Festansprache aus Anlass der 175-Jahr-Feier des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels

Schwerpunktthema: Rede

Leipzig, , 21. Mai 2000

»Das Buch wird bleiben«

Was braucht der Mensch zum Glücklichsein?

»Ein gutes Buch, ein paar Freunde, eine Schlafstelle und keine Zahnschmerzen!« So hat das Theodor Fontane formuliert. Auch im Medienzeitalter bleibt das gültig, jedenfalls für mich. Wer, wie ich, zwei Jahrzehnte seines Lebens als Verleger gearbeitet hat, der weiß, wie sich Papier anfühlt, wie die Druckerschwärze riecht, wie man den Einband aus Leinen oder Leder spürt. Vielleicht können Sie nachempfinden, wie wichtig mir das Buch ist. Vielleicht können Sie auch meine Freude darüber verstehen, dass ich aus diesem ganz besonderen Anlass zu Ihnen sprechen kann.

Ich freue mich mit dem Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, mit dem Historiker Prof. Stephan Füssel auch darüber, dass wir uns in der Gründungsstadt des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels versammelt haben, um dieses Jubiläum zu feiern.

Über zwei Jahrhunderte war Leipzig der Mittelpunkt des deutschsprachigen Buchwesens, der Treffpunkt für Buchhändler, Schriftsteller, Verleger und Literaturinteressierte aus aller Welt, das Zentrum und der Umschlagplatz des deutschsprachigen Buches schlechthin. Diese Tradition hat sich selbst durch politischen Druck nicht unterbinden lassen: Auch in den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges haben die nach 1945 getrennten Börsenvereine Ost und West miteinander Kontakt gehalten. Buchhändler und Verleger nahmen an den jeweils anderen Buchmessen teil; West-Verlage konnten ihr Angebot auf der Leipziger Messe präsentieren.

Leipzig war immer ein Ort großer Kultur. In diesem Jahr erinnern uns daran besonders die Feiern zum 250. Todestag von Johann Sebastian Bach. In Leipzig, einem Ort der Inspiration, sind oft zukunftsweisende Ideen entstanden und verbreitet worden. Bei den Montagsdemonstrationen 1989 haben wir erlebt, dass Ideen Hunderttausende von Menschen mobilisieren können. Leipzig ist ein politischer Ort, an dem Geschichte gemacht wurde – und gemacht wird: Symbol für Einheit und Aufbruch für uns Deutsche und eine Brücke zum Osten.

Wir gedenken nicht nur Johann Sebastian Bachs, wir feiern in diesem Jahr auch den 600. Geburtstag eines großen Mannes, Johannes Gutenberg. Das amerikanische Nachrichtenmagazin »Time« hat ihn vor wenigen Monaten zum wichtigsten Mann des Jahrtausends gewählt.

»Time« hat Recht.

Tatsächlich hat Johannes Gutenberg eine Entwicklung eingeleitet, die unsere Welt grundlegend verändert hat: Die Erfindung des Buchdrucks war die Voraussetzung dafür, dass Informationen, Gedanken und Ideen viele Menschen schnell erreichen können.

Texte brauchten nicht mehr in Klöstern, Kanzleien und Schreibstuben mühsam von Hand kopiert zu werden. Sie waren nicht mehr das Privileg einer Elite, sondern sie ließen sich schnell und in großen Auflagen im Wortsinne »unters Volk« bringen. Ein ganzes Zeitalter ist nach Johannes Gutenberg benannt worden. Ich bin mir nicht sicher, ob das digitale Zeitalter es ablöst oder doch nur ergänzt.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung

Vor wenigen Tagen, am 10. Mai, hat sich zum 67. Mal die Bücherverbrennung im nationalsozialistischen Deutschland gejährt. Sie war der Vorbote unvorstellbarer Barbarei.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist auch heute noch weltweit keine Selbstverständlichkeit; Schriftsteller und Journalisten werden in vielen Ländern verfolgt. Ihre Arbeit wird behindert und unterdrückt, viele werden schikaniert und drangsaliert. Immer wieder müssen Journalisten und Schriftsteller für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben bezahlen. 1999 sollen weltweit mindestens 1100 Schriftsteller, Übersetzer, Verleger und Buchhändler verhaftet, verschleppt oder umgebracht worden sein. Noch viele mehr sind ins Exil gedrängt oder verbannt worden. Wo auch immer so etwas geschieht, ist das eine Schande für die Machthabenden und zugleich ein Beispiel für die Macht des freien Wortes und für die Angst, die das freie Wort bei Diktatoren und Despoten auslösen kann.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat sich seit seiner Gründung 1825 für das Recht auf freie Meinungsäußerung, für den Schutz des geistigen Eigentums eingesetzt – das ist für mich nicht nur Lobbyarbeit im besten Sinne, sondern auch ein Beitrag zu einer freiheitlichen Gesellschaft.

Ich bin dankbar dafür, dass auch offen gesprochen wurde und berichtet wird über die dunklen Zeiten des Börsenvereins in den Jahren von 1933 bis 1945. Man nennt das Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus. Aber da waren auch Menschen, die haben sich schalten lassen. Nach 1945 fand der Börsenverein rasch zu seinen Wurzeln und zu neuer Lebendigkeit zurück, er knüpfte an seine Gründungstraditionen an.

In dieser Tradition steht der schon zitierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der in diesem Jahr zum 51. Mal verliehen wird. Vorgestern haben wir erfahren, dass der diesjährige Friedenspreis an Frau Assia Djebar geht, die algerische Schriftstellerin, die sich seit vielen Jahren für Frieden in ihrer Heimat, für das friedliche Zusammenleben der Völker und die Gleichberechtigung und das Ansehen der Frauen einsetzt.

Immer wieder wurden mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels Frauen und Männer ausgezeichnet, die sich um den Frieden verdient gemacht haben. Oft boten sie Reibungsflächen und lösten öffentliche Debatten aus, oft sprühten sie Funken. Ich denke an die Auseinandersetzungen um die Preisverleihungen an Reinhold Schneider 1956, an Karl Jaspers 1958 – damals habe ich mitgestritten für Karl Barth und gegen Karl Jaspers –, an Ernst Bloch 1967, Léopold Sédar Senghor 1968, den Club of Rome 1973, Ernesto Cardenal 1980 und Annemarie Schimmel 1995. Denken Sie an die Reaktionen auf die Laudatio von Günter Grass auf Yasar Kemal 1997 und schließlich an die Debatte um Martin Walser, die uns vor Augen geführt haben, wie stark Autoren auch in der heutigen Zeit politischen Zündstoff bieten und leidenschaftliche Debatten auslösen können.

Aber gerade weil der Friedenspreis immer wieder zu solchen grundsätzlichen Kontroversen Anlass gegeben hat, hat er diese herausragende Bedeutung in Deutschland erlangt. Viele sehen im Friedenspreis des Deutschen Buchhandels einen Ersatz für einen offiziellen Staatspreis, in dem sich das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein unserer Republik äußert. Ich kann als Bundespräsident mit diesem Verständnis gut leben. Mit der Stiftung dieses Preises, der seine Bedeutung nicht zuletzt dem Engagement von Theodor Heuss in den ersten Jahren verdankt, hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels wie kein zweiter Berufsverband zur geistigen Selbstverständigung und zum Selbstverständnis in Deutschland beigetragen.

Ich wünsche mir, dass Schriftsteller sich auch in Zukunft in die Debatte über das Zusammenleben der Kulturen und über das Zusammenleben in unserer Gesellschaft einmischen. Dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur in unserem Land zusammenleben, wird sich nicht mehr ändern. Darum ist Integration die Aufgabe, die wir gemeinsam anpacken müssen, wenn wir das Zusammenleben erfolgreich und friedlich gestalten wollen.

Es gibt in Deutschland, und leider gerade in den Gegenden, die man die neuen Länder nennt, Gegenden und Orte, in denen ein extrem ausländerfeindliches Klima herrscht, in denen aggressives Gewaltpotenzial vorhanden ist – und in denen über fremdenfeindliche Gesinnung und fremdenfeindliche Gewalttaten hinweggesehen und geschwiegen wird.

Solche Geisteshaltung, solche menschenfeindliche Dumpfheit ist unseres Landes und seiner Kultur unwürdig. Nicht nur schlimme Parolen, auch falsches Schweigen verlangen den Widerspruch der Sprachmächtigen.

Stimme muss aber auch den Sorgen und Ängsten jener Menschen gegeben werden, die oft nur die Schattenseiten der Zuwanderung erleben – sei es, weil sie das tägliche Zusammenleben mit Menschen ausländischer Herkunft als Bürde oder als Belastung erleben, sei es, weil sie als Hinzugekommene Ablehnung und Ausgrenzung erfahren. Wo die Schwierigkeiten benannt sind, da ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einem gedeihlichen Zusammenleben schon getan.

Das deutsche PEN-Zentrum hat vor wenigen Tagen den aus dem Iran stammenden, in deutscher Sprache schreibenden Schriftsteller Said zum neuen Vorsitzenden gewählt. Das ist ein bemerkenswertes Zeichen. Er ist in der deutschen Sprache so zu Hause, dass er zum Reichtum der deutschen Literatur beiträgt. Ich freue mich darüber.

Das Internet: Ein Lesemedium

Die Frage, die ich schon erwähnt habe und aufgreifen will, ist: Läuten Internet und E-Mail das Ende des Lesens, das »Aus« für das Buch ein?

Viele von uns stellen täglich mit Staunen fest, welche immer neuen Möglichkeiten die Technik bietet. Ich selber bin bescheidener Nutzer eines Laptops, der mir inzwischen unentbehrlich geworden ist, und ich habe inzwischen Erfahrungen mit dem Chatten im Internet gesammelt, was mir Spaß gemacht hat.

Was bedeutet das Internet für den Buchhandel, für die Buchhandlungen, für die Verlage? Ich bin davon überzeugt: Das Buch wird bleiben. Sogar beim Handel über das Internet: Kein Produkt ist dort erfolgreicher. Buchbestellungen über das Internet liegen weltweit noch vor Reisebuchungen und Banküberweisungen.

900000 lieferbare Titel liegen im deutschsprachigen Raum vor, ein sprechendes Zeugnis für unseren in Jahrhunderten gewachsenen kulturellen Reichtum. Allein im deutschsprachigen Raum wurde 1999 mit dem Handel deutschsprachiger Bücher über das Internet ein Umsatz von 240 Millionen D-Mark erzielt, und die Tendenz ist steigend.

Das Internet ist ein »Lesemedium«. Anders als bei Hörfunk und Fernsehen muss man lesen und schreiben können, wenn man das Internet nutzen will. Das ist auch für das Buch ein positives Signal. Leseerlebnis, Lesespaß, ja Lesehunger wird es auch in Zukunft geben. Was wir heute die »virtuelle Realität« im Computer nennen, das lässt sich ja auch zwischen den Deckeln eines Buches finden. Wir schlagen ein Buch auf, und wir sind in einer anderen Welt – wann und wo wir wollen.

Was und wie gelesen wird, das wird sich durch das Aufwachsen in einem multimedialen Umfeld gewiss ändern. Das merken wir jetzt schon: Alles muss schneller gehen. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, längere Texte zu lesen, gehen zurück. Das oberflächliche Lesen nimmt zu. Die Sprache ändert sich, aber vielleicht sind das auch Tendenzen, die wieder vorbeigehen. Das sollten wir jedenfalls zu fördern versuchen.

Der Börsenverein engagiert sich mit Unterstützung meiner Amtsvorgänger seit Jahrzehnten für die Förderung des Lesens. Ich fühle mich dieser Tradition verpflichtet und setze sie gerne fort. Ich freue mich, dass der Vorlese-Wettbewerb des Deutschen Buchhandels und »Das lesende Klassenzimmer« bei vielen jungen Menschen nach wie vor große Begeisterung auslösen. Diese Erfahrungen wirken meist ein Leben lang nach.

Aber es gibt auch eine andere, oft verdrängte Tatsache: Die UNESCO schätzt die Zahl der Analphabeten in Deutschland auf 2,8 Millionen – das sind rund drei Prozent der Bevölkerung, und die Dunkelziffer soll noch höher liegen. Das ist viel, das ist viel zu viel in einem Land, dessen wichtigstes Kapital in den Köpfen der Menschen steckt. Ob Informations- oder Wissensgesellschaft: Modernes Analphabetentum kann sich niemand für sich leisten und auch nicht die ganze Gesellschaft.

Neue Chancen und Perspektiven

Verlagswesen und Buchhandel sind im Umbruch. »Der Spagat zwischen Geld und Geist gehört zum täglichen Geschäft der Verlegerei«, hat kürzlich ein führender Verleger in einem Feuilletonbeitrag geschrieben. Er verwies damit auf die schlichte Tatsache, dass Autoren auf Verlage angewiesen sind, die sich im Wettbewerb behaupten können. Es ist eine Sache, über das literarische Renommee einzelner Verlage und die kulturelle Verantwortung von Buchhandlungen zu reden. Es ist eine andere Sache, das zu finanzieren und das nötige Geld zu verdienen.

Wir müssen, bei aller Liebe zur Literatur, akzeptieren, dass Verlage und Buchhandlungen Wirtschaftsunternehmen sind, die schon immer hart kalkulieren mussten, und die sich heute vor neuen großen Herausforderungen sehen. Gegenläufige Tendenzen zeichnen sich ab: Auf der einen Seite erleben wir Konzentrationstendenzen im globalen Maßstab, auf der anderen Seite eröffnen die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ungeahnte Möglichkeiten für kleine und mittelständische Verlage und für Buchhändler. Denken Sie nur an Print on Demand.

Hier bieten sich Autoren und Verlegern Perspektiven, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren. Bücher in kleinen und kleinsten Auflagen könnten eine Chance erhalten und auf Dauer lieferbar bleiben. Auch das Internet bietet neue Möglichkeiten, die, so habe ich mir sagen lassen, gerade von vielen kleinen und mittleren Verlagen und Buchhändlern sehr positiv bewertet werden. So stehen die Produkte kleinerer und großer Unternehmen gleichwertig nebeneinander, ohne dass ein großer Werbeetat nötig wäre.

Das »Verzeichnis lieferbarer Bücher« steht im Internet. Das ehrgeizige Ziel lautet, aus diesem Grundkatalog ein ähnlich selbstverständliches Arbeitsinstrument zu machen, wie es das Telefonbuch oder Bahnfahrpläne sind.

Das Internet ist global, also wird es auch regional und lokal stark genutzt. Darum bietet es lokalen Buchhandlungen neue Chancen für Marketing und Kundenbindung. Eine Buchhandlung, die ein Sortiment anbieten kann, das auf die Erwartungen ihrer Kunden genau zugeschnitten ist, kann sich zu einem kulturellen Treffpunkt entwickeln, an dem regionale Identität und Weltoffenheit gepflegt werden.

Der Schutz des geistigen Eigentums

Manchmal frage ich mich und frage ich andere: Wie kann Literatur in der heutigen Zeit überhaupt noch entstehen? Wer kann davon noch leben? Wie sieht es mit der urheberrechtlichen Absicherung der Autoren aus?

Der Börsenverein steht derzeit vor einer vergleichbar schwierigen Aufgabe wie bei seiner Gründung 1825: das geistige Eigentum von Publizisten, Autoren und Verlagen zu schützen. Es ist ganz leicht geworden, Produkte weltweit zu vermarkten, ohne dass die Urheber auch nur eine Mark oder einen Euro dafür bekommen. Ich freue mich daher besonders darüber, dass Verleger- und Autorenverbände an einem Strang ziehen, damit die Rechte der Autoren auch unter den veränderten Bedingungen des Internets gesichert bleiben.

Derzeit gibt es international zwei unterschiedliche Interessenlagen, die auch bei den GATT-Verhandlungen deutlich geworden sind: Dem Recht auf geistigem Eigentum, dem sich der Börsenverein verpflichtet fühlt, steht das Interesse von Bibliotheken und Universitäten an ungehinderter Verbreitung allen verfügbaren Wissens gegenüber.

Diese weltweite Kontroverse um das geistige Eigentum und seinen Schutz, um das Urheberrecht, markiert zugleich eine scharfe Trennlinie vor allem zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern: Einerseits stehen den Autoren auch in der Informationsgesellschaft die Rechte aus ihrer geistigen Leistung zu. Andererseits sind die wertvollsten Ressourcen des 21. Jahrhunderts Wissen und Kenntnisse. Dazu müssen Bibliotheken und Lehreinrichtungen gerade in Entwicklungsländern möglichst guten Zugang haben.

Hier sind Konflikte programmiert. Ich wünschte mir, dass im Rahmen der GATT-Verhandlungen ein Interessenausgleich geschaffen würde, der niemanden überfordert.

Ein grundlegendes Problem, mit dem Internet und Datenbanken uns konfrontieren, ist die immer weiter wachsende, schon längst unübersehbare Menge an verfügbaren Informationen. Macht übt nicht nur der aus, der die richtigen Informationen kennt. Macht übt auch der aus, der Informationen einordnen und ihre Bedeutung gewichten kann. Verantwortung trägt also, wer über die Auswahl und Zusammenstellung von Informationen entscheidet.

Ich wünsche mir hier ein noch größeres Engagement von Seiten der Verleger, von deren Erfahrungen und Kenntnissen das Internet stark profitieren könnte. Denn Qualitätsprüfung und sorgfältige Auswahl gehören seit jeher zu den klassischen Aufgaben, denen sich Verleger gegenübersehen. Das Gespür, die »Nase« für einen guten Stoff, für einen guten Text, die Sorgfalt beim Lektorieren und die Kunst des Verkaufens, des Marketings, das sind und bleiben verlegerische Herausforderungen von großem Reiz. Neben Mut und Innovationsfreude bleibt Qualität gefragt.

Elektronischer Handel und das mögliche Unterlaufen der Buchpreisbindung – auch die Buchhändler sehen sich schweren Zeiten gegenüber. Der Erfolg beim Erhalt der Buchpreisbindung wäre ohne den Börsenverein des Deutschen Buchhandels nicht möglich gewesen. Ihm ist zu verdanken, dass für rund 1200 Buchhandlungen ein Portal im Internet eröffnet wurde und dass sie ein großes Lesepublikum erreichen können. Trotzdem wird der virtuelle Büchermarkt dem leidenschaftlichen Leser nie die Buchhandlung ersetzen können: Die Stunde vor dem Regal, die Unsicherheit durch die Fülle der Titel, das zufällige Blättern, die fachkundige Beratung, die sichere Empfehlung. Wie viel lebendiger und persönlicher ist das im Vergleich zum Mausklick vor dem Bildschirm!

Bewahrung der kulturellen Identität

Die Aufgabe, Meinungsfreiheit und Vielfalt auch im Zeitalter der Globalisierung zu sichern, lässt sich nur noch zum Teil auf nationaler Ebene lösen.

Was ist in Deutschland zu tun?

Wir sind zu Recht stolz auf unsere liberale Buch- und Informationskultur. Trotz aller Konzentrationstendenzen in Deutschland bietet sie uns eine große Vielfalt an Publikationen und Meinungen. Wir müssen sie erhalten, ja wir müssen sie weiterentwickeln. Voraussetzung dafür sind Rahmenbedingungen, die die Politik setzen kann, um Unternehmen aller Größen zu fördern. Ich denke nicht an Subventionen, weil ich den Stolz der Verleger und Buchhändler aus eigener Erfahrung nur zu gut kenne. Wir sollten vielmehr an Regelungen wie der Buchpreisbindung und dem verminderten Mehrwertsteuersatz für Bücher und Druckerzeugnisse festhalten, um zwei Beispiele zu nennen.

Was können wir in der Europäischen Union tun?

Wir können und wir sollten den zweiten Teil des Vertrags von Maastricht als Chance nutzen, Kultur europaweit in all ihrer Vielfalt zu fördern, damit Menschen auf diesem Weg einander näher kommen. Wenn die europäische Einigung die Herzen der Menschen erreichen soll, müssen sie die Sicherheit haben, dass sie ihre kulturelle Identität bewahren können. Das setzt ganz praktische Dinge voraus: Wir brauchen gemeinsame technische Standards, wirtschaftliche Gemeinschaftslösungen, um Informationen, Meinungen und Bücher aus den kleinen und mittleren Sprachräumen verbreiten zu helfen. Wir sollten den kulturellen, den literarischen Austausch zwischen den europäischen Sprachräumen verstärkt fördern. Ein trauriges Kapitel in diesem Zusammenhang ist für mich nach wie vor die mangelnde Würdigung und die schlechte Bezahlung der großen Leistung von Übersetzern.

Was können wir weltweit tun?

Wir brauchen eine Charta der globalen Wissensgesellschaft, die sowohl geistiges Eigentum als auch das Recht auf Bildung sichert. Nicht nur für uns Europäer, auch weltweit gilt: Literatur ist Ausdruck kultureller Eigenart, sie bewahrt Vielfalt, sie beugt einer weltweiten Einheitskultur, einem kulturellen Fast Food, vor, die manche als Folge der Globalisierung kommen sehen. Ich wünschte mir, dass es uns gelänge, unsere großen Buchmessen noch weiter auszubauen und als Weltbörsen für geistigen Reichtum in Literatur und Wissenschaft zu etablieren. Ein Anfang ist gemacht: Zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat sich seit 1994 der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung gesellt. Seit dem Mauerfall hat sich die Stadt, in der wir zu Gast sein können, wieder zu einem bedeutenden Handels- und Messeplatz für Literatur entwickelt. Sie misst sich darin mit Frankfurt, das die weltweit größte Buchmesse veranstaltet.

Verlegerische und buchhändlerische Ethik

Noch ein paar Anmerkungen zu einem Thema, das mir besonders wichtig ist: die verlegerische und buchhändlerische Ethik, die Verantwortung für Qualität, im Interesse von Lesern und Autoren.

Ich weiß, und darüber freue ich mich sehr, dass auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels darin eine seiner Hauptaufgaben sieht. Nicht alles, was gedacht und geschrieben wurde, muss auch so veröffentlicht werden. Dabei an Zensur zu denken, wäre ein großes Missverständnis.

Eine Gesellschaft entwickelt sich dann weiter, wenn literarische und künstlerische Beiträge neue Denkanstöße liefern, wenn über gesellschaftliche Normen hinaus gedacht und gesprochen werden kann und wenn diese Normen in Frage oder auf den Kopf gestellt werden können.

Die meisten Verleger und Buchhändler verhalten sich – bei allen verständlichen wirtschaftlichen Interessen – sehr verantwortungsvoll. Aber es gibt Fehlentwicklungen, und die Tendenz dazu nimmt mit wachsendem ökonomischen Druck zu. Nötig ist jeweils das genaue Abwägen zwischen dem, was neu und zukunftsweisend sein kann, und dem, was fundamentalen Grundregeln unserer Gesellschaft widerspricht. Ich denke hier an kriegsverherrlichende, an rassistische und Hass verbreitende Veröffentlichungen, die ja wahrlich nicht nur Kinder und Jugendliche gefährden.

Eigenverantwortung und Selbstkontrolle der Verleger und Buchhändler helfen, dass solche Fehlentwicklungen korrigiert werden oder dass sie gar nicht erst entstehen. Der Börsenverein ist auch hier auf gutem Wege. Ich möchte Sie ermutigen, Ihrer Verantwortung weiter gerecht zu werden.

Bücher als Medium für Selbstbesinnung und Selbstkritik, für Muße und Genießen – für mich werden sie das bleiben, und andere werden die Faszination wiederentdecken, die von Büchern ausgeht. Dessen bin ich ganz sicher.