Laudatio aus Anlass der Verleihung des Hessischen Friedenspreises an Martti Ahtisaari

Schwerpunktthema: Rede

Wiesbaden, , 15. Juni 2000

I.

Herr Staatspräsident, lieber Martti Ahtisaari,
hochanschauliche Festversammlung,

es gibt – wenn ich Ihr politisches Wirken richtig verstehe – ein Leitmotiv politischen Handelns, das Sie und mich verbindet:

Es ist die Überzeugung, dass Realpolitik alten Stils in Europa keinen Platz mehr hat.

Sie haben diesen Leitgedanken in Ihrer Arbeit eingesetzt - für den Frieden und für Europa.

II.

Viele von uns erinnern sich noch gut an eine Szene, die im vergangenen Jahr nicht nur im deutschen Fernsehen gezeigt wurde: Es war beim Kölner Gipfel. Sie kamen gerade aus Belgrad, von der soeben schon beschriebenen schwierigen Mission zurück und gingen mit ausgebreiteten Armen auf den Bundeskanzler zu, um ihm vom Erfolg Ihrer Gespräche zu berichten.

Das waren Sie - Martti Ahtisaari, der Friedensstifter, fast möchte man sagen: mit der Geste eines Friedensengels.

Sie hatten gemeinsam mit Victor Tschernomyrdin den jugoslawischen Präsidenten davon überzeugt, dass der Krieg gegen die albanische Minderheit seines Landes und gegen die Kräfte Europas und der NATO aussichtslos war. Ihre Leistung wurde zum Scharnier in der Wende der Südosteuropapolitik. Sie haben das Tor für den Eintritt Südosteuropas in die europäische Wertegemeinschaft geöffnet.

Das war Ihr ganz persönlicher Erfolg. Wer hätte besser als Sie die russische Politik für die Kooperation mit dem Westen in der Sache des Friedens gewinnen können? Wo außer in Finnland gibt es noch Politiker, die die Befindlichkeit der Menschen und der Politik aufbeidenSeiten der früheren Trennungslinie Europas so gut verstehen?

III.

Ich brauche Ihnen ja in dieser Lobrede nicht Ihren eigenen Lebenslauf vorzutragen; aber es fällt auf, dass Sie schon früh Interesse für die benachteiligten und gefährdeten Regionen dieser Welt gezeigt haben: als junger Lehrer in Pakistan, als Botschafter Ihres Landes in Afrika (Tansania), oder als Sonderbeauftragter des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Namibia.

Sie haben - so hat ein Biograph es beschrieben - "das fast Unmögliche geschafft, einem Land wie Namibia zur Unabhängigkeit zu verhelfen, ohne das soziale Geflecht dieser Nation zu gefährden".

Namibia hat es Ihnen gedankt: Es hat Sie zum Ehrenbürger des Landes gemacht.

Ein "Frühwerk" sozusagen, mit dem Sie Ihr "Markenzeichen" geprägt haben: Entschlossenheit gepaart mit Verbindlichkeit, das ist Ihre politische Waffe; mit ihr setzen Sie durch, was Sie für richtig erkannt haben.

Diese Fähigkeiten waren gefragt, als die Vereinten Nationen Sie zum Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Bosnien-Herzegowina und schließlich zum Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für das frühere Jugoslawien ernannten.

Sie waren auch Ihr Markenzeichen als erster direkt gewählter Präsident Ihres Landes.

Von geradezu symbolischer Bedeutung ist für mich, dass sich in Ihrer Amtszeit der Beitritt Finnlands zur Europäischen Union vollzog, der Beitritt, den Sie als Staatssekretär des Außenministeriums einst ausgehandelt hatten. Sie wollten ja stets Ihr Land möglichst eng an Europa anbinden. Europäische und finnische Identität sind für Sie keine Gegensätze; sie bedingen und sie ergänzen sich gegenseitig.

Darum war es auch folgerichtig, dass der Europäischen Rat unter Ihrem Vorsitz wichtige Schritte zur Vertiefung der Europäischen Union, zur Einbindung der nordischen Staaten und zur Heranführung osteuropäischer Staaten beschlossen hat.

"Die Außengrenze der Union darf nicht zum neuen Eisernen Vorhang werden." Dieser fast schon klassische Satz aus Ihrer Berliner Rede spricht vielen und auch mir aus dem Herzen.

Für mich folgt daraus: Mit der Erweiterung braucht die Europäische Union mehr denn je eine bürgernahe Verfassung, die jedem Europäer Gewicht und Stimme gibt und die jedem europäischen Staat gleichberechtigte Mitwirkung sichert. Nur so kann die erweiterte Union handlungsfähig bleiben. Nur so können wir ein europäisches Bewusstsein erreichen, das effektives europäisches Handeln möglich macht und zugleich die dafür nötige demokratische Legitimation schafft.

Wir werden, da bin ich sicher, auch in der Verfassungsdiskussion Ihre Stimme hören: als Vermittler zwischen den alten und den neuen Mitgliedern, als Vermittler zwischen den sogenannten "Grossen" und den sogenannten "Kleinen" in der Europäischen Union.

Eine Balance zwischen dem nur schwer Vereinbaren herzustellen – das ist Ihre Sache.

IV.

Woher zieht Ihr politisches Denken seine Kraft und seine Kreativität? Mir scheint, dass es wesentlich von der nicht einfachen geographischen und politischen Situation Ihres eigenen Landes geprägt ist - und das ist gewiss auch ein Teil seiner Stärke:

  • Eine dreizehnhundert Kilometer lange gemeinsame Grenze mit der früheren Sowjetunion und dem heutigen Russland,
  • der wirtschaftliche und politische Transformationsprozess, der sich in den vergangenen zehn Jahren im baltischen Raum abgespielt hat,
  • die Notwendigkeit, der Europäischen Union den Blick für diese Zusammenhänge zu schärfen.

All das sind Erfahrungen, die sich in Ihrer Politik wiederfinden.

So haben Sie uns in Ihrer schon zitierten Berliner Rede den Blick dafür geöffnet, dass die in westlichen Ländern häufig so gering geschätzte finnische Neutralitätspolitik einen europa- und stabilitätspolitischen Nutzen hatte: Sie verhinderte, so sagten Sie, "ein Driften zur Sowjetunion und weg von den westlichen Ländern".

Es war eine Politik des begrenzten Entgegenkommens in einer schwierigen Lage, mit der Finnland sich das größtmögliche Maß an Eigenständigkeit und Bewegungsfreiheit sichern konnte. Es war, wie sich inzwischen gezeigt hat, eine strategisch sehr kluge und erfolgreiche Politik.

Diese Lebenserfahrung hatte Folgen: Ihre politische Philosophie gründet auf wirtschaftliche und politische Interdependenz: Sie haben früh erkannt, dass die Staaten im heutigen Staatensystem einander brauchen, wenn sie den Wohlstand ihrer Bürger mehren wollen. Wirtschaftliche und politische Verflechtung schafft Sicherheit; ein darauf gegründeter europäischer Sicherheitsraum kann Waffenarsenale reduzieren und Hochrüstung obsolet machen.

In der Tat: Das politische Denken – nicht nur in Europa - muss sich endgültig von den unseligen Tagen konkurrierender Nationalstaatlichkeit entfernen. Es muss in die Lebenswelt des 21. Jahrhunderts eintreten, in der Wohlstand und Sicherheit nicht zuerst aus militärischer Stärke, sondern aus gegenseitiger Abhängigkeit und der daraus resultierenden Zusammenarbeit erwachsen.

V.

Dieser Denkansatz hat Sie auch zu einer der treibenden Kräfte auf einem ganz anderen Gebiet gemacht, das immer wichtiger wird: dem interkulturellen Dialog.

Bei unserem Treffen in Davos im Januar dieses Jahres habe ich die Begeisterung gespürt, mit der Sie sich diesem Thema widmen.

Zwölf Staatsoberhäupter sind Schirmherren für ein Projekt des Dialogs zwischen dem Westen und dem Islam. Sie haben dieses Projekt mit aus der Taufe gehoben. Das Besondere an dieser Initiative ist, dass sie nach Möglichkeiten praktischer Zusammenarbeit zwischen den beiden Kulturkreisen sucht. Forschungsinstitute aus allen beteiligten Ländern bilden ein Netzwerk, um der Gefahr der Entgleisung kultureller Spannungen in Gewalt eine neue Strategie entgegenzusetzen, und zwar

  • durch die Suche nach einem gemeinsamen ethischen Mindeststandard;
  • durch den Abbau von Feindbildern in Schulen und Medien,
  • und durch die praktische Zusammenarbeit bei der Lösung der Probleme unserer Zeit.

Inzwischen wollen immer mehr Staatsoberhäupter mitmachen. Das zeigt: es gibt für diese Dialoginitiative offensichtlich Bedarf.

Den interkulturellen Dialog brauchen wir auch im eigenen Land. Er dient dem inneren Frieden und soll zu einem Klima der Toleranz beitragen, damit kulturelle Spannungen nicht gewalttätig auf der Strasse und in der Nachbarschaft ausgetragen werden.

VI.

Ihr Sensorium für globale Zusammenhänge und globale Verantwortung hat Sie, lieber Martti Ahtisaari, auch zu einem unbeirrten Befürworter globaler Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen gemacht.

"Auf Krisen muss man schnell und konsequent reagieren.": Dieser Titel Ihres Artikels in "Le Monde" aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des "Institut Francais des Relations Internationales" zieht sich wie ein Leitmotiv durch Ihre politischen Reden und Ihr politisches Handeln. Sie haben vor dem Autoritätsverlust gewarnt, den der Sicherheitsrat erleiden wird, wenn er es nicht schafft, international Frieden und Sicherheit herzustellen. Und Sie haben Recht behalten.

Welch bittere Wahrheit in dieser Warnung steckt, sehen wir soeben wieder im Horror des Bürgerkriegs in Sierra Leone. Wie viel selbstgerechte Kritik am Versagen der Vereinten Nationen bekommen wir jetzt wieder zu hören!

Wenn nur die Kritiker auch die bittere Klage von Generalsekretär Kofi Annan hören wollten, die er wohl nicht nur mir gegenüber in New York geäußert hat: die Klage darüber, dass häufig nur die Länder zu friedenserhaltenden oder friedenschaffenden Missionen bereit sind, die zwar guten Willens sind, aber deren Truppen nach Ausbildung und Ausrüstung nicht in der Lage sind, mit einem Konflikt fertig zu werden. Die Länder dagegen, die über gut ausgebildete und ausgerüstete Kräfte verfügen, sind oft nicht bereit, sie rechtzeitig bereitzustellen. Ich fürchte, dass Ihr Engagement auf diesem Gebiet noch lange vonnöten sein wird.

VII.

Meine Damen und Herren, lieber Martti Ahtisaari, wir ehren in Ihnen einen Mann, der

  • international Frieden gestiftet hat,
  • der für sein Land und seine Region aus einer regionalen und politischen Randlage eine europäische Schlüsselrolle entwickelt hat,
  • der für Europa eine Brücke ins Baltikum und nach Russland geschlagen hat,
  • der der Europäischen Union ihre gesamteuropäische Verantwortung vor Augen geführt hat,
  • der Politik nicht als Verwaltung des Bestehenden missversteht, sondern ihr Instrumentarium genutzt hat, um energisch die Zukunft des ganzen Europa mitzugestalten.

Wir ehren einen Mann, der uns lehrt und vorlebt, dass regionale und politische Zwänge, dass Abhängigkeiten und Interdependenzen in der modernen Welt kein Nachteil mehr sein müssen, sondern dass sie ein Grundelement für Wohlstand und Sicherheit und damit für die Stärke eines Landes und einer Region sein können.

Herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch.