Jubiläumskongress des Verbandes Deutscher Schriftsteller im Historischen Rathaus Köln

Schwerpunktthema: Rede

Köln, , 2. Dezember 1999

Rede von Bundespräsident Johannes Rau

I.

"Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen." So beginnt Ingeborg Bachmanns Erzählung: "Das dreißigste Jahr".Es geht hier um eine Lebenskrise, um eine Verwandlung, um eine Veränderung im Leben eines Mannes.

Ich weiß, dass Krisen auch im Verband deutscher Schriftsteller nicht ausgeblieben sind. Sie kamen schon weit vor dem dreißigsten Jahr. Die Ursachen waren unterschiedlich - und ich bin nicht hierher gekommen, um Ihnen die Geschichte Ihres Verbandes und seiner Krisen zu erzählen.

Die Bachmannsche Geschichte endet jedenfalls damit, dass ein neuer Aufbruch angekündigt wird mit dem fast biblisch klingenden Aufruf: "Ich sage Dir: Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen."

So bruchlos findet man zum Thema, das Sie über Ihren Kongress gesetzt haben: "Aufbruch der Literatur".
Es ist ein verheißungsvolles Motto, ein zuversichtliches, ein Motto, das in die Zukunft weist. In Klammern gesagt: Ich bin froh, dass Sie - vielleicht als einziger Verband in Deutschland in diesem Jahr überhaupt, - der Versuchung widerstanden haben, in ihrem Motto Formulierungen wie "an der Schwelle des einundzwanzigsten Jahrhunderts" oder "des dritten Jahrtausends" zu verwenden.

Sie verzichten auf jeden Bezug zum "Millennium". Allein dadurch haben Sie sich um die Sprachkultur verdient gemacht.

II.

Aufbruch der Literatur also. Ich weiß nicht, wer bei der Wahl des Mottos woran gedacht hat. Auf jeden Fall haben Sie offen gelassen, von wo aus der Aufbruch stattfinden soll und muss und wohin er vielleicht gehen kann und sollte.

Das schafft Raum und lädt ein zu Überlegungen und Assoziationen. Mir fällt dazu ein: Der Aufbruch aus einer Situation in den letzten Jahren, die man als resignativ bezeichnen kann.

Deutsche Literatur hatte sich, so sah das aus und so wurde es Bestandteil des allgemeinen Bewusstseins, deutsche Literatur hatte sich zu verteidigen:

  • dafür, dass sie immer noch nicht den großen Roman einer Generation geliefert habe, dafür, dass der ebenfalls große Roman der Wende noch immer ungeschrieben sei,
  • dafür, dass sie angeblich nicht so schön süffig erzähle und erzählen könne wie die Autoren anderer Länder,
  • dafür, dass sie sich aus politischem Engagement verabschiedet habe und dafür, dass sie in die privaten Ichfindungs- oder Beziehungsprobleme versponnen sei,
  • kurz: Die deutsche Literatur schien sich dafür verteidigen zu müssen, dass sie schlechter sei als früher, schlechter als anderswo und schlechter, als man sie sich wünschen könnte.

Das will ich hier nicht diskutieren. Ich weiß nur: Der jeweiligen Gegenwartsliteratur sind immer schon Vorwürfe gemacht worden:

  • Mal mangelte es ihr an politischem Engagement,
  • mal litt sie genau darunter,
  • mal war sie verstaubt und lebensfern,
  • mal fehlte es ihr an Sitte und Anstand,
  • mal war sie zu kompliziert und zu avantgardistisch,
  • mal zu unterhaltsam und ungefährlich.

Das Ausrufen solcher Trends und die gleichzeitige Kritik daran sind altbekannt.

III.

Ich halte aber fest: Wenn jetzt von einem Aufbruch der Literatur die Rede ist, dann ist man, dann sind Sie offenbar dabei, aus einer resignativen oder gar selbstmitleidigen Stimmung herauszukommen und selbstbewusst in die Zukunft zu schauen. Dafür gibt es offenbar Gründe:

  • Eine ganze Reihe junger Autorinnen und Autoren macht in letzter Zeit von sich reden,
  • manche unserer Städte gönnen sich und den Interessierten Literaturhäuser - bei der Eröffnung des Hauses hier in Köln konnte ich vor vierzehn Tagen selber dabei sein -
  • es entstehen private Literatursalons, nicht nur in Berlin, in denen die Begegnung mit Literatur und nicht mit dem sekundärem Reden über sie im Vordergrund steht,
  • Schriftstellerinnen und Schriftsteller entdecken das Internet, das ganz neue Möglichkeiten der Entstehung und der Aufnahme von Literatur bietet
  • und gewiss könnte man noch manche andere Anlässe nennen.

Dazu kommt - und es wird mir keiner übel nehmen, wenn ich das heute noch einmal erwähne -, dass einer der ganz Großen der deutschsprachigen Literatur dieses Jahrhunderts, Günter Grass, den Nobelpreis bekommen hat. Ich möchte ihm auch hier und heute noch einmal ganz herzlich gratulieren. Wir wissen alle, was Günter Grass auch für den VS bedeutet hat und bedeutet.

Gewiss: Günter Grass hat den Preis bekommen für sein Werk, das er ganz allein geschaffen und ganz allein zu verantworten hat. Aber die Reaktionen waren für mich doch interessant. Abgesehen von den üblichen Spöttern, die jeder, der im Rampenlicht steht, auf den Plan ruft, habe ich einen eigentümlichen Stolz gespürt, der mir bemerkenswert scheint - und zwar aus allen Bereichen unseres Landes und, wenn man so sagen kann, in allen Schichten unseres Volkes.

Hier wurde wieder einmal offen sichtbar, dass Literatur mehr ist als die Form gewordene private Befindlichkeit eines Einzelnen, der nur von Einzelnen - wenn auch von vielen - gelesen wird. Hier wurde noch einmal deutlich, dass Literatur, oder ein bestimmtes literarisches Werk, etwas von dem zum Ausdruck bringen kann, was die Sache aller ist oder sein kann, wenigstens zu großen Teilen.

IV.

In die allgemeine Freude und in den allgemeinen Gratulationschor haben sich auch nachdenkliche Töne gemischt. Da wurde gesagt: Mit Günter Grass habe ein Mann den Preis bekommen, der zu einer fast schon anachronistischen Art von Schriftstellern gehöre:

  • Einer, der sich gesellschaftlich engagiert und sich politisch einmischt,
  • einer, der das repräsentiert, was man einst engagierte Literatur genannt hat.

Wir erinnern uns: es war die hohe Zeit der sogenannten engagierten Literatur, als vor dreißig Jahren der VS gegründet wurde. Müssen wir heute das Ende der engagierten Literatur feststellen? Und wenn ja: Müssten wir das beklagen?

Was hätte man denn heute unter engagierter Literatur zu verstehen? Ist das Literatur, die in die aktuellen politischen Debatten eingreift? Etwa über das Sparpaket oder das Zukunftsprogramm der Bundesregierung? Über den Länderfinanzausgleich? Über die steuerliche Belastung der Familien? Über Fristen für den Ausstieg aus der Atomenergie?

Man merkt gleich: Das kann es nicht sein. Diese Themen sind nicht nur zu speziell, ihnen fehlt alles, was eine literarische Herausforderung darstellt.
Aber sollten dann nicht wenigstens gesellschaftliche Missstände Thema der Literatur sein? Muss man nicht hinweisen auf die Lage der Asylsuchenden, auf die Integration von Ausländern oder auf die ethisch bedenklichen Folgen bestimmter Möglichkeiten der Gentechnologie?

V.

Vor dreißig Jahren, in der Gründungszeit des VS, waren die Möglichkeiten sehr begrenzt, für abweichende oder alternative Vorstellungen öffentlich zu werben.
Das öffentliche Engagement von Schriftstellern half dabei, dass Meinungen und Ansichten von Minderheiten öffentlich wahrgenommen wurden.

Trotz aller Konzentration und trotz aller Fusionen ist die Medienlandschaft inzwischen so vielfältig, sind die Feuilletons nicht nur der großen Blätter so offen geworden, dass es heute kaum Meinungen und Positionen gibt, die nicht zu Wort kommen.

Inzwischen verstehen junge Leute kaum noch, was einst mit dem Begriff "Gegenöffent-lichkeit" gemeint war. Heute fehlt es nicht so sehr an der Möglichkeit, bestimmte Auffassungen zu äußern. Heute fehlt es häufig an der Resonanz. Vieles verpufft oder geht unter. Anderes wird verdrängt oder beiseite geschoben.

Wer sich als Schriftsteller zu aktuellen politischen Fragen äußert, der erlebt häufig, dass auch er nur dazu benutzt werden soll, die Zahl der O-Töne um einen sound-bite zu vermehren.

VI.

Ich stelle mir die Frage, bei welchen gesellschaftlichen und politischen Problemen Schriftsteller oder Künstler eine besondere Kompetenz haben - jenseits kritischer Zeitgenossenschaft. Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage greife ich einen Begriff auf, der in Ökonomie und Ökologie in den letzten Jahren eine gewisse Karriere gemacht hat: Den Begriff der Nachhaltigkeit.

Wer Gedichte, Romane, Theaterstücke oder Erzählungen liest, hat schon oft die Erfahrung gemacht: Texte, die zunächst von einer gewissen Distanz zum Aktuellen gekennzeichnet waren oder so schienen, sind oft auf überraschende Weise aktuell und brisant.

Schriftsteller kennen mehr als andere die Geschichte der menschlichen Wünsche und Vorstellungen, ihre Leiden und ihre Sehnsüchte, ihre Hoffnungen und Schmerzen. Hier liegt vielleicht die besondere Kompetenz oder Autorität, mit der Schriftsteller sich öffentlich einmischen können:

  • Sie schauen, bevor sie schreiben, genauer hin als die meisten - bei sich und bei anderen.
  • Sie achten genauer auf die Töne und auf die Untertöne der Sprache.
  • Sie spüren sensibler, wohin sich Menschen orientieren, woran sie sich halten und wovon sie sich abwenden.
  • Sie entdecken oft als erste, nach welchen Werten die Menschen sich richten, wem sie vertrauen, wem sie nicht mehr glauben, was sie hassen und was sie lieben.

Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Die Kompetenz für die Einmischung von Autorinnen und Autoren in die öffentlichen Angelegenheiten liegt in ihrer Menschenkenntnis, der Kenntnis von sich und von anderen.
Nicht der "Vorschlagsband" und nicht die Meinung eines Schriftstellers zu einer politischen Frage prägen Menschen, die Bücher lesen. Das geschieht vielmehr durch überzeugende Geschichten und Figuren, durch einen neuen Blick auf die Welt und auf uns, den wir jedem guten Buch verdanken.

VII.

Die Menschen möchten in Büchern nicht belehrt werden, sondern sie möchten durch Hinsehen und Mitsehen, durch das Mitgenommenwerden in andere Erfahrungen für sich etwas gewinnen, das Kopf und Bauch anspricht. Zeigefingerliteratur hat bekanntlich nur eine ganz kurze Halbwertzeit.

Ich rede damit keiner unterhaltsamen Beliebigkeit das Wort, und ich kann auch nicht dazu raten, nach dem Zeitgeist zu schielen.

Es gibt, wie ich finde, eine moralische Pflicht des Schriftstellers, die bleibt: die Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Der Schriftsteller geht wie kein anderer mit der Sprache um. Die Sprache ist das wichtigste Medium, in dem sich Menschen miteinander verständigen: Wir können einander etwas erklären, etwas versprechen, etwas zusagen. Wir können mit der Sprache auch verschleiern, verfälschen, bestreiten.

Weil wir, um miteinander auszukommen, Wahrhaftigkeit brauchen, ist die Sprache ein ganz empfindlicher Indikator dafür, wenn etwas in der Beziehung der Menschen zueinander nicht in Ordnung ist. Der Umgang mit der Sprache, ist immer auch ein Indikator dafür wie Menschen miteinander umgehen. Darum stehen die Verhunzung der Sprache, darum stehen das Verbieten und Verbrennen von Büchern am Anfang aller Diktaturen. Darum sind immer wieder Schriftsteller deren erste Opfer.

VIII.

Die Freiheit des Wortes ist die Voraussetzung jeder Literatur. Das ist der tiefste Grund dafür, dass Schriftsteller in der ersten Reihe der kritischen Köpfe stehen, dass sie auf diese Freiheit pochen.

Das ist der Grund dafür, dass Schriftstellerverbände sich immer für ihre Kollegen im Gefängnis, die "writers in prison", engagieren und engagieren müssen, wenn sie sich nicht selber untreu werden wollen.

Literatur ist also schon deshalb engagiert, weil sie auf die Freiheit des Wortes angewiesen ist - ohne Rücksicht auf politische oder wirtschaftliche Interessen. Es gibt aber noch ein anderes, unverzichtbares Engagement der Literatur. Es geschieht wie nebenbei, gleichsam beim Schreiben und beim Lesen. Ich meine den Anspruch auf Individualität, auf Vielfalt. Weil Schreiben und Lesen ganz individuelle Handlungen sind, bildet sich hier, wie kaum anderswo, das, was man Persönlichkeit nennt. Dazu gehören Eigensinn, Nachdenklichkeit, Langsamkeit.

IX.

In diesen Zeiten sind Schreiben und Lesen fast schon ein Ausdruck stiller Anarchie - und eine, wenn auch leise, politische Manifestation.
Schreibende und lesende Menschen sind weniger verführbar für Moden und für die Eskapaden des Zeitgeistes.
Schreibende und lesende Menschen sind mit anderen Geschichten und Zeiten vertraut, nehmen in ihrer Phantasie andere Welten vorweg, und können eine fruchtbare Distanz gewinnen zu einer Gegenwart, die weder Vergangenes noch Künftiges zu kennen scheint.

Weil das so ist,darumsind Schriftsteller engagiert: Für die Freiheit des Wortes und gegen geistige Gleichschaltung; für die Freiheit jedes Einzelnen und gegen seine Unterwerfung unter Sachzwänge oder weltfremde Ideologien.
In diesem Sinne glaube und setze ich auf das Motto Ihres Kongresses:

Aufbruch der Literatur!