Weihnachtsansprache 1999 von Bundespräsident Johannes Rau an die Deutschen im Ausland

Schwerpunktthema: Rede

25. Dezember 1999

Liebe Landsleute in aller Welt,

zum ersten Mal wende ich mich als Bundespräsident an Sie alle, die Sie mich jetzt über die Deutsche Welle sehen oder hören können.

Von Berlin aus wünsche ich Ihnen, wo immer in der Welt Sie jetzt sind, ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.

Ich weiß aus Briefen und aus Gesprächen mit Freunden, dass die Menschen, die im Ausland leben, gerade zu Weihnachten mit ihren Gedanken oft in der Heimat sind. Man denkt an die vertrauten Landschaften, an die Verwandten und an die Freunde. An Weihnachten fühlen wir alte Verbundenheiten meist stärker als sonst im Jahr.

Für viele ist das diesjährige ein besonderes Weihnachtsfest. Wir feiern es vor dem Wechsel ins nächste Jahrtausend. Ich selber bin nicht auf dies Datum fixiert, und ich kann den Wirbel, den manche darum machen, nur schwer nachempfinden.
Aber dieser besondere Jahreswechsel führt uns vielleicht die zeitlichen Dimensionen deutlicher als sonst vor Augen, in denen sich unser Leben bewegt.

Eines ist mir besonders wichtig: Es gäbe diesen Jahrtausendwechsel nicht ohne die christliche Tradition, ohne Jesus und seine Geburt in Bethlehem am Anfang unserer Zeitrechnung. Die Erinnerung an seine Geburt wird uns immer wieder auch an die weihnachtliche Botschaft erinnern: "Friede auf Erden".

Den Auftrag und die Hoffnung, die in dieser Botschaft stecken, möchte ich heute an Sie weitergeben.

Ich wünsche Ihnen Frieden in Ihren Familien, in Ihrer Nachbarschaft, an Ihren Arbeitsstellen.

Zu diesem Frieden kann jeder beitragen, durch ein gutes Wort, durch eine Geste guten Willens, durch die Zeit, die man sich für andere zum Zuhören nimmt.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit den Menschen, denen Sie in oft ganz gewiss anderen Kulturen begegnen, gute Erfahrungen machen, und dass andere Menschen gute Erfahrungen mit Ihnen machen.

In unserer globalisierten Welt der Gegenwart reden wir immer mehr vom Dialog der Kulturen. Wir brauchen ihn - und dazu trägt jeder bei, der unterwegs ist oder ein neues Zuhause gefunden hat. Jeder ist, ob er es immer weiß oder nicht, ein Vertreter - und in gewissem Sinne auch Botschafter - seines Landes und seiner Kultur. Jeder trägt seinen Teil bei zum Gelingen - oder zum Misslingen - dieses Dialogs der Kulturen, auf den wir angewiesen sind, wenn die Erde friedlicher werden soll.

Sie, die Sie als Deutsche im Ausland leben, wissen am besten, wie schwierig die Verständigungs- und Übersetzungsprozesse sind, die man da braucht. Sie wissen am besten, dass Abschottung und Abgrenzung letztlich nicht funktionieren.

Darum setze ich auch manche Hoffnungen auf das nächste Jahr, wenn viele, die seit langem in Deutschland leben, nach neuem Recht die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Es geht um Menschen, die seit vielen Jahren mit ihrer Arbeit, mit ihren Steuern und Sozialabgaben zum gemeinsamen Wohlstand beitragen. Sie sollen alle Rechte und alle Pflichten haben, die für Deutsche gelten. Es geht um ihre Kinder, die hier geboren und aufgewachsen sind. Ich hoffe, dass das Zusammenleben besser wird, dass wir einander näher kommen - und so vielleicht auch ein Beispiel geben können für die Begegnung unterschiedlicher Kulturen in nächster Nachbarschaft.

Das vergangene Jahr hat uns alle an den Fall der Mauer in Berlin und die friedliche Revolution in der DDR am 9. November vor zehn Jahren erinnert. Erinnert haben wir uns an den Gewinn der Freiheit für ganz Deutschland, ja für ganz Europa.

Erinnert wurden wir auch an die Träume und Hoffnungen, die damals dieses Ereignis begleitet haben. Nicht alle davon sind schon in Erfüllung gegangen. Ich glaube aber, dass wir auf einem guten Weg sind. Wir alle wollen dauerhaft ein Land, in dem das Zusammenleben von Freiheit, Recht und Solidarität bestimmt wird. Wir arbeiten dafür, dass die schwierigen Fragen im deutschen Einigungsprozess Stück für Stück gelöst werden.

In unserer friedlosen Welt muss der Friede immer wieder neu gestiftet werden. Er kommt nicht von selber. Friede gelingt nur, wenn an wirklicher Versöhnung gearbeitet wird. Das kann lange dauern.

Sie haben gewiss erfahren, dass es nun endlich eine Vereinbarung über Entschädigungsleistungen für die Zwangsarbeiter gibt, die während des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat verschleppt worden sind, um in deutschen Betrieben zu arbeiten. Systematisch wurden sie ausgebeutet, entrechtet, ihrer Menschenwürde beraubt. Viele wurden auch planvoll durch Arbeit vernichtet. Ich hoffe, dass durch die Vereinbarung über die Entschädigung ein Stück Versöhnung gelingen wird.

Krieg, Verschleppung, Völkermord: Wir alle hatten gehofft, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg dazu in Europa nicht mehr kommen könnte. Die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan hatten diese Hoffnung vorerst zerstört.

Eines der einschneidendsten Ereignisse des letzten Jahres, zugleich eines der einschneidendsten in der gesamten deutschen Nachkriegsgeschichte, war die deutsche Beteiligung beim NATO-Militäreinsatz im Kosovo. Niemand in Deutschland war froh darüber. Wir haben den Einsatz von Waffen mit zerrissenen Herzen begleitet. Auf der anderen Seite war uns aber klar, dass wir nicht weiter zuschauen konnten, als ungezählte Menschen verfolgt und umgebracht wurden, als ein ganzes Volk vertrieben zu werden drohte.

Das Ende des Militäreinsatzes ist nicht das Ende unseres Engagements. Der Weg zum wirklichen Frieden ist noch lang.

Ich war vor wenigen Tagen bei unseren KFOR- und SFOR-Verbänden und den vielen zivilen Helfern im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. So konnte ich mir selber ein Bild davon machen, wie sehr ihre Arbeit dort gebraucht und auch anerkannt wird.

Ich bin froh darüber, dass es immer wieder auch Zeichen der Hoffnung gibt.

Im Nahen Osten verhandeln Syrien und Israel von Angesicht zu Angesicht. Das ist schon mehr als ein Zeichen der Hoffnung.

Ein wirkliches Beispiel humanen Fortschritts ist es, wenn jetzt in Nordirland die Gruppen, die sich jahrhundertelang als Feinde gegenüberstanden, in einer Regierung gemeinsam Verantwortung für ihr Land übernehmen.

Diese und andere Beispiele zeigen: Es lohnt sich, wenn wir für eine friedlichere, für eine menschenfreundlichere Welt streiten und arbeiten. Wo immer in der Welt wir leben.