen. Auf dem Kölner Gipfel wurde diese neue außenpolitische Einigkeit mit richtungsweisender Substanz gefüllt. Alle Verantwortlichen sind sich bewußt geworden, dass Westeuropa seinen Frieden dem Umstand verdankt, dass es nach dem letzten Weltkrieg zu einer Gemeinschaft der Demokratie und des Rechts wurde. Der Stabilitätspakt für Südosteuropa beruht auf dieser Einsicht.

Was die institutionelle Gestalt Europas angeht, müssen wir noch schwierige Fragen beantworten. Der Kosovokonflikt hat deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass Europa mit einer Stimme sprechen kann, auch als gleichberechtigter Pfeiler der NATO. Aber welche institutionelle Form kann dies künftig gewährleisten? Die Frage drängt sich auch aus einer anderen Richtung auf: Wenn wir mit der Erweiterung der Europäischen Union ernst machen und die Perspektive einer Verdoppelung der Zahl der Mitgliedsstaaten aufrecht erhalten wollen, brauchen wir eine sehr weitgehende institutionelle Reform. Anderenfalls würde die Europäischen Union zur Handlungsunfähigkeit verurteilt.

Die Debatte darüber hat alte Geister geweckt. "Es geht ein Gespenst um in Europa" ? und man gibt ihm den Namen Föderalismus. Die einen sehen in ihm den Separatismus, der die klassischen Nationalstaaten Europas von innen aushöhlt. Andere wieder wittern hinter dem Föderalismus ein trojanisches Pferd, mit dem politische Machtansprüche des wirtschaftlich starken Deutschland in einen europäischen Superstaat transportiert werden sollen. Natürlich nehmen wir die Ängste der französischen "Souveränisten"auch in Deutschland wahr. Ich bin aber zuversichtlich, dass diese Ängste sich von selbst zur Ruhe legen werden. Es gibt nämlich auch ganz andere Bewegungen im europäischen Meinungsbild.

Wegen der alten Ängste kam es noch vor sieben Jahren in Maastricht nicht zu einer Einigung über die "Finalität", das Ziel des Einigungsprozesses, die wünschbare Gestalt Europas. Stattdessen einigte man sich auf den im wesentlichen gleichbedeutenden, aber für die meisten Bürger unverständlichen Begriff "Subsidiarität" als Grundprinzip der politischen Union.

Inzwischen gibt es auch in den klassischen Einheitsstaaten Frankreich und England Stimmen für föderale Lösungen.

Niemand will einen bürokratischen Superstaat. Niemand will einen europäischen Bundesstaat, der die amerikanische oder deutsche Verfassung imitiert. Niemand will schließlich einen europäischen Einheitsstaat nach dem Muster des französischen, auch und vor allem nicht die Franzosen.

Was aber alle europäischen Bürger und alle Mitgliedsstaaten in der ganzen Vielfalt ihrer Verfassungen wollen können, ist eine Föderation der europäischen Staaten. Eine solche Föderation ist nicht darauf angelegt, die Nationalstaaten verschwinden zu lassen, ihnen ihre Identität zu rauben, ihre Parlamente zu entmachten, ihre innere föderale oder einheitsstaatliche Verfassung zu ändern oder das an ihrer Stelle zu tun, was sie selbst am besten leisten können. Im Gegenteil, sie böte ihnen Handlungsfähigkeit dort, wo sie auf sich allein gestellt Handlungsfähigkeit verlieren würden. Die Frage ist, ob wir dafür eine europäische Verfassung brauchen. Ich habe mich gestern in einem Artikel inLe Mondedafür eingesetzt und brauche die Gründe dafür hier nicht zu wiederholen.

Die Spannung zwischen Souveränität und Gemeinschaft, die wir in Europa spüren, entwickelt sich auch auf globaler Ebene. Ist zum Beispiel die Charta der Vereinten Nationen bereits ein Handlungsrahmen der Staatengemeinschaft, den wir als Weltverfassung behandeln können? Oder welcher politische Ordnungsrahmen ist für die "Weltgesellschaft" denkbar? Diese Fragen sind noch heiß umstritten. Kofi Annan hat in seinem Bericht an die Menschenrechtskommission Anfang dieses Jahres den Mut gehabt, auszusprechen, daß sich allmählich eine universelle Norm gegen die gewaltsame Unterdrückung von Minoritäten entwickelt, die Vorrang vor besorgtem Hüten nationaler Souveränität erhalten werde und müsse. Wenn der Generalsekretär der Vereinten Nationen so spricht, ist das ein Zeichen, daß wir Fortschritte machen. Die Vereinten Nationen müssen handlungsfähig sein. Sie dürfen sich nicht durch Berufung von Menschenrechtsverletzern auf nationale Souveränität lähmen lassen.

Ebenso wie in Europa bedeutet das auf globaler Ebene nicht, daß wir auf Nationalstaaten verzichten können. Im Gegenteil, ohne einen starken Staat ist ein Schutz gegen Gewalt zwischen Menschen im Innern nicht möglich. Auch der Schutz der Menschenrechte braucht mehr als den Nachtwächterstaat. Ohne entschlossene Mitgliedsstaaten können die VN in Fällen wie Ruanda, Bosnien, Kosovo, Ost-Timor die Interventionspflicht, die Kofi Annan in seinem Bericht an die Generalversammlung der Vereinten Nationen begründet, gar nicht erfüllen.

Auch in der Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Bildungspolitik gibt es weite Bereiche, in denen sich Nationalstaaten nicht aus der Verantwortung stehlen können, weil Märkte und Informationsflüsse globalisiert sind und wir uns transnationalen Sicherheitsrisiken gegenüber sehen. Allerdings müssen die Zivilgesellschaften in allen Nationalstaaten ihre eigene Balance zwischen privater Freiheit und öffentlicher Verantwortung, zwischen Effizienz der Märkte und sozialer Solidarität finden. Dabei können sie durchaus voneinander lernen.

Dass Europa sich selbst den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Globalisierung verantwortlich stellen muß, ist für mich selbstverständlich. Auch das gehört zur "Réussite" Europas, zumal Europa schon immer eine Arena des Wettbewerbs der Ideen der Gesellschaftspolitik war. Selbst Adam Smith, der üblicherweise nur als gedanklicher Vater des "Laissez-faire" zitiert wird, würde dem zustimmen. Er war nämlich, was häufig übersehen wird, auch ein Moralphilosoph, für den die "unsichtbare Hand" des Marktes nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Beseitigung "barbarischer Verhältnisse" war. Auch er plädierte für öffentliche Infrastrukturen auf den Gebieten der Erziehung, des Gesundheitswesens und des Schutzes der Arbeitnehmer vor sozialen Härten.

Wir scheinen uns dagegen zur Zeit dem Punkt zu nähern, an dem Wirtschaftsmacht auf den globalisierten Märkten in politische Macht umzuschlagen droht. Auf den globalen Märkten, so hat es kürzlich jemand treffend formuliert, erleben wir eine Wirtschaft, die sich ihre Rahmenbedingungen selber setzt, statt dass es die Staaten und internationalen Institutionen tun (können). Vielleicht ist es mir erlaubt, daran zu erinnern, dass die Väter der Erneuerung der Marktwirtschaft und damit des Wirtschaftswunders in Deutschland nach dem Krieg auf ihre Weise die Verantwortung der Politik unterstrichen haben: der Freiheit wegen, der Rücksicht auf nichtwirtschaftliche Interessen wegen, des sozialen Ausgleichs wegen. Auch in Märkten kann es Krisen geben ? und dann brauchen wir die Korrektur der öffentlichen Verantwortung.

Und das sollte auf den Weltmärkten nicht gelten? Das kann Europa doch wohl nicht wollen. Es kommt darauf an, nicht dieadjektivloseMarktwirtschaft zu globalisieren, sondern diesozialeMarktwirtschaft. Dieser Begriff wurde zwar nach dem Krieg in Deutschland entwickelt, bezeichnet aber keinesfalls einen deutschen Sonderweg. Die Idee eines institutionellen Rahmens für den Markt hat als "institutional economics" Eingang in die amerikanische Ökonomie und mit zwei Nobelpreisen Anfang der 90er Jahre weltweite Anerkennung gefunden. Sogar die allseits als Hochburg des Kapitalismus gefeierten oder verfemten USA sind ein Staat, der mit Lohnsubventionen für die Integration von Langzeitarbeitlosen in das Arbeitsleben, mit dem Angebot lebenslanger Bildungsmöglichkeiten, mit dem Zugang zu Wagnis-Kapital für Existenzgründer bis hin zum Angebot der Kinderbetreuung für Erwerbstätige aktive Beschäftigungspolitik betreibt. Aber auch in Europa zeigt eine interessante wirtschaftliche Entwicklung, und zwar in dem oft als "Wohlfahrtsstaat" verächtlich gemachten Schweden, daß die Erhaltung des Wohlfahrtsstaates, innovatives Unternehmertum und dynamisches Wirtschaftswachstum durchaus Hand in Hand gehen können: Es geht also doch.

Die Frage bleibt, mit welchen Mitteln die Staatengemeinschaft international geltende Regeln schaffen und für ihre Einhaltung sorgen kann. Sollen die internationalen Organisationen gestärkt werden? Soll es eine Selbstkontrolle der global tätigen Unternehmen geben? Die Amerikaner machen gute Erfahrungen mit "public private partnership" als Motor des Brückenbaus zwischen privater Freiheit und öffentlicher Verantwortung. Die Zusammenarbeit zwischen Staat und privaten Stiftungen beispielsweise, in den USA eine Selbstverständlichkeit, könnte auch international noch viel stärker entwickelt werden. Es sollte uns jedenfalls einen Versuch wert sein, und zwar sowohl durch Beteiligung des privaten Sektors an öffentlichen Aufgaben als auch in umgekehrter Richtung.

Mit einem Wort: Ich finde es wichtig, daß wir nicht nachlassen, nach Antworten auf diese Fragen zu suchen, daß wir die Grabenkämpfe einstellen und Brücken der Verständigung bauen.