Abendessen, gegeben von Staatspräsident Demirel

Schwerpunktthema: Rede

Ankara, , 6. April 2000

Rede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des Abendessens, gegeben von Staatspräsident Demirel, in Ankara

Herr Präsident,
sehr verehrte Frau Demirel,
meine Damen und Herren,

für den herzlichen Empfang und die außerordentliche Gastfreundschaft, die Sie meiner Frau und mir und der mich begleitenden Delegation bereitet haben, danke ich Ihnen sehr.

Gastfreundschaft ist ein Attribut, das jeder Deutsche spontan mit der Türkei verbindet. Wir haben diese Tugend des türkischen Volkes an uns selbst erfahren - wie vor uns jährlich Millionen meiner Landsleute allen Alters, die Ihr Land besuchen: auf der Suche nach den einmaligen Spuren der Geschichte, wegen des Erbes so vieler und so verschiedener Kulturen und wegen der faszinierenden Schönheit der Natur.

Ich bin Ihnen dankbar, Herr Präsident, für das gute Gespräch, das wir heute geführt haben. Wir haben unter Freunden über die in den letzten Jahren geleistete Arbeit Bilanz gezogen und grundlegende Ziele für die Zukunft abgesteckt.

Die Türkei ist ein junges Land mit alter Tradition, zugleich fest in einer historisch bedeutenden Vergangenheit verwurzelt. Ich bin beeindruckt von der Dynamik und der Aufbruchsstimmung, die ich hier erlebe. Unbändiger Unternehmergeist, kühne Entwicklungen der Infrastruktur, lebhaftes kulturelles Leben. All das drängt sich dem Besucher sofort auf. Zu Beginn des neuen Jahrtausends präsentiert sich uns - zu Recht - ein selbstbewusstes und international hoch geachtetes Land.

Sie, Herr Präsident, verkörpern die Metamorphose der modernen Türkei. Sie haben alle Etappen der türkischen Republik durchlebt und über weite Strecken als Regisseur mitgestaltet. Sie sind zu Recht stolz darauf, ein Mann des Volkes zu sein. Sie sind ein Politiker, der den Bauhelm aufsetzt, zum Spaten greift und Visionen realisiert.
Deutschland, Europa und die Welt schätzt Sie als Staatsmann von ungewöhnlichem Format. Kaum ein türkischer Politiker hat in der zweiten Hälfte des 20sten Jahrhunderts die Geschicke seines Landes so sehr geprägt wie Sie. Mustafa Kemal Atatürk hat einmal gesagt: Der Wanderer muss nicht nur den Weg, sondern auch den Horizont dahinter sehen. In Ihrer politischen Wanderschaft haben Sie sich stets an diese Leitlinie gehalten.

Das Jahr des 75. Gründungstags der Republik wurde durch eine der schlimmsten Naturkatastrophen der Geschichte geprägt. Die verheerenden Erdbeben in der Westtürkei im August und im November letzten Jahres waren eine nationale Tragödie für die Türkei. Die Welle der Hilfsbereitschaft aus Deutschland, vor allem das Aufkommen von privaten Spenden nach der Katastrophe bis heute zeigt, wie tief verbunden die Menschen unserer beiden Staaten einander sind.
Es war daher auch mein ausdrücklicher Wunsch, das Erdbebengebiet zu besuchen und den Menschen dort meine persönliche Anteilnahme zu zeigen. Ich bin sicher, dass die Türkei die Kraft zum Wiederaufbau hat. Ich weiß Ihre Geste zu würdigen, Herr Präsident, mich morgen in das Erdbebengebiet nach Bolu zu begleiten.

Die deutsch-türkischen Beziehungen gleichen einem alten Baum mit vielen jungen Trieben und einem starken Stamm, der vor jedem Wetter Schutz bietet. Der Baum, den wir morgen gemeinsam pflanzen werden, ist ein gutes Symbol für den Beginn einer ganz neuen, europäischen Dimension in unserer Beziehung, und ich wünsche mir, dass genau so ein starker Stamm mit vielen jungen Trieben daraus wird.

Ich komme als Freund der Türkei. Unsere Länder verbindet vieles: Eine Partnerschaft, die bis in die Zeit des osmanischen Reiches zurückgeht, eine seit Jahrzehnten bestehende breite politische Übereinstimmung, eine Vielzahl gemeinsamer kultureller und wirtschaftlicher Interessen.

Und schließlich das vielleicht wichtigste: uns verbindet ein festgeknüpftes Netz menschlicher Beziehungen: Mitbürger türkischer Abstammung, die in Deutschland leben und vielfach dort geboren wurden, Türken, die - nicht selten mit deutschen Partnern verheiratet - in die Türkei zurückgekehrt sind, Kinder aus "Mischehen", Verwandte hier und dort. Türken, die Deutschland lieben, Deutsche, die die Türkei lieben. Menschen mit einem besonders großen Herzen für zwei Heimatländer.

Wenn ich heute hier zu Ihnen spreche, dann denke ich auch an die türkischen Mitbürger in meinem Land. Wir alle wissen: Das Zusammenleben ist nicht immer störungsfrei und leicht. Anpassungsprobleme an eine fremde Umwelt können zu Ausgrenzung hier, zu Abkapselung da führen. Wir müssen uns gegen die Gefährdungen wehren, die aus Vorurteilen und Intoleranz - auf beiden Seiten - entstehen. Deshalb müssen wir ein gemeinsames Interesse daran haben, dass die türkischstämmigen Menschen in Deutschland fest integriert sind, ohne dass sie ihre kulturelle Identität verlieren. Dann sind sie eine feste Brücke und ein starkes Bindeglied zwischen unseren Völkern.

Es stimmt mich hoffnungsfroh, dass in der Türkei und in den Beziehungen der Türkei mit den Staaten der Europäischen Union eine neue Ära begonnen hat. Ich bin sicher, dass die Türkei das Signal von Helsinki aufgreift und den Reformprozess weiterführt, an dessen Ende ihre Aufnahme in die europäische Staatenfamilie stehen wird. Kemal Atatürk hat es in einfachen Worten klar ausgedrückt: "Seit Jahrhunderten haben die Türken sich stets in die gleiche Richtung bewegt. Wir sind immer von Osten nach Westen gegangen." Der Geist der Aufklärung, dem sich Atatürk verpflichtet fühlte, schließt Demokratie, Menschenrechte, positive Religionsfreiheit und auch die Freiheit ein, die eigenen kulturellen Traditionen zu pflegen.

Westeuropa hat in den letzten 50 Jahren die Erfahrung der ungeahnten Früchte des Geistes der guten Nachbarschaft gemacht. Auch in diese Richtung hat die Türkei in den letzten Monaten wichtige Schritte unternommen. Ich komme aus Athen und Thessaloniki, der Geburtsstadt Kemal Atatürks, zu Ihnen nach Ankara mit der Hoffnung auf die Perspektive eines vertieften politischen Dialogs zwischen der Türkei und Griechenland. Die menschliche Antwort von Türken und Griechen auf die Naturkatastrophen, die beide getroffen haben, und der Realismus der politischen Führungen in beiden Ländern, die zeigen, dass man miteinander kooperieren kann, stimmen hoffnungsfroh. Deutschland, als Freund und Partner der Türkei und Griechenlands zugleich, ermutigt Sie, den Weg aufeinander zu weiterzugehen und Ihre Beziehungen zu normalisieren und zu vertiefen.

Ich habe es schon in Athen gesagt, und ich wiederhole es in Ankara: Die Türkei und Griechenland teilen mit der Geographie auch das Schicksal. Die Region um die Ägäisvereintmehr als sie trennt. Mögen Dialog, Verständigungsbereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiss, wie zu Beginn der 30er Jahre von Atatürk und Venizelos praktiziert, auch heute im Interesse der Türkei, Griechenlands und Europas zum Tragen kommen.

Sie, Herr Staatspräsident, sehen in der Tradition Atatürks zum Wohle der Türkei und des türkischen Volkes diesen europäischen Horizont hinter dem Weg zu dem vorgezeichneten Ziel. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Wer die Werte akzeptiert, kann also Mitglied sein - unabhängig von der Religion. Die Türkei hat es selbst in der Hand, die Geschwindigkeit zu bestimmen, mit der das Ziel erreicht werden soll. Deutschland ist bereit, der Türkei dabei zu helfen - als Partner und Freund.

Herr Präsident, ich erhebe mein Glas

  • auf eine glückliche und friedliche Zukunft Ihres Landes in einem gemeinsamen zusammenwachsenden Europa,
  • auf eine weitere Vertiefung der türkisch-deutschen Freundschaft in der Gemeinschaft der europäischen Völker
  • und auf Ihr persönliches Wohl und das Ihrer Familie.