Jubiläumstagung der Hanns-Lilje-Stiftung in der Evangelischen Akademie Loccum

Schwerpunktthema: Rede

Loccum, , 3. März 2000

Einführende Worte von Bundespräsident Johannes Rau aus Anlass der Jubiläumstagung

I.

Wie gern würde ich von Hanns Lilje erzählen, von den Begegnungen die ich mit ihm gehabt habe, seit den 40er Jahren. Erzählen von diesem weltläufigen, hochgebildeten, sprachgewaltigen Mann, den ich auch hier in Loccum oft erlebt habe, der die Breite und die Tiefe des gesellschaftlichen und des kulturellen Lebens wie kaum ein anderer erfasste.

Wie gern würde man Hanns Lilje in diesem Jahr über Johann Sebastian Bach reden hören, über den er geschrieben hat und wie gern würde man würdigen, was er für diese Akademie bedeutet hat, für das Luthertum, für den Protestantismus in Deutschland. Aber das alles ist nicht das was Sie mir aufgegeben haben zu sagen, sondern ich soll etwas sagen über das Gespräch zwischen Politik und Kirche, zwischen Politik und Theologie, ich soll etwas sagen über die Kirche im pluralen und globalen Dialog. Das ist das Thema dieser Tagung. Es entspricht ganz, wenn ich es richtig sehe, dem Wirken Hanns Liljes.

II.

Ihm ging es darum, die Ökumene, das christliche Handeln, in weltweiter Verantwortung zu sehen.

Wir reden darüber heute, am Weltgebetstag der Frauen, an einem Tag, an dem Christen in aller Welt durch gleiche Hoffnungen und Sorgen verbunden sind. Die Worte mit denen heute in vielen Kirchen um Frieden gebetet wird, stammen von Frauen aus Indonesien und aus Timor.
Um welchen Frieden geht es?
Wenn wir an Timor denken, dann ist es keine Frage, es geht zuerst um die elementarste Form von Frieden, um Schutz und Sicherheit vor der Gefährdung von Leib und Leben. Das gilt auch für jene Regionen in Indonesien, in denen es in den letzten Wochen blutige Auseinandersetzungen gegeben hat. Wer sich ein wenig auskennt, der weiß, es sind religiöse Unterschiede, verschiedene Glaubensüberzeugungen, die genutzt werden, um zu Hass und Zerstörung aufzustacheln.

Freilich kann der Hinweis auf religiöse Verschiedenheit uns nicht befriedigen, wenn man die Ursachen dieser Auseinandersetzungen wirklich verstehen will, denn Generationen lang haben Christen und Muslime im indonesischen Archipel friedlich miteinander gelebt. Woher kommt diese plötzliche Eruption in Südostasien oder auch in Zentral- und Westafrika? Jeder Konflikt hat vielfältige Ursachen! Friede wird auf unterschiedlichste Weise gefährdet.

Mancher Konflikt, und wir müssen nicht Irland übersehen, ist religiös oder ethnisch motiviert, jedenfalls vordergründig. Sehen wir genauer hin, stellen wir fest, es gibt auch soziale und es gibt wirtschaftliche Hintergründe. Die Welt lebt in einer zunehmenden Verflechtung der wirtschaftlichen Abläufe - das kann Krisen verschärfen, das kann sie beschleunigen. Und gerade in Südostasien haben die Menschen erst vor wenigen Monaten erleben müssen, welch dramatische Wirkungen das haben kann. Innerhalb von Wochen ist in mehreren Ländern Wohlstand vernichtet worden, der über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut worden war. Unter anderem auch deshalb, weil es keine gleichmäßige Verteilung dieses Wohlstands gab, weil es eine kleine Gruppe gab, die die Mehrheit des Kapitals in ihren Händen und unter ihrer Kontrolle hielt.

So ist auf ganz neue Art die Existenz des Einzelnen in die Abhängigkeit wirtschaftlicher Abläufe hineingeraten, die der Einzelne nicht beeinflussen kann. Aber nicht nur die materiellen Lebensgrundlagen sind gefährdet, sondern auch die geistigen. Den Gesetzen des schrankenlosen, des globalisierten Marktes ist die elementare Erfahrung fremd, dass der Mensch auf Bindungen angewiesen ist.

III.

Wir werden freilich die Herausforderungen der Globalisierung nicht meistern, wenn wir uns einigeln, wenn wir den Kopf in den Sand stecken, wenn wir die unbestreitbaren Vorteile weltwirtschaftlicher Zusammenarbeit ignorieren würden. Es gibt entsprechende Versuche. Aber alle nationalen - oft genug auch nationalistischen - Alleingänge führen in die Sackgasse.

In vielen Ländern sind es gerade Religionsgemeinschaften, die die vermeintliche Überlegenheit isolierter Lösungen propagieren. Aus dieser Ausgrenzung und Abgrenzung ergeben sich neue Gefahren. Ich glaube, dass hier die christlichen Kirchen gefordert sind. Sie müssen im weltweiten interreligiösen Dialog dafür werben, dass wir nicht mehr das Trennende betonen, sondern nach Gemeinsamkeiten suchen. Das ist ein schwieriger Prozess. Das ist ein Prozess, der Umdenken fordert, der neues Nachdenken etwa über den Begriff der Mission oder der missionarischen Kirche nötig macht. Aber mir scheint es im Augenblick dringend nötig, dass wir die Globalisierung nicht zum Schreckgespenst oder zum Sündenbock des neuen Jahrhunderts werden lassen.
Wer die Globalisierung in Bausch und Bogen verdammt, der begibt sich großer Chancen: Der Chancen einer vorteilhaften Arbeitsteilung, verbesserter Ressourcennutzung, vereinfachter Zugänge zur Bildung. Und weil das so ist, darum ist mir der Dialog der Religionen besonders wichtig.
Ich habe vor kurzem bei meinem Besuch in Israel Vertreter der drei monotheistischen Religionen zum Gespräch eingeladen, Juden, Muslime und Christen. Ich hatte das vorher schon im Dezember in Bosnien/Herzegowina getan und ich will es an vielen Orten und zu vielen Gelegenheiten tun, denn es ergibt sich stets eine bemerkenswerte Diskussion: Es gibt einen Dialog darüber, unter welchen Belastungen und mit welchen Hoffnungen Weltreligionen zusammenarbeiten können. Wie Toleranz zustande kommt, und zwar eine Toleranz, die nicht Beliebigkeit mit Toleranz verwechselt. Wir brauchen in den drei großen Weltreligionen zuerst einmal Zeit, um uns abzugrenzen von denen, die die Weltreligionen nur in ihren fundamentalistischen Ausprägungen kennen.

IV.

Der Dialog der Kulturen muss etwas anderes sein als internationale Reisediplomatie.
Wir begegnen ja nicht nur im internationalen Gespräch den anderen Religionen, sondern längst und alltäglich in unseren Städten und Gemeinden. Wie oft aber sind dort die Begegnungen ohne wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung.
Es ist offenbar leichter vorbeizuschauen, wegzusehen, sich abzuwenden, bei sich selber zu bleiben, als sich hinzuwenden und zu versuchen, zu verstehen. Die Menschen, die aus anderen Ländern zu uns nach Deutschland gekommen sind, haben ihre örtliche Bindung aufgegeben, nicht aber ihre geistige, nicht ihre religiöse. Darum haben sie einen Anspruch darauf, dass sie ihre religiösen Überzeugungen praktizieren und ihren Kindern weitergeben können.
Freilich können und müssen wir erwarten, dass sie die Grundsätze unseres politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens achten, dass sie unsere Sprache lernen, dass sie den Boden des Grundgesetzes als ihr Fundament annehmen, aber sie müssen unsere religiösen Überzeugungen nicht übernehmen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat kürzlich in einer Entscheidung uns gerade das wieder in Erinnerung gebracht. Und es hat mit dieser Entscheidung zugleich die Frage aufgeworfen, wie und durch wen islamischer Religionsunterricht erteilt werden könnte.
Es gibt darauf keine leichte, keine einfache Antwort. Der Staat ist angewiesen auf verlässliche, auf verfassungstreue Partner auch in den anderen Religionen.
Aber nach meiner Überzeugung gilt auf jeden Fall, dass das Anliegen unserer islamischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gerechtfertigt ist. Und die Politik muss, wo das noch nicht geschehen ist, Lösungen finden. Darum appelliere ich an alle Verantwortlichen, sich aktiv und schnell um solche Lösungen zu bemühen.
Nach meiner Überzeugung spricht vieles für ein "Wahlpflichtfach Religion", wo es das noch nicht gibt.
In vielen Ländern hat sich das Modell seit langem bewährt. Beiden Seiten, dem Staat und den Religionsgemeinschaften bietet es die Gewähr, ihre Ziele verfolgen und ihre Anliegen wahren zu können.
Der Staat kann und darf seinen Bürgern ihren Glauben nicht vorschreiben. Nur insofern stimmt der Satz, dass Religion Privatsache ist, nur insofern. Der Staat darf das genauso wenig, wie er von Ihnen Religionslosigkeit verlangen darf. Darum muss er in seinen Schulen Raum schaffen, damit Bekenntnisse vermittelt werden können:
Durch Lehrer, die angemessen ausgebildet sind, die in deutscher Sprache unterrichten und die das unter der allgemeinen Schulaufsicht tun.
Nach meiner Überzeugung wird im Rahmen eines Wahlpflichtfaches, das neben Religion auch Philosophie und Ethik anbieten sollte, auch islamischer Religionsunterricht seinen Platz finden.
Der aktuellen Debatte liegt die tiefergehende Frage zugrunde, welchen Ort islamische religiöse Überzeugung und kulturelle Identitäten künftig in unserem Land haben sollten.
Ich bin überzeugt davon, für den Dialog der Kulturen im eigenen Land brauchen wir Beharrlichkeit und Geduld. Die evangelischen Akademien gehen dabei schon lange mit guten Beispiel voran.

V.

Ich habe am Anfang von der Globalisierung gesprochen. Ich komme darauf noch einmal zurück, denn die großen Kirchen haben mit ihrem gemeinsamen Wort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" in die Diskussion über die Umbrüche in unserer Zeit auf eine für mich wegweisende Art und Weise eingegriffen. Das gemeinsame Wort verweist in seinem Kern darauf, dass die Marktwirtschaft einen Rahmen braucht, weil der Markt selber wertblind ist. Im Sozialwort heißt es dazu: "Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke".
Man sollte das bei allen aktuellen Diskussionen im Sinn behalten.
Wir sollten uns nicht einreden lassen, die große Errungenschaft des zurückliegenden Jahrhunderts, nämlich das Streben aller gesellschaftlichen Kräfte nach sozialer Gerechtigkeit, sei nicht mehr zeitgemäß. Weder die modernen Kommunikationsmethoden noch die Rationalisierungschancen oder die Vorteile des "out-sourcing" haben den Solidaritätsgedanken obsolet gemacht. Er ist dringender nötig den je.

VI.

Und gerade der Solidaritätsgedanke macht deutlich, dass unser Staat auf Voraussetzungen beruht, die er nicht selber schaffen kann. So hat es Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal formuliert.
Weil das so ist, darum dürfen und sollen und müssen die Kirchen, so meine ich, mutiger auf ihre Botschaft als die zentrale Quelle unserer Wertordnung verweisen.
Und sie sollten dabei deutlich machen, dass bestimmte Werte und Normen einander bedingen. Dann zeigt sich, dass manche Weltanschauung, die aus angenehmen Versatzstücken zusammengebastelt ist, nur bei schönem Wetter taugt.
Das kann und darf natürlich nicht heißen, jede Weltsicht auszugrenzen, die nicht religiös begründet ist. In einer Zeit der zunehmenden Säkularisierung, die immer mehr auch den Westen unseres Landes erfasst, gewinnen solche Anschauungen offenbar zunehmend an Bedeutung.
Die Kirchen müssen also verstärkt eintreten in den Dialog mit anderen Denk- und Deutungsmustern.

VII.

Es gibt ein Impulspapier "Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert", in dem die evangelischen Kirchen diesen Dialog in einem wichtigen Bereich aufgenommen haben. Viele evangelische Christen drängte es seit langem, die Haltung des Protestantismus zur Gegenwartskultur neu zu bestimmen.

Diesem Konsultationsprozess liegt ein dialektischer Ansatz zugrunde:

  • Kultur ist auf die prägenden auf die kritischen Kräfte des christlichen Glaubens bleibend angewiesen,
  • und der christliche Glaube seinerseits wird nur im lebendigen Austausch mit der gegenwärtigen Kultur verständlich und zugänglich.

Selbstbewusstsein gepaart mit Aufgeschlossenheit - das sind nach meiner Überzeugung die Pfeiler, über die die Kirche hier die Brücke zur Welt schlagen kann. Und das scheint mir ein Handeln zu sein, ganz in der Tradition Hanns Liljes – in einer Zeit, die nach meiner Überzeugung besonders danach verlangt, dass die Kirche ihre Botschaft kraftvoll sagt.