IX. Internationaler Kant-Kongress

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 30. März 2000

Rede von Bundespräsident Johannes Rau auf dem IX. Internationalen Kant-Kongress

I.

Ich freue mich darüber, dass der Internationale Kant-Kongress in diesem Jahr in Berlin stattfindet. Zur gleichen Zeit erinnert eine Ausstellung an die Berliner Aufklärung.

Ich freue mich darüber, dass ich Sie begrüßen kann, die internationale Gemeinschaft der Kant-Experten. Sie legen davon Zeugnis ab, dass Kants Denken noch immer die Köpfe bewegt.

Ich bin mit Professor Gerhardt der Ansicht, dass Philosophie sich in der Öffentlichkeit aufhalten und äußern muss - und dass Politiker, Staatsmänner und Staatsfrauen gut daran tun, wenn sie von Zeit zu Zeit den Philosophen zuhören.

Sie werden von mir kein Grundsatzreferat erwarten über den Philosophen und die Philosophie Immanuel Kants. So viel versammelten Sachverstand könnte ich kaum mit aufregenden Neuigkeiten überraschen.

Ich möchte Ihnen stattdessen einige Überlegungen vortragen zu den Stichworten "Philosophie" und "Aufklärung" und zu ihrer Bedeutung im gesellschaftlichen und politischen Kontext.

II.

Wir leben in einer schnellen Zeit, in der, was heute geschieht, immer mehr das verdrängt, was gestern war. Wir leben in einer Zeit, in der Abstand, Distanz, die ruhige Überlegung, die Bedächtigkeit zu seltenen Gütern geworden sind.

Wo ständige Präsenzpflicht herrscht für alle bei allen Anlässen, die uns medial aufbereitet werden, da ist das Abstandnehmen und Abstandhalten ein Luxus geworden. Aber es ist ein Luxus, den wir uns leisten müssen, weil wir ihn brauchen.

Damit bin ich bei der Philosophie, zu deren vornehmen Aufgaben es gehört, immer wieder Distanz zu gewinnen.

Ich meine nicht die Distanz, sich von allem abzuwenden, was aktuell ist oder wichtig scheint.

Ich meine nicht die Distanz des Elfenbeinturmes, dessen Bewohner keine menschliche Freude und kein menschliches Leid erreichen, die weder die Sorgen noch die Hoffnungen der Menschen kümmern.

Ich meine die Distanz, die man gewinnen muss, um besser hinsehen zu können. Um schärfer erkennen zu können. Um genauer hören zu können, welche Melodien, welche Themen das Dauergeräusch des Alltags übertönen - und welche davon wirklich wichtig sind.

Die Philosophie muss und soll sich den Luxus leisten, immer wieder inne zu halten und Distanz zu halten.

Als Gesellschaft sollten wir uns den Luxus leisten, dass es professionelle Philosophen gibt, die an unseren Universitäten einen festen Platz haben.

Wir brauchen Menschen, - ich sage das bewusst ganz einfach - die dafür bezahlt werden, dass sie nachdenken und deren Gedanken sich nicht wirtschaftlich oder anders unmittelbar verwerten lassen.

Wir müssen uns die einfachen Fragen erlauben, auf die menschengerechte Antworten zu finden so schwer ist:

Was können wir wissen?
Was sollen wir tun?
Was dürfen wir hoffen?

Diese Fragen sind Ausdruck dafür, dass die Menschen nie fertig sind mit ihrer Suche nach dem Richtigen, dass jede Lösung immer wieder neue Aufgaben enthält. Sie sind auch Ausdruck des immer neuen Streitens um Orientierung in der Gesellschaft. Ohne diese Fragen hätten wir uns schon längst zu findigen Tieren zurückgekreuzt, wie es Karl Rahner einmal ausgedrückt hat.

Ich erwarte von den Philosophen nicht, dass sie diese Fragen stellvertretend für uns beantworten. Das wäre ganz und gar gegen den Geist der Aufklärung, die ja zum Ziel hat, dass jeder einzelne Mensch lernen soll, sichseines eigenen Verstandeszu bedienen. Nein, in den "Gängelwagen der Vormünder", wie Kant es genannt hat, wollen wir nicht zurück.

Ich erwarte aber, dass die Philosophen diese Fragen immer neu stellen, immer neu offen halten, gegen Desinteresse und Unvernunft, gegen Fatalismus und Hybris.

Ich erwarte von den Philosophen, dass sie diese Grundfragen nicht zeitlos stellen, sondern immer auf eine konkrete Gegenwart hin.

Philosophen sind für mich keine Dienstleister für höheren Tiefsinn. Aber sie werden gesellschaftlich gebraucht, weil es Dinge im menschlichen Leben gibt, die jenseits von Angebot und Nachfrage liegen.

Philosophen werden nicht nur gebraucht in akademischen Seminaren, sie werden nicht nur gebraucht als Produzenten umfangreicher Publikationslisten. Sie werden auch im öffentlichen Diskurs gebraucht.

Ich wünschte mir, dass Philosophen öfter auch öffentlich das Wort ergreifen nicht, um den aufgeregten Wortmeldungen des Tages noch eine weitere hinzuzufügen, sondern damit ab und zu, aus der Distanz zum Alltagsbetrieb der Welt, eine Stimme des Nachdenkens zu hören ist, um nicht zu sagen: eine Stimme der Vernunft.

III.

Es hat einmal in Berlin einen Philosophen gegeben, zu dem sind die Hörer in Massen geströmt. Er hieß Georg Simmel.

In seinen Vorlesungen musste er von Zeit zu Zeit persönlich kontrollieren, ob alle Teilnehmer auch einen Hörerschein hatten – also für ihr Interesse an seinen Gedanken auch zu bezahlen bereit waren und sich nicht als unterhaltungssüchtige Philosophie-Schnorrer entlarvten.

Georg Simmel, dessen Denken gerade neu entdeckt zu werden scheint, hat von der sogenannten Zunft oft wenig Zustimmung erhalten.

Den meisten Fach-Philosophen erschienen sein weitgespanntes Interesse, seine Fähigkeit und sein Wunsch, über alle möglichen, auch über alltägliche Phänomene und Gegenstände wie etwa Geld zu philosophieren, höchst suspekt.

Diese Fachkollegen hatten offenbar vergessen, dass Philosophie zunächst einmal alle, jeden und jede, angeht.

Die Philosophie ist auf dem Markt geboren, auf der Agora, wie es in Griechenland hieß.

Philosophie, so wie Sokrates, aber auch seine Gegner, die Sophisten sie praktizierten, war eine öffentliche Angelegenheit, oft genug auch öffentliche Provokation.

Wir können uns das heute nicht mehr vorstellen, aber es wird durchaus glaubwürdig berichtet, dass man sich öffentlich – und zwar in allen Schichten – über Fragen der Erkenntnis, der Wahrheitsfindung, des guten und richtigen Lebens gestritten hat.

Es gibt die gesicherte Überlieferung, dass sich die Menschen auf dem Markt - "auch die Weiber", wie besonders betont wird - anlässlich der frühchristlichen Konzilien über die Lehre von den zwei Naturen Christi stritten, also über höchst subtile theologische Fragen.

Auch heute gibt es durchaus Anzeichen dafür, dass sich viele Menschen für philosophische Fragen interessieren. Sie werden sich nicht unter Wert angesprochen fühlen, wenn ich den weltweiten Erfolg des Buches "Sophies Welt" als ein Beispiel dafür nenne.
Kinder und Erwachsene zeigen Interesse, wenn ihnen Grundfragen der Philosophie, Grundfragen der menschlichen Existenz und des gesellschaftlichen Zusammenlebens in verständlicher Sprache nahegebracht werden.

Ich denke auch an die philosophischen Cafés, in denen sich Menschen treffen, um gemeinsam zu philosophieren gewiss nicht auf dem Niveau des IX. internationalen Kant-Kongresses, aber doch ganz sicher über dem, was man gemeinhin – oft zu Unrecht - Stammtisch nennt. Diese Cafés breiten sich nach ihrem großen Erfolg in Paris auch in anderen Städten der Welt aus.

IV.

Philosophieren ist also kein Privileg für Fachleute. Philosophieren gehört zum Menschsein. Philosophieren ist reflektiertes Menschsein, bewusstes Leben. Die Fachphilosophen haben das

Privileg, dafür freigestellt zu sein, also viel Zeit dafür zu haben.

Wir anderen – die in der Perspektive der Fachphilosophen sicher zu Recht als Laien bezeichnet werden - haben deswegen Anspruch darauf, an den Gedanken der Philosophen teilhaben zu können.

Wir möchten ab und zu erfahren, dass auch in der akademischen Philosophie tatsächlichunsere Sacheverhandelt wird.

Wir möchten wissen, was die, die sich die Freiheit und die Intensität des Denkens leisten können, über die Welt denken, wie sie sich uns darstellt, und darüber, wie sie vielleicht auch anders sein könnte.

Ich möchte darum – in aller Zurückhaltung - daran erinnern, dass die Gesellschaft an die akademische Philosophie einen gewissen Anspruch auf Teilhabe hat und anmeldet.

Von Zeit zu Zeit möchten wir wissen, was Sie treiben, was Sie bewegt, was Ihr Denken über unsere Gegenwart sagt – und welche gesellschaftlichen, ja vielleicht sogar politischen Konsequenzen Sie uns zu bedenken geben.

Ein Nachdenken, das öffentlich wirkt und öffentlich wirksam ist, ist in meinen Augen keine unphilosophische Angelegenheit.

Dabei sollten Philosophen versuchen, eine Sprache finden, mit der man das öffentliche Gespräch auch außerhalb enger Fachgrenzen führen kann. Ein Philosoph, der verständlich spricht und schreibt, sollte nicht allein deshalb Zweifel an seiner wissenschaftlichen Seriosität auslösen.

Mir ist natürlich klar, dass die akademische Philosophie in ihren ausdifferenzierten Disziplinen, wie andere auch, einen gewissen Fachjargon nicht vermeiden kann. Aber die Philosophie ist eben kein akademisches Fach wie viele andere. Sie müsste doch eine Sprache entwickeln, in der die Disziplinen sich über sich selbst verständigen können – und untereinander.

Eine Philosophie, die nur noch von Fachphilosophen - dieses Wort ist eigentlich ein Unbegriff, ein Paradox -, verstanden und unternommen werden kann, ist doch streng genommen die Selbstaufhebung der Philosophie. Es wäre vor allem die Selbstaufhebung des philosophischen Projektes, an das wir in diesen Tagen des Kant-Kongresses in Berlin besonders erinnern: Die Aufklärung.

V.

Das ist mein zweites Stichwort, verknüpft mit der Erinnerung daran, dass sich der späte Kant politischen Problemen zugewandt hat.

Aufklärung – das Stichwort begeisterte die Zeit, es hat einem Jahrhundert, demsiècle des lumières,den Namen gegeben.

Die Entdeckung der Freiheit des Denkens, die "Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer", die Forderung nach dem Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit: all das war zwar zuerst ein Ereignis des Denkens. Es konnte aber nicht beim Denken bleiben – es musste politische Konsequenzen haben.

Aufklärerisches Denken war politisch gefährlich. – Das musste auch Kant am eigenen Leib erfahren, als seine religionsphilosophischen Schriften auf das Missfallen seines Königs trafen ("mit Kantens Schriften muss es auch nicht länger fortgehen...", so Friedrich Wilhelm II an seinen Kultusminister Wöllner).

Der humanistische Impuls, der Kants philosophisches und politisches Denken antrieb, führte ihn nicht zu blindem Optimismus und zum Glauben an eine nur noch rosige, weil aufgeklärte Zukunft der Menschheit.

Im Gegenteil, Kant war skeptisch im Hinblick auf das menschliche Streben, von sich aus das Gute zu tun.

Sie alle kennen den berühmten Satz, in dem sich diese Skepsis bildlich ausdrückt: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nicht ganz gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt."

Um die Moralität zu fördern, um dem rechten ethischen Verhalten, dem Guten zum Gelingen zu verhelfen, reichen moralische Appelle nicht aus. Das war Kant in seinem nüchternen Realismus klar. Deswegen hat er sich in seiner Friedensschrift Gedanken gemacht über das Recht und seine Geltung und über die Institutionen, die Recht und Frieden schützen.

Der Staat muss in Kants Sinne insofern ein starker Staat sein, als seine republikanische Verfassung stark sein muss. Nur wenn die republikanische Verfassung wirklich Geltung hat und institutionell abgesichert ist, können Friede und Recht wirksam geschützt werden.

Diese sicher vereinfachende Zusammenfassung scheint mir heute besonders aktuell.

Wir erleben ja gerade, dass viele traditionsreiche Institutionen und Strukturen geschwächt sind oder in Auflösung begriffen erscheinen.

Ich sehe nicht den Staat in Gefahr. Aber wir müssen uns über bestimmte Entwicklungen, die historisch neu sind, deutlicher als bisher klar werden. Nur dann können wir sie auch beeinflussen. Nur dann wird nicht über uns entschieden, sondern wir entscheiden selber. Das war das Programm der Aufklärung damals, und das muss es auch heute sein.

Was sind die neuen Herausforderungen?

Frühere Staatsphilosophien konnten davon ausgehen, dass Staaten die Organisation mehr oder weniger homogener Gesellschaften sind.

Einerseits waren die Gesellschaften von einer einheitlichen Kultur geprägt. Das umfasste die Religion, wenn nicht, wie im Westfälischen Frieden gefordert, sogar die Konfession.

Andererseits beruht der nationalstaatliche Gedanke auch auf festen äußeren Grenzen und der Souveränität gegenüber anderen oder gegen andere Staaten.

All diese Faktoren gelten heute so nicht mehr. Ich nenne nur folgende Veränderungen:

In unserem Staat - und das gilt für alle Staaten des sogenannten Westens - leben Menschen zusammen, die von unterschiedlichen Kulturen geprägt sind. Millionen von Menschen sind aus anderen Kulturkreisen zugewandert. Viele bekennen sich zum Islam, der bei uns in Deutschland zu einer millionenfach praktizierten Religion geworden ist.

Dazu kommt, dass auch in der Mehrheitsbevölkerung, wenn ich sie einmal so nennen darf, große kulturelle Veränderungen stattgefunden haben.

Die religiösen Bindungen sind schwächer geworden, in vielen großen Städten in Deutschland gehört nur noch eine Minderheit einer christlichen Kirche an.

Die Mobilität hat die Familien, auch wenn die inneren Bande durchaus immer noch stark sind, oft weit auseinandergeführt.

Die emotionale Bindung an Orte, an das, was man Heimat nennt, ist schwächer geworden.

Man kann sagen: Natürliche Wärmekreise, zu denen die Menschen sich wie selbstverständlich zugehörig fühlen, werden zunehmend ersetzt durch selbstgewählte Kreise und Bindungen, die bei Bedarf oder bei Notwendigkeit aufgelöst und durch neue ersetzt werden.

Der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit, das große Programm der Aufklärung, hat nicht zuletzt in Verbindung mit den ökonomischen Möglichkeiten, oder sagen wir es deutlich: mit dem einmalig großen gesellschaftlichen Reichtum, zu einer starken Betonung von Individualität und Unabhängigkeit geführt.

Die Menschen, die nach Kant lernen sollten, "sich ihres eigenen Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen", haben es zum Teil auch lernen müssen, ihr eigenes Leben weitgehend allein zu leben.

Wenn man diese Tendenzen in einem Stichwort zusammenfassen will, kann man sagen: die Individualisierung ist in vielfältiger Weise dasherausragende psychosozialeKennzeichen der letzten Jahrzehnte gewesen.

Dieser Individualisierung steht auf der politischen, ökonomischen und vor allem auf der informationstechnischen Ebene das herausragende Kennzeichen der letzten zehn Jahre gegenüber: das der Globalisierung.

Nachrichten gehen fast zeitgleich mit dem berichteten Ereignis um die Welt. Per Internet und E-Mail ist potentiell jeder mit jedem ständig verbunden.

Die europäische Einigung ist schon jetzt so weit gediehen, dass immer mehr Entscheidungen längst nicht mehr in Berlin oder Bonn getroffen werden, sondern in Brüssel.

Wir erleben zur Zeit eine Welle von Fusionen und Übernahmen bei großen Unternehmen. Der Glaube, der Größte sein oder zumindest zum Größten gehören zu müssen, ist zur Zeit offensichtlich unstillbar.

Diese Globalisierung hat ganz sicher eine Menge von Vorteilen gebracht, besonders auf ökonomischem Gebiet und für die weltweite Kommunikation. Aber sind dadurch die Menschen wirklich näher zusammengerückt, sind sie sich näher gekommen? Empfindet sich die Menschheit wirklich als globales Dorf?

Beide Phänomene, Individualisierung und Globalisierung - so gegensätzlich sie auf den ersten Blick sind -, führen oft zu Konsequenzen, die ich für bedenklich halte: Sie forcieren Tendenzen zu Absonderung, zu Separation, wie wir sie vielerorts beobachten können.

Ich möchte jetzt nicht allein die bekannten internationalen Konflikte und Bürgerkriege ansprechen.

Absonderungstendenzen gibt es auch innerhalb unserer Gesellschaft. Während wir über ein Jahrzehnt über die multikulturelle Gesellschaft geredet haben, hat sich faktisch in vielen Fällen das Gegenteil entwickelt:

  • Es gibt Türken der dritten Generation, die schlechter Deutsch sprechen als ihre Eltern.
  • An manchen Orten entstehen Gemeinschaften und Einrichtungen mit der Absicht, "unter sich" zu bleiben.
  • Statt sich in der Freizeit zu begegnen, etwa in Discotheken oder Sportvereinen, gehen sich Deutsche und Türken gerade hier in vielen Fällen aus dem Weg. Es gibt tatsächlich "ethnisch" geprägte Sportvereine und Discotheken.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich sage das nicht in kulturpessimistischer Absicht, ich mache nur eine nüchterne Bestandsaufnahme dessen, womit wir praktisch und politisch umgehen müssen. Diese Bestandsaufnahme brauchen wir, damit wir keine auf Illusionen aufgebaute, unrealistische Politik betreiben.

Wir müssen dringend gemeinsam neue Wege suchen, damit wir die Irrwege hin zu Abschottung, Ausgrenzung und Separation verlassen.

Das Problem, das ich auf uns zukommen sehe, möchte ich mit der Frage ausdrücken: Wie stark ist die innere Bindung der Menschen heute an ein Gemeinsames, das alle verbindet? Für wie verbindlich wird das Recht gehalten, das für alle gelten soll? Wie stark ist die Verfassung mit ihren Werten wirklich in allen verankert?

Demokratie funktioniert nach dem Mehrheitsprinzip. Dieses Mehrheitsprinzip funktioniert aber nur, wenn MehrheitundMinderheit, trotz unterschiedlicher Auffassungen, eine gemeinsame Sache haben.

Wenn es daran fehlt, dann kann es dazu kommen, dass die Mehrheit die Minderheit unterdrückt - oder die Minderheit sich an ganz andere Werte gebunden fühlt und zumindest innerlich aus der gemeinsamen Sache aussteigt, das System als ganzes nicht mehr akzeptiert.

Wir brauchen nicht nur ein intaktes und gerechtes Gemeinwesen.
Wir brauchen nicht nur Institutionen, die dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet sind.

Wir brauchen neben der rationalen auch die emotionale Bindung der Menschen an die Einrichtungen des Gemeinwesens, die Recht, Freiheit und Gerechtigkeit sichern.

Wie das möglich wird in Zeiten von Globalisierung und Individualisierung, das ist eine der wichtigsten Denkaufgaben für die Zukunft. Es wäre schön, nein: es ist unabdingbar, dass sich auch Philosophen, gerade in der Nachfolge oder in Auseinandersetzung mit dem Kant der Friedens- und der Aufklärungsschrift, mit diesen Fragen beschäftigen - gelegentlich auch öffentlich.

VI.

Immanuel Kant gehört zu denen, die man immer nennt, wenn von Größe und Bedeutung der deutschen Kultur gesprochen wird. Goethe, Schiller, Kant – diese oder ähnliche Namensreihen werden dann gebildet.

Immanuel Kant in Königsberg, der von den Menschenrechten geschrieben hat, vom Weltbürgertum, vom ewigen Frieden – hat er wohl geahnt, dass sein Name einmal in einer solchen Reihe von Geistesgrößen aufgelistet würde, um in der Zeit größter Barbarei daran zu erinnern, dass es auch das sogenannte andere Deutschland gab?

Hat er, der nun wahrlich ein Weltbürger war, ahnen können, dass im Namen des deutschen Volkes, das sich mit ihm schmückte, das jüdische Volk, das Volk seines intellektuellen Mitstreiters der Aufklärung, das Volk Moses Mendelssohns, ausgerottet werden sollte?

Hat er ahnen können, dass seine Vaterstadt, das schöne Königsberg, in Folge der größten europäischen Katastrophe, unwiederbringlich zerstört, und anschließend für fast fünfzig Jahre unter einer Diktatur leben musste, die im Namen der internationalen Menschheitsbeglückung aufgetreten ist?

Seine ganze Philosophie war doch darauf ausgerichtet, dass es zu solchen Katastrophen, zu solchen Zerstörungen und Selbstzerstörungen der Menschen nicht kommen sollte.

Gewiss: Ich habe es zu Anfang angedeutet, er war kein Optimist. Aber sein Leben und sein Denken bleiben für uns alle, - für Philosophen und für Politiker vielleicht besonders - Herausforderung und Verpflichtung: zu Humanität und Weltbürgertum, zu Aufklärung und Mündigkeit.

Gewiss: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nicht ganz gerades gezimmert werden."

Aber der aufrechte Gang, zu dem uns ein anderer deutscher Philosoph ermutigt hat, der ist uns Menschen gemäß und deshalb können wir Menschen ihn immer wieder lernen.

*)Die Rede wurde im Auftrag von Bundespräsident Johannes Rau verlesen vom Chef des Bundespräsidialamtes, Herrn Staatssekretär Rüdiger Frohn.