100 Jahre Deutscher Mieterbund

Schwerpunktthema: Rede

Dresden, , 16. Juni 2000

Festrede des Bundespräsidenten anlässlich der Veranstaltung100 Jahre Deutscher Mieterbund am 16. Juni 2000 in Dresden

Liebe Anke Fuchs, Herr Ministerpräsident,
Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren!

Gute Gründe nach Dresden zu kommen, gibt es immer wieder. Gute Gründe gibt es auch, zum Mieterverein zu kommen und zum hundertjährigen Jubiläum zu gratulieren.

Anke Fuchs hat mich gebeten, diesen Termin wahrzunehmen. Ich hab es gern getan, und nach der Art der Musik, die wir gehört haben, nehme ich nicht an, dass Sie eine druckreife Festrede hören wollen, sondern die Gedanken und Einsichten eines Mannes, der durch sein neues Amt Mieter geworden ist. Ich war das lange Zeit, bis dann Wohnungseigentum in meiner Heimatstadt dazu kam und die Familie gegründet wurde. Wir haben uns da wohl gefühlt. Dann kam das neue Amt und mit ihm wurde ich wieder zum Mieter.

Ich habe viele Mietverhältnisse erlebt, auch als Kind. Als Kind habe ich erfahren, was es heißt, keine Wohnung zu finden in den Jahren der Zerstörung, in den Jahren der Luftangriffe und bei dem schwierigen und langsamen Wiederaufbau, der uns - damals jedenfalls - zögerlich vorkam und der doch, wenn wir zurückdenken, eine Erfolgsgeschichte geworden ist: zuerst im westlichen Teil Deutschlands und dann hier in der früheren DDR, mit nun ganz anderen Problemen, die ich kennen gelernt habe, als ich vor etlichen Monaten mit meiner Frau einmal fast einen ganzen Tag in einer Plattensiedlung gewesen bin, um festzustellen, mit wie viel Phantasie, Kreativität und Finanzeinsatz versucht wird, aus Behausungen Wohnungen zu schaffen.

Es gibt ja sicher unter uns manche, die sich noch erinnern an den Satz, den Heinrich Zille einmal gesagt hat, der große Zeichner und Karikaturist aus Berlin. Er hat gesagt: "Mit einer Wohnung kann man einen Menschen genau so erschlagen wie mit einer Axt".

Ich denke, er hat damit die Wirklichkeit zu Beginn der Industriegesellschaft beschrieben, als viele Menschen vom Land in die Städte kamen, als man Wohnungen baute und vorfand, in denen konnte man die Zimmer und die begehbaren Schränke nicht voneinander unterscheiden - beide waren gleich groß und gleich dunkel.

Das alles hat es gegeben. Das alles zu verändern und das Recht auf Wohnung neben dem Recht auf Arbeit ins öffentliche Bewusstsein und in die politische Wirklichkeit zu übertragen, das ist eine lange, schwierige Geschichte geworden, und der Mieterbund hat großen Anteil daran, dass diese gleichwertige und gleichartige Solidarität, von der Professor Biedenkopf, der sächsische Ministerpräsident, soeben gesprochen hat, zustande gekommen ist.

Das kann man an einem Beispiel sehen: Als die Bundesrepublik gegründet wurde, gab es selbstverständlich Gespräche zwischen Parteien, Regierungen und Tarifpartnern, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Bis das erste Gespräch zwischen einem Bundeskanzler und dem Mieterbund zustande kam, vergingen über 20 Jahre. Das erste Gespräch, das ein deutscher Regierungschef mit dem Mieterbund geführt hat, war 1970 zwischen Willy Brandt und Paul Nevermann. Es ist dokumentiert in dem schönen Band, den Sie mir, liebe Frau Fuchs, soeben überreicht haben.

20 Jahre lang gab es zu wenig Gesprächskontakte. Inzwischen gibt es zum Glück nicht nur die in den Gesetzen vorgeschriebenen Anhörungen, sondern es gibt den Dialog zwischen Mieterorganisationen und Regierungen auf allen Ebenen.

Vor 100 Jahren war die Gründung in Leipzig, vor 10 Jahren die Vereinigung hier.

Das alles macht deutlich: Alle Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf. Darum ist die Wohnung, so sehr sie ein Wirtschaftsgut ist, nienurein Wirtschaftsgut. In Deutschland gibt es 22 Mio. Mietwohnungen, die 50 Mio. Menschen ein Zuhause geben. Selbst wenn man sich darüber freut, dass es Eigenheime gibt und dass es Privateigentum gibt, das nicht in Mietwohnungen umgewandelt ist, sondern das man selber bewohnt, darf man wohl davon ausgehen, dass auf lange Zeit - jedenfalls in Deutschland -die Mietwohnung der Normalfall ist für die Mehrheit der Menschen. 50 Millionen Menschen von 80 Millionen sind Mieter. Die Frage, die es vor einigen Jahren gab: "Ist Miete zahlen denn modern?", die mag ein kluger Werbespruch sein, aber es gibt Experten, die sagen uns: Profis mieten grundsätzlich. Die Wohnung ist mehr und anderes als nur eine Ware, auch wenn sie eine Ware ist. Sie ist übrigens ähnlich wie der Artikel, mit dem ich 20 Jahre lang meinen Lebensunterhalt verdient habe, wie das Buch. Es ist auch eine Ware, aber es ist eben nicht nur eine Ware.

Wohnraum ist gleichzeitig immer Kapitalanlage. Ohne private Investoren wären die Erfolge seit 1945 und auch die Aufbauleistungen seit 1990 nicht denkbar. Darum ist es richtig und darum spreche ich es genau wie Ministerpräsident Biedenkopf auch hier aus: Die Investoren können zu Recht erwarten, dass sich ihr eingesetztes Kapital angemessen verzinst. Aber die Investoren brauchen, so wie sie selber ihre Organisationen haben, starke Verhandlungspartner.

Da ist die Kärrnerarbeit der Mietervereine in unseren Städten und Gemeinden wichtig, denn es gibt Streitpunkte. Es gibt Streitpunkte, nicht nur, was die Rendite aufs Kapital angeht, sondern was die Qualität der Ware angeht. Wer sich die häufigsten Streitpunkte ansieht, der weiß, im Augenblick sind es Satellitenschüsseln und Kabelfernsehen, Wohnungsmängel und Schönheitsreparaturen, ist es die Relation zwischen Nebenkosten und Miete, sind es Kautionen und Kündigungen. Immerhin werden pro Jahr in Deutschland 300.000 Mietprozesse geführt. Das darf nicht so verstanden werden, als lebten wir grundsätzlich im Unfrieden, aber dass es 300.000 Prozesse gibt, das ist immerhin ein Hinweis darauf, dass nicht alles so problemlos ist, wie wir uns das wünschen würden.

Deshalb sage ich: Wir brauchen übersichtlichere, wir brauchen klarere gesetzliche Regelungen. Und das ist der Maßstab, an dem sich die Neuregelung des Mietrechts und der einschlägigen Gesetze messen lassen muss. Klarer muss es sein, übersichtlicher muss es werden. Wir brauchen den ausgewogenen Schutz für Mieter und Vermieter. Wir brauchen eine langfristige Perspektive für die Bauwirtschaft. Sonst können wir die Anforderungen der künftigen Wohnraumpolitik nicht erfüllen.

Wie unterschiedlich der Wohnungsmarkt ist, das haben wir gehört. Von den Leerständen hier im Freistaat Sachsen und in anderen der neuen Länder. Das ist in großen Teilen West-Deutschlands noch ganz anders. Aber auch in den altern Ländern ist das Angebot in vielen Städten ausreichend. Die Mieten sind häufig in Grenzen verhandelbar. Das sagt jedenfalls der Wohngeld- und der Mietenbericht des vergangenen Jahres. Das ist gewiss das Ergebnis überdurchschnittlicher Neubau-Leistungen, auch wenn der Geschoss-Wohnungsbau seit mehreren Jahren abzunehmen scheint.

Die Leerstände in den neuen Ländern werden auf 972.000 Wohnungen geschätzt. Das wären rund 10 Prozent der alten Wohnungen in den neuen Ländern. Das liegt sicher zum Teil an der Abwanderung aus strukturschwächeren Räumen. Es liegt aber auch daran, dass viele gut verdienende Haushalte ihr Eigenheim im Umland bauen.

Darum braucht die Politik langfristig tragfähige Konzepte für Mieter und Vermieter und für die Bauwirtschaft. Darum bin ich froh darüber, dass es inzwischen eine "Expertenkommission wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel" in den neuen Ländern gibt, in der auch ein Mitglied des Mieterbundes vertreten ist. Nur gemeinsam können Politik, Vermieter und Mieter die Weichen stellen für eine zukunftsorientierte Wohnungswirtschaft.

Ich begrüße es, dass es zu einer Novellierung des Wohngeld-Gesetzes gekommen ist. Aber Wohngeld-Erhöhungen allein sind kein politischer Erfolg. Mir wäre es lieber, wenn immer weniger Menschen auf Wohngeld angewiesen wären, als dass man das Wohngeld erhöhen müsste.

Das Ziel des Wohngelds kann ja nicht eine generelle Novellierung bei Größe, Qualität und Mietbelastung sein. Das würde den Markt außer Kraft setzen. Das wäre falsch verstandene Sozialpolitik. Das wäre eine Sozialpolitik, die nur entstünde, weil die Tarifpolitik nicht funktionierte. Darum muss das Ziel sein, denen zu helfen, die wirklich staatliche Hilfe brauchen, weil sie sich selber nicht helfen können.

Ich war sehr dankbar dafür, dass Frau Fuchs, Ihre Präsidentin, das angesprochen hat, was ich am 12. Mai in der Berliner Rede gesagt habe. Ich gebe zu, dass ich das mit Blick auf das Wohnen so ausgesprochen habe, hat wiederum zu tun mit einer Kindheitserinnerung. Ich bin 1931 geboren, aufgewachsen in Wuppertal. Wir haben in einem Drei-Familien-Haus gewohnt, im ersten Stock mit fünf Kindern. Im Parterre wohnte eine sehr katholische Familie.

Im ersten Stock wohnten wir, im zweiten Stock wohnte der Ortsgruppenleiter. Am Fronleichnam hängte meine Mutter die Wäsche raus, weil die Frau aus der Parterrewohnung am Karfreitag die Treppe geputzt hat. Die Familie des Ortsgruppenleiters revanchierte sich mit der Fahne. Das erzählen wir an fröhlichen Abenden als Jugenderinnerung.

Aber gehen Sie einmal weg von der Jugenderinnerung und sprechen Sie mit der Frau, die in einem Stadtteil in Duisburg in einem Sieben-Familien-Haus lebt, und sie ist die einzige Deutsche. Es leben Menschen aus fünf Nationen in den übrigen Wohnungen. Die haben andere Kochgewohnheiten, die haben ein anderes Musikverständnis, die haben einen anderen Tagesrhythmus. Die Frau kommt nach Hause, sie fühlt sich fremd in der eigenen Wohnung. Das ist kein Einzelfall, sondern wir erleben, dass die Kulturen aufeinander stoßen. Früher als die Religionen und Konfessionen auf Erdteile verteilt waren, konnte man darüber akademische Seminare machen. Jetzt findet das in einer Straße, in einem Haus statt bis hin zu dem Extrem, dass der erste wirklich gläubige Mensch, der manchem Jungen begegnet, ein Muslim ist, weil er selber nur Säkularisierung erlebt bei sich zu Hause.

Wenn das so ist, wenn Kulturen aufeinander stoßen und wenn Globalisierung unser Leben weit stärker bestimmt, als das den meisten von uns bewusst ist, dann entsteht die Frage nach dem miteinander leben als die existenzielle Frage für jeden Einzelnen.

Ich bin dagegen, dass wir Fremdenangst diffamieren als Ausländerfeindlichkeit. Es ist ein Unterschied, ob ich in meinem klimatisierten Auto multikulturelle Musik höre, oder ob ich in einem Bus fahre, in dem ich die Sprache nicht mehr verstehe, die gesprochen wird. Darum meine ich, wir müssen Menschen bei ihrer Fremdheit, bei ihrer Angst abholen, damit nicht die Kette von der Fremdheit über die Angst zum Hass führt und dann zur Gewalt. Wir brauchen die Kette von der Fremdheit über die Neugier zur Vielfalt und zum kulturellen Reichtum. Wenn uns das nicht gelingt, diese Kette zustande zu bringen, die Glieder dieser Kette zueinander zu bringen, dann werden wir nicht überleben. Denn es war der Kardinal Döpfner von München, der vor 25 Jahren gesagt hat, "wenn wir nicht teilen, werden sie kommen und es sich holen". In einer globalisierten Welt, in der Grenzen ihren trennenden Charakter verlieren, müssen wir das Miteinanderleben lernen. Wer das nicht auch tut im Bereich des Wohnens, wem das nicht gelingt, sondern wer in dem ausländerfreien Villenviertel, das es auch noch gibt, Resolutionen gegen Ausländerfeindlichkeit für Parteitage formuliert, statt hinzugehen, statt mitzuhelfen in der Schule, im Wohnbereich, im Wohnumfeld, der verfehlt die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Mir ist das außerordentlich wichtig.

Sieben Millionen Ausländer: Wir alle reden von der Integration, wir müssen auch reden von den Grenzen der Integration. Wir müssen auch sagen, dass die, die hierher kommen, Deutsch sprechen lernen müssen. Wir müssen es als Aufgabe in der Bildung sehen, dass Integration ein Bildungsauftrag ist, dem wir nicht ausweichen dürfen. Das ist eine dringende Aufgabe, damit vor allem die älteren, Einheimischen sich bei uns nicht fremd fühlen müssen. Darum bitte ich Sie alle, dass Sie mithelfen, dass nicht noch mehr soziale Brennpunkte entstehen.

Darum müssen wir helfen, dass das, was in dem Modellprojekt "Die soziale Stadt" 1999 zwischen Bund und Ländern verabredet worden ist, mit über 160 Projekten ein Erfolg wird. Darum brauchen wir soziales Management. Wir brauchen die Organisation von Nachbarschafts-Aktivitäten, und wir brauchen die Stärkung der Selbsthilfe. Ich könnte viele Beispiele dafür nennen. Ob ich von der multikulturellen Jugendzeitschrift in Gelsenkirchen spreche oder von den internationalen Spielstuben in Duisburg, vom Mitternachts-Streetball in Hamburg, von den gemeinsamen Quartier-Spaziergängen in Leipzig oder von den Integrationshilfen in Frankfurt an der Oder. Ich könnte viele solcher Initiativen nennen. Die Netzwerke sind wichtig und wichtig ist, dass ein Erfahrungsaustausch zwischen denen zustande kommt, die solche Arbeit leisten, damit aus Beispielen Vorbilder werden.

Meine Bitte an den Deutschen Mieterbund ist, dass er seine Erfahrungen, dass er seine Ideen einbringt, damit der soziale Friede, der auch ein wirtschaftlicher Produktionsfaktor ist, damit dieser soziale Friede gesichert, ausgebaut, erweitert wird. Lebenswerte und lebensfähige Städte und Gemeinden sind das, was Deutschland gelegentlich auch von Nachbarn abhebt. Die Art, wie wir Dorferneuerung und Stadtentwicklung betrieben haben, hat insgesamt in den letzten Jahren und Jahrzehnten den Charakter einer Erfolgsgeschichte. Ich möchte, dass sie weiter geschrieben wird. Das geht nur, wenn auch die ökologischen Konzepte weiter geführt werden. Wenn wir wissen, Qualität ist nicht nur Komfort, sondern Qualität ist auch Schonung der Umwelt.

Da stehen wir noch vor großen Aufgaben, denn etwa 30 Prozent aller CO2-Emissionen in der Bundesrepublik entstehen durch Raumwärme. Das sind ca. 270 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Da muss viel getan werden: Von den Bebauungsplänen über die Verwendung ökologischer Baustoffe bis zur intelligenten Raumnutzung. Ich will das nicht im Einzelnen darstellen. Moderne Technik, umsichtige Planung, das alles kann helfen, damit Wohnungsbau und Wohnungsmodernisierung mithelfen, dass wir dem Ziel der Konferenz von Rio ein gutes Stück näher kommen. Ich bitte Sie, wirken Sie dabei mit!

Mein Gruß an den Deutschen Mieterbund soll keine lange Rede sein, sondern der Hinweis darauf, dass Ziele, immer neue Ziele auch nach einer hundertjährigen Geschichte bestehen. Das gilt auch für das Niedrigenergiehaus. Das gilt für das, was im Umweltschutz noch zu tun ist. Auch beim Umdenken, damit uns deutlich wird: Umweltschutz ist kein reiner Kostenfaktor, ist kein unzulässiger Eingriff der Politik in die Wirtschaft. Das wird auch daran deutlich, dass deutsche Unternehmen längst Marktführer im Bereich der expandierenden Umweltpolitik sind. Wir sollten diesen Vorsprung auszubauen versuchen.

Eine zukunftsorientierte Wohnungspolitik, das ist eine der schwierigsten, eine der wichtigsten und damit auch eine der reizvollsten Aufgaben, die unsere Gesellschaft hat. Weil das so ist, darum möchte ich den 1.300 Hauptamtlichen, den 2.500 Ehrenamtlichen in den 350 Mietervereinen meine Anerkennung sagen, meinen herzlichen Dank für Ihre engagierte Arbeit für das Miteinanderleben, das mehr ist als ein Dach über dem Kopf zu haben. Tun Sie diese Arbeit weiter! Sie ist wichtig, sie ist nötig, sie macht aus einer bewohnten Welt eine bewohnbare Welt, und das ist das Ziel aller Politik.

Herzlichen Dank und Glück auf!