Rede anlässlich der Jahresversammlung des American Jewish Committee

Schwerpunktthema: Rede

Washington, , 4. Mai 2000

Lieber Herr Ramer,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Persson,
sehr geehrte Frau Ministerin Albright,
sehr geehrte Damen und Herren,

Ich möchte Ihnen zunächst dafür danken, dass ich heute vor Ihrer Jahresversammlung reden kann. Es ist kein Zufall, dass ich meine erste Rede als Bundespräsident in den Vereinigten Staaten vor einem Forum des American Jewish Committee halte. Das American Jewish Committee gehört seit über 50 Jahren zur Avantgarde, wenn es um amerikanisch-deutsche Beziehungen geht:

Sie gehörten zu den Ersten, die sich offen für den Aufbau demokratischer Institutionen im Nachkriegsdeutschland engagiert haben. Ihre Beziehungen zu deutschen Politikern gehen bis in das Jahr 1947 zurück. Als erste trafen Kurt Schumacher und Fritz Heine ? er lebt noch, ich habe ihn erst kürzlich besucht - mit John Slawson und anderen prominenten Mitgliedern des American Jewish Committee in New York zusammen. Damals war es eine mutige und einsame Entscheidung, die erhebliche und verständliche Vorbehalte gegen das Land der Täter zu überwinden hatte. Nicht erst heute können Sie feststellen: Sie waren Ihrer Zeit voraus. Sie hatten Recht.

In einer Broschüre des American Jewish Committee las ich das Dostojewski zugeschriebene Zitat: "Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen".

Auf meinem Weg hierher habe ich an einen anderen Deutschen gedacht, der noch früher in den USA gewesen ist. Das war 1946, und ich spreche von Martin Niemöller. Er war von der amerikanischen Kirche eingeladen als "Botschafter eines besseren Deutschland". Die amerikanischen Bürger hatten Anteil genommen an seinem Schicksal. Sie hatten seine Predigten und seine Biographie gedruckt, als er im Konzentrationslager saß. Er war "Hitlers persönlicher Gefangener" von 1937 bis 1945.

Und doch, selbst als deutsches Opfer Hitlers schonte er sich nicht angesichts der unsäglichen Realität des Holocaust. Er sprach von Kollektivhaftung auch dort, wo es keine Kollektivschuld gab.

Er besuchte mit seiner Frau 1945 das ehemalige Konzentrationslager Dachau, um ihr die Zelle zu zeigen, in der er vier Jahre eingesperrt war. Beim Gang durch das ehemalige Lager sei ihr Blick auf eine Gedenktafel gefallen. "Hier wurden in den Jahren 1933 bis 1945 238.756 Menschen verbrannt." "Ich merkte", so Niemöller, ich zitiere, "wie meine Frau zitterte, ich musste sie stützen. [. . .] Wasmirdie Fieberschauer über den Rücken trieb, waren die beiden anderen Zahlen: '1933 bis 1945'[. . .]. Ich hätte was darum gegeben, wenn diese Zahlen da nicht gestanden hätten. Da fragte mich Gott ? wie einst den ersten Menschen nach dem Sündenfall: Adam, Mensch, wo bist du gewesen von 1933 bis 1945? [. . .]
Ich hatte wohl ein Alibi in der Tasche, meinen Ausweis als Konzentrationär von 1937 bis 1945. Aber [. . .] Gott fragte mich ja nicht, wo ich von 1937 bis 1945 gewesen war, sondern wo ich von 1933 bis 1937 war. Von 1933 bis 1937 hatte ich keine Antwort. Hätte ich vielleicht sagen sollen: Ich war ein tapferer Bekenntnispfarrer in jenen Jahren, ich habe ein Wort riskiert und schließlich Freiheit und Leben riskiert? Aber danach fragte mich Gott nicht. Gott fragte: Wo warst du von 1933 bis 1937, wo hier Menschen verbrannt wurden? [. . .] Von jenem Augenblick an [. . .] kann ich nicht mehr auf unschuldig plädieren im Blick auf das, was inmitten unseres Volkes an Schuld, an Verdammnis, an Hölle Wirklichkeit geworden ist."
Diese Geschichte fiel mir ein, als ich das Motto des American Jewish Committee las, "Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen". Nach dieser Geschichte werden Sie verstehen, wie hell ihm und uns allen die Kerze erschien, die die Amerikaner damals anzündeten.

Das American Jewish Committee hat zahllose Austauschprojekte ins Leben gerufen, von denen die transatlantischen Beziehungen in besonderer Weise profitieren. Die Austauschprogramme mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung stehen beispielhaft für viele erfolgreiche Projekte.

Das American Jewish Committee war die erste jüdische Organisation aus Amerika mit einem ständigen Büro in Deutschland. Sie haben Ihr Büro 1998 eröffnet, zu einer Zeit, als Bundestag und Bundesregierung sich noch auf den Umzug vorbereitet haben. Was das Büro unter der Leitung von Eugene DuBow und Deidre Berger in nur zwei Jahren geleistet hat, ist wahrlich erstaunlich. Ich freue mich darüber, dass viele von Ihnen das Berliner Büro als Anlaufstelle in Deutschland nutzen, um sich eigene Eindrücke von den Entwicklungen in Deutschland zu verschaffen. Ich selber treffe mich regelmäßig mit Vertretern der Führung des American Jewish Committee und der "local chapters" und will diesen persönlichen Austausch fortzusetzen.

Ich möchte auf den Begriff der Avantgarde noch einmal zurückkommen: Das American Jewish Committee war die erste jüdische Organisation, die außerhalb Deutschlands die deutsche Einheit öffentlich unterstützt hat. Heute, zehn Jahre später, zeigt sich, wie richtig und weitsichtig auch diese Entscheidung war.

Ich weiß, dass es Befürchtungen gab, dass die deutsche Einheit und der Umzug von Bonn nach Berlin in einen neuen alten deutschen Sonderweg münden könnte. Das hat sich nicht bewahrheitet. Auch am verantwortungsbewussten Umgang mit unserer Geschichte hat sich nichts geändert. Die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte ist lebendiger denn je.
Ich möchte das an drei Beispielen deutlich machen:

  • Bei der Diskussion über die Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin ging es nicht um die Frage,obein Mahnmal errichtet werden soll, sondern nur um die Frage,wieder Opfer dieses einzigartigen Verbrechens in würdiger Weise gedacht werden kann.

  • Die Diskussion um die Beteiligung deutscher Soldaten am NATO-Einsatz im ehemaligen Jugoslawien wurde vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte geführt: die Erinnerung an nationalsozialistische Gräueltaten war für viele ein wichtiges Argument dafür, dass Deutschland sich an einem militärischen Einsatz "out of area" beteiligte.Für andere war Deutschlands militärische Vergangenheit ein Argument gegen die Teilnahme an der Intervention.

    Natürlich sind die Vertreibungen und die Massaker im Kosovo nicht zu vergleichen mit der Shoah. Das Bewusstsein der Einzigartigkeit des Holocaust darf aber nicht unsere Wachsamkeit für die Zukunft mindern oder gar zu einer Desensibilisierung für Verbrechen oder gar Tolerierung von Verbrechen führen, die es heute gibt.

  • Verantwortung vor der deutschen Geschichte heißt auch und gerade Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus. Deshalb bin ich dankbar dafür und erleichtert über die Einigung vom 17. Dezember 1999 über die Einrichtung des Stiftungsfonds zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter. Wir können nur erahnen, was die Sklaven- und Zwangsarbeit damals bedeutete: Entrechtung, brutale Missachtung der Menschenwürde, planvolle Vernichtung durch Arbeit.
    Wir wissen, dass die Entschädigung spät kommt. Viele haben damals ihr Leben verloren. Viele sind längst gestorben. Und wir wissen auch, dass man die Opfer, ihr Leid mit Geld nicht wirklich entschädigen kann.

    Aber wir wollen tun, was wir können, und damit auch ein Zeichen setzen. Ich bin froh darüber, dass alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen den Gesetzesentwurf zur Errichtung einer Stiftung zur Entschädigung der Zwangsarbeiter gemeinsam eingebracht haben.

Deutschlands besondere Beziehung zu Israel bleibt ein Eckpfeiler unserer Politik.
Wir sind uns der besonderen Verantwortung für die Sicherheit des jüdischen Staates bewusst.
Ich bin dankbar dafür, dass ich bei meinem Besuch in Israel im Februar als erstes deutsches Staatsoberhaupt Gelegenheit hatte, vor der Knesseth zu sprechen, und zwar in meiner eigenen Sprache. Ich habe dort um Vergebung gebeten für das, was Deutsche getan haben, für mich und meine Generation, um unserer Kinder und Kindeskinder wegen, deren Zukunft ich an der Seite der Kinder Israels sehen möchte.

Ich habe auch daran erinnert, dass unser Verhältnis zu Israel immer ein besonderes sein wird. Im Wissen um das Geschehene halten wir die Erinnerung wach. Mit Lehren aus der Vergangenheit gestalten wir gemeinsame Zukunft. Das ist heute deutsch-israelische Normalität.

Für diese Rede habe ich auch in Deutschland viel Zuspruch erhalten. Das ist ermutigend und zeigt, wie sehr die Besonderheit der Beziehungen zu Israel allgemeiner Konsens in Deutschland ist.

Ich wurde in Jerusalem als Freund Israels empfangen. So konnte ich auch für die Fortsetzung des Friedensprozesses im Nahen Osten werben. Ich habe das Beispiel der Überwindung der Erbfeindschaften in Europa beschrieben und war froh, dass mein Freund Simon Peres mir zustimmte, dass die Nachkriegserfahrung der guten Nachbarschaft in Europa auch ein Muster für den Nahen Osten sein kann.

Den zweiten Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik bilden neben dem besonderen Verhältnis zu Israel die transatlantischen Beziehungen. Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten. Aber nicht jeder Streit ist eine Krise. Wir sollten nicht vergessen:

  • Europa und Nordamerika haben große Übereinstimmungen mit Blick auf Demokratie und Rechtsstaat, Bürgerrechte und Menschenrechte. Das deutsche Grundgesetz und die Declaration of Independence lassen keinen Zweifel daran, dass uns diese Werte gemeinsam sind.
  • Seit 1990, nach dem Ende des Kalten Krieges, sind die USA die einzige Supermacht. Gleichzeitig wächst Europa zusammen. Einige ? auch in den USA ? sehen das mit Misstrauen. Ich möchte hier daran erinnern, dass auch in einer erweiterten EU kein Mitgliedstaat die erste Geige spielt. Auch Deutschland kann und will das nicht.
  • Europa und Amerika haben der Welt gegenüber gleichermaßen Verpflichtung und Interesse an stabilen Friedensordnungen in so vielen Regionen wie möglich, an der weltweiten Verankerung von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.

    Unterschiede bei der Gewichtung individueller Freiheit und öffentlicher Verantwortung sollten wir gegenseitig respektieren. Sie können sogar Quelle gegenseitiger Bereicherung sein.
    Amerikas Tradition privater sozialer Verantwortung, praktiziert in der Form des Stiftungswesens, kann für Deutschland vorbildlich sein. Einwanderungsgesetze sind ein weiteres Beispiel: Unser neues Staatsbürgerschaftsrecht kehrt vom reinen Abstammungsprinzip ab und enthält Elemente des auch in den Vereinigten Staaten geltenden Prinzips des Geburtsortes.

    Andererseits gibt es viele amerikanische Blicke nach Europa, wenn es um die Alters- und Gesundheitsversorgung geht ? obwohl wir im Moment nicht wie Sie in der beneidenswerten Lage sind, uns den Kopf über die Verwendung von Haushaltsüberschüssen zerbrechen zu müssen.

    Die vor beiden Ländern liegenden Aufgaben sind gewaltig. Europäer und Amerikaner stehen gleichermaßen in besonderer Verantwortung, die globalen Risiken zu bewältigen, vor denen wir stehen: Knappheit der natürlichen Ressourcen, nukleare Proliferation, internationaler Drogenhandel, Terrorismus, unkontrollierte Migrationsströme als Folge von Krieg und Umwelt-Risiken wie Treibhausgase und zunehmend auch Computerkriminalität. Das sind Themen, die auch eine Supermacht nicht allein in den Griff bekommen kann. Nur gemeinsam haben wir eine reelle Chance, uns diesen Herausforderungen erfolgreich zu stellen. Um diese Gemeinsamkeit zu erreichen, müssen wir ? wie in jeder Beziehung ? dafür etwas tun.

    Mich bewegt in diesem Zusammenhang die Sorge um die Zukunft der Rüstungskontrollverhandlungen genauso wie die amerikanische Regierung und wie Kofi Annan. Ich will nicht verhehlen, dass mich die Haltung von prinzipiellen Gegnern der Rüstungskontrolle im US-Senat zutiefst besorgt. Es geht um das Schicksal der Welt, um gemeinsame Verantwortung der Atommächte, nicht um vermeintliche Interessen eines Landes, einer Partei oder einer innerparteilichen Gruppe.

    Bei Rüstungskontrolle und Abrüstung darf es keinen Stillstand geben. Im Gegenteil, wir brauchen zusätzliche Anstrengungen, damit es eines Tages nirgendwo auf der Welt mehr Massenvernichtungsmittel gibt. Das sollte unser Ziel sein.
    Die Bundesrepublik Deutschland wird sich auch in Zukunft dafür einsetzen, dass das wachsende ökonomische und politische Gewicht der Europäischen Union dafür genutzt wird, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika im gegenseitigen Interesse weiterzuentwickeln.

    Wir müssen daher weitere Schritte unternehmen, um die Menschen unserer Länder einander näher zu bringen. Austauschprogramme, vor allem für die Jugend, für Schüler und Studenten, sind ein wichtiger Beitrag dazu. Sie können daran mitwirken, die Fundamente der transatlantischen Beziehungen auf beiden Seiten des Atlantik in den Köpfen lebendig zu halten und damit in die Zukunft zu tragen. Das American Jewish Committee hat kräftig daran mitgewirkt. Ich sprach eingangs davon. Wenn wir in dieser Richtung weitergehen, bekommt die transatlantische Partnerschaft neue Kraft. Lassen Sie uns alle zusammen daran arbeiten, dass das Wirklichkeit wird!