Weihnachtsansprache 1999 von Bundespräsident Johannes Rau

Schwerpunktthema: Rede

25. Dezember 1999

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

die Adventszeit, das ist die Zeit der Vorbereitung und der Vorfreude auf Weihnachten. In diesem Jahr hatte ich manchmal den Eindruck, etwas anderes beschäftige uns alle noch viel mehr: Das Jahr 2000.

Jeder mag an diesen Einschnitt denken wie er will.

Mir fehlt das Gefühl für die Faszination, die manche empfinden. Wichtig ist, dass wir jeden Tag bedenken und erleben.

Wichtig ist, woran Weihnachten erinnert: An Christi Geburt, an das Geschehen im Stall von Bethlehem.

Die Botschaft der Weihnachtsgeschichte ist auch heute noch gültig und sie geht jeden von uns an, weil sie Licht in die Welt bringt. Das sollten auch wir tun.

Jeder von uns hat dazu viele Gelegenheiten. Es geht ja nicht immer um die große Tat. Es geht um die Frage, wie wir im Alltag miteinander umgehen, um die Freundlichkeit beim Einkauf oder in der Bahn, um Zeit für ein Gespräch, um eine Anerkennung, einen spontanen Anruf, um ehrliche Anteilnahme.

Wir alle begegnen täglich Menschen, die eine solche Geste brauchen. Und kennen wir nicht auch jemanden, dem sie wirklich gut täte?
Weil er krank ist, weil er einen ihm nahestehenden Menschen verloren hat, weil er einsam ist,

weil ihn schwere Sorgen bedrücken, weil er sich fremd oder ausgegrenzt fühlt?

Wer auf der Sonnenseite steht, der kann andere mitnehmen. Wer am Rande steht, der sollte nicht bitten müssen, mitgenommen zu werden.

Gerade auf der Sonnenseite sollten sich die Menschen immer wieder klar machen: Wieviel Glück dürfen sie erleben! Nicht nur aus eigener Kraft und eigenem Geschick. Und wieviel Unglück und Leid gibt es - oft ohne Verschulden der Betroffenen!

Gerade zu Weihnachten können manche von uns Glück besonders intensiv erfahren. Für viele ist es ein Fest der Familie mit vertrauten Menschen. Und auch ich sage aus meiner Erfahrung: Die Familie ist eine wunderbare. Sie ist Ausgangspunkt und Rückzugsort, sie ist Kompass und Kraftquelle.

Aber wer wirklich lebt, der weiß: Die Familie ist kein Ort ohne Konflikte. Ganz im Gegenteil: Das Zusammenleben in einer so engen Gemeinschaft kann Streit und Mühen, Anstrengungen und Enttäuschungen bedeuten.

Wir sollten unseren Kindern nicht vorgaukeln, die Welt sei heil. Aber wir sollten in ihnen die Zuversicht wecken, dass die Welt nicht unheilbar ist.

Kinder brauchen die Erfahrung, dass sie Konflikte lösen, Enttäuschungen überwinden können und dass Anstrengungen sich lohnen.

Wer als Kind dieses Vertrauen mit auf den Weg bekommen hat, der wird auch als Erwachsener den Mut haben, Schwierigkeiten anzugehen und nach vernünftigen Lösungen zu suchen.

Ich spreche heute ganz bewusst von der großen Verantwortung, die Eltern und Familien haben. Nicht nur sie, aber sie ganz besonders.

Im zurückliegenden Jahr haben uns schreckliche Gewalttaten Jugendlicher, ja eigentlich von Kindern, erschüttert. Meine Gedanken gehen heute abend ganz besonders zu denen, die davon unmittelbar betroffen waren: Als Mitschülerinnen und Mitschüler, als Lehrer, als Eltern, als Geschwister und Ehepartner.

Ich denke an die Opfer. Wir alle haben uns gefragt: Wie kann so etwas passieren? Wie kann es soweit kommen? Wo wird das noch hinführen? Vor allem aber: Kann man denn gar nichts dagegen tun?

Doch. Wir können einiges dagegen tun. Vieles geschieht schon:

In manchen deutschen Ländern gibt es Programme, mit denen der Kriminalität vorgebeugt und mit denen sie bekämpft wird.

An manchen Schulen übernehmen Schülerinnen und Schüler verstärkt Verantwortung für den gesamten Betrieb der Schule. Sie werden eingebunden. Konfrontation wird abgebaut.

An Schulen und in Städten sind Runde Tische entstanden. Verantwortliche versuchen gemeinsam gegen zunehmende Gewalt vorzugehen.

Sie sagen: Wir nehmen nicht alles hin, wir schauen nicht weg und vor allem, wir geben nicht auf.

Auch die Medien haben eine große Verantwortung. Zu oft gibt es Darstellung von Gewalt, zu oft werden Menschen abfällig dargestellt oder behandelt.

Es ist richtig, dass wir von der Verantwortung der Schulen sprechen. Aber wir dürfen nicht alle Probleme, die wir in unserer Gesellschaft haben, bei den Schulen abladen.

Das überfordert vor allem die Lehrerinnen und Lehrer. Ihnen möchte ich heute einmal für die großartige und engagierte Arbeit danken, die so viele von ihnen leisten. Manchmal tun sie das unter ganz schwierigen Bedingungen.

Auch die Politik trägt Verantwortung für friedliches Zusammenleben in unserem Land.

Die große Verantwortung liegt aber bei jedem Einzelnen von uns: Bei den Eltern und Verwandten, aber auch beim Nachbarn oder bei denen, die es in der Hand haben, dass der Jugendschutz eingehalten wird.

Was können wir Erwachsenen tun? Pestalozzi hat einmal gesagt: "Du musst die Menschen lieben, die Du ändern willst". Kinder und Jugendliche, die geliebt und gebraucht werden, die fassen auch Vertrauen.

Wir müssen unsere Überzeugungen aussprechen und zu ihnen stehen. Wir müssen Vorbild und Gesprächspartner sein, ja, aber auch Reibflächen bieten.

Zeit füreinander haben: Das gehört zum Kostbarsten, was wir uns schenken können. Auf jeden Fall nicht gleichgültig werden.

Viele Menschen in unserer Gesellschaft lässt es nicht gleichgültig, wie es anderen geht. Sie setzen sich ein und stehen dabei nicht im Rampenlicht. Sie versorgen aufopferungsvoll Angehörige. Sie geben ihre Zeit, damit Jugendliche eine ausgefüllte Freizeit haben. Sie betreuen Behinderte. Sie versuchen das Leid von Menschen in anderen Ländern zu lindern.

Allen, die mit ehrenamtlichem Einsatz oder auch durch Spenden für soziale Zwecke Menschen geholfen haben, danke ich heute von ganzem Herzen.

Sie sorgen dafür, dass wir eine lebenswerte Gesellschaft behalten; eine Gesellschaft, in der nicht alles auf Mark und Pfennig berechnet wird; eine Gesellschaft, in der nicht nur die Leistungskraft des Einzelnen den Wert eines Menschen bestimmt und in der nicht immer nach dem Staat gerufen, sondern selber gehandelt wird.

Wir haben allen Grund zuversichtlich nach vorn zu blicken, wohlwissend, dass noch viele Aufgaben gelöst werden müssen: So auf dem Arbeitsmarkt - trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung.

Jeder einzelne Fall von Arbeitslosigkeit ist eine schwere Belastung - nicht nur ein materielles Problem, sondern ein Verlust an Anerkennung und Selbstbewusstsein.

Viele junge Menschen sind betroffen. Ohne Ausbildung, die in der Zukunft Bestand hat, können sie nicht auf ihren eigenen Beinen stehen.

Im kommenden Jahr können viele Menschen, die seit langem bei uns leben, die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten.

Helfen wir mit, dass sie sich in unserem Land wirklich heimisch fühlen.

Es geht um Menschen, die seit vielen Jahren mit ihrer Arbeit und mit ihren Steuern und Sozialabgaben zu unserem Wohlstand beitragen. Und es geht um ihre Kinder, die bei uns geboren worden und die hier aufgewachsen sind. Sie sollten nicht nur die gleichen Pflichten haben wie wir, sondern auch die gleichen Rechte.

1999 haben uns schlimme Bilder aus vielen Regionen der Welt erreicht: Aus Tschetschenien, jetzt aus Venezuela und aus Sri Lanka.

Wir können nicht überall Einfluss nehmen oder helfen, aber wir dürfen auch nicht einfach abtun, was da geschieht.

Darum waren und sind deutsche Soldaten daran beteiligt, Mord und Gewalt im Kosovo ein Ende zu setzen und friedliches Zusammenleben möglich zu machen.

Ihnen und den vielen zivilen Helfern in der Region danke ich ganz besonders.

Immer wieder gibt es Entwicklungen, die zuversichtlich stimmen: Denken Sie an Nordirland. 300 Jahre lang haben die Bevölkerungsgruppen sich als Feinde gegenübergestanden. Jetzt tragen sie in einer Regierung gemeinsam Verantwortung für ihr Land.

Immer wieder gibt es Beispiele, die zeigen: Es lohnt sich für eine bessere, für eine menschlichere Welt zu streiten - bei uns und in den anderen Ländern der Welt. Wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.

Es ist besser, in der Hoffnung zu leben als in der Furcht oder in der Gleichgültigkeit. Auch das ist die Botschaft von Weihnachten.

Meine Frau und ich wünschen Ihnen gute und friedvolle Tage, nicht nur für dies zu Ende gehende Jahr.