Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit und Dank für die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille

Schwerpunktthema: Rede

Köln, , 19. März 2000

Rede von Bundespräsident Johannes Rau

Dankbar und bewegt nehme ich die Medaille an, die den Namen zweier Männer trägt, denen zuzuhören und denen ein Stück weit zu folgen mir mein Leben lang wichtig gewesen ist. 40 Jahre in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit - biblisch gesehen sind die 40 Jahre immer ein Bild der Wüste. Davon war bei mir keine Rede oder es gab so viel Manna, dass ich es nicht gemerkt habe.

40 Jahre - natürlich christlich-jüdische Zusammenarbeit, deutsch-jüdische Verständigung, immer als ein Thema, als ein wichtiges Thema von dem ich glaube, dass wir uns noch lange mit ihm beschäftigen sollten und beschäftigen müssen. Ich habe das immer gern getan, weil ich glaube, dass das eigene Profil nicht dadurch leidet, dass der Andere ein Gesicht hat, das man erkennen kann.

Für mich ist die Frage, wie Christen und Juden, wie Christen, Juden und Muslime miteinander leben, wie sie sich nicht nur verstehen, sondern wie sie sich verständigen, eine der Kernfragen für die vor uns liegenden Jahre und Jahrzehnte. Globalisierung, Nachrichten, Waren, Güter, Dienstleistungen, die 24 Stunden rund um den Globus rasen. Wenn das so ist, dann kann es nicht so sein, dass unser Leben im Einfamilienhaus oder in der Mietwohnung so bleibt, wie es vor 100 oder 200 Jahren war. Religionen sind nicht mehr verteilt auf verschiedene Kontinente, sondern Religionen, Konfessionen, Weltanschauungen und Weltanschauungsfreie - vermeintlich Weltanschauungsfreie - leben in einer Straße, in einem Haus, und ob sie miteinander reden, ob sie einander begegnen, das sagt etwas über ihr Lebensschicksal, über das Gelingen oder Misslingen ihres Lebens.

Nicht jeder, der Angst vor Fremden hat, ist ein böser Mensch. Ein Fremder macht neugierig, 100 Fremde können Angst machen, und die Frage, vor der wir stehen ist, ob es uns gelingt, die in vielen Städten und in vielen Orten aufgekommene Kette von der Fremdheit über die Angst zum Hass und zur Gewalt - in Solingen, in Mölln - zu durchbrechen und eine andere Kette an diese Stelle zu setzen: Die Kette von der Fremdheit über die Neugier zur Vielfalt und zum Reichtum. Das ist die Frage, vor der wir stehen werden und zur richtigen Antwort auf diese Frage haben viele Männer und Frauen beigetragen, die ich wahrlich nicht alle nennen kann. Martin Buber, Kardinal Bea, Propst Grüber, um nur drei zu nennen, die mir in meinem Leben wichtig gewesen sind. Dass wir das in der Woche der Brüderlichkeit jedes Jahr wieder aussprechen, uns dessen vergewissern, das ist wichtig, obwohl sie auch Woche der Geschwisterlichkeit sein könnte, und obwohl der Begriff der Brüderlichkeit auch zu sentimentalen Missverständnissen neigen könnte für den, der nicht weiß, was Brüder sind.

Gustav Heinemann hat einmal gesagt, "Freunde kann man sich aussuchen, Brüder nicht." Wer sich genauer umsieht, auch in unserem gemeinsamen Buch: Joseph und seine Brüder, Jakob und Esau, Israel und Ismael, von Kain und Abel ganz zu schweigen. Brüder kennen sich, Brüder können einander nichts vormachen, Brüder gehen sich gelegentlich auf die Nerven, Brüder verbergen nichts voreinander und so sind wir Brüder, weil es einen Vater gibt. Als Paul VI. bei seinem ersten Papstbesuch in Israel war, hat er das ausgesprochen als den ersten Satz: Dass Abraham der Vater aller dieser Brüder der monotheistischen Weltreligionen ist, wie wir das fachlich nennen. Um diese Art des Miteinanderlebens geht es zwischen den Völkern, zwischen den Kulturen, zwischen den Religionen, und wir Deutschen haben in der ersten Phase unserer Geschichte nach dem letzten Jahrhundert, die uns zu glücken scheint, viele Chancen das zu zeigen und das zu leben.

Ich habe Grüße zu bringen vom Träger der letzten Buber-Rosenzweig-Medaille, von Erzbischof Muszynski, bei dem ich in der vergangenen Woche in Gnesen gewesen bin, denn das deutsch-polnische, das deutsch-französische Fundament, das sind gleichzeitig die Träger unseres Ansehens in der Welt, das sind die beiden Türen, die uns geöffnet werden nach einer Geschichte, die voll Leid ist und voll Schuld ist, und in der viele von uns gelitten und wenige richtig gelebt haben.

Theodor Adorno hat einmal gesagt: "Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden." Ich möchte gern, dass wir Schluss machen mit den Gerüchten und dass wir Ernst machen mit der Wahrheit. Denn Wahrheit, Recht und Friede, das sind die drei Stichworte dieser Woche der Brüderlichkeit. Zur Wahrheit gehört auch, dass Moishe in unseren Tagen und Straßen auch Mehmet heißen könnte, dass es auf einmal nicht mehr nur darum geht, dass Deutsche und Juden, dass Christen und Juden miteinander leben, sondern dass die drei Weltreligionen aufeinanderstoßen und dass wir dabei alle in Verlegenheiten und Befangenheiten kommen.

Man möchte so gern tolerant sein, und der Weg von der Toleranz zur Beliebigkeit ist doch so kurz. Wie verbinden wir Toleranz mit eigener Glaubensüberzeugung? Wie vermeiden wir, dass Hermann Hesse recht behält, der einmal gesagt hat: "Gestaltlose Nebel begegnen sich nie." Wie ist das Gespräch zwischen denen, die keiner dieser Glaubensgemeinschaften mehr innerlich verbunden sind, ihre Kultur aber mit sich tragen. Worüber reden sie beim Dialog der Kulturen und der Religionen? Reden wir darüber, dass die Christen nicht nur Nachfolger sind der jüdischen Gemeinde, sondern jüngere Geschwister. "Die Wurzel trägt Dich." Haben wir das aufgenommen und angenommen, was die christliche Theologie in diesen Jahren und Jahrzehnten zum Glück uns endlich entdeckt oder wiederentdeckt hat? Dass nicht der Weg der Judenmission, sondern die Erinnerung an die Religion der "älteren Brüder" uns die Herzen öffnet und die Gedanken frei macht.

Lernen wir von Martin Buber das, was Gadamer an seinem 100. Geburtstag ausgesprochen hat, er ist gewissermaßen ein Schüler Martin Bubers. "Der ein Gespräch führt und wer es redlich tut, muss von der Voraussetzung ausgehen, dass er auch Unrecht haben könnte."

Was heißt das im Gespräch der Religionen und der Kulturen? Wir reden jedes Jahr immer wieder von dem, was geschehen ist in den Jahren nationalsozialistischer Herrschaft. Wir reden von Holocaust und Shoah, und auch in der Knesset und bei den Tagen in Israel und in Ägypten war davon die Rede und musste davon die Rede sein. Fügen wir hinzu, es gab vor der Shoah jüdisches Leben in Deutschland, reiches jüdisches Leben. Wer sich das ansieht, wer das aufnimmt, der kann sich deutsche Literaturgeschichte, deutsche Kunstgeschichte, deutsche Musikgeschichte, deutsche Architektur nicht vorstellen ohne den Beitrag der Juden. Wird das wiederkommen? Denn die Wandlung, die wir jetzt erleben: Eine Fernsehserie über Juden in Deutschland heißt "Wir sind da" und nicht "Wir leben mit dem Koffer". Wird das in der Symbiose, die wir erhoffen und erwarten auch von Zuwanderern wieder geschehen, dass der jüdische Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte deutlich wird, erkennbar wird und in seiner Unverwechselbarkeit uns bereichert? Erkennen wir, dass die Vernichtung der Juden auch Selbstamputation des deutschen Volkes gewesen ist? Tun wir genug, um die zu integrieren, die jetzt zu uns kommen aus der Heimatlosigkeit eines Vielvölkerstaates? Tun wir genug, damit junge Menschen aus Israel, aus Deutschland, aber auch aus Palästina und aus Deutschland sich kennen lernen, sich verstehen, die Sprache des anderen reden?

Wahrheit ohne Recht ist Unbarmherzigkeit. Recht ohne Frieden wird Grausamkeit bringen. Erst der Dreiklang von Wahrheit und Recht und Frieden macht aus unserer Welt eine menschliche Welt, aus der bewohnten eine bewohnbare und dass nie jemand heimatlos ist - dafür zu sorgen ist Sache aller, die Menschenantlitz tragen.

Ich danke Ihnen.