Grußwort zur Eröffnung der "Zehnten Woche für das Leben"

Schwerpunktthema: Rede

Freiburg, , 30. Juni 2000

Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Eröffnung der „Zehnten Woche für das Leben – Leben als Gottes Bild" in Freiburg am 30. Juni 2000

Ich bin gern heute Nachmittag hier nach Freiburg zur Eröffnung der 10. "Woche für das Leben", gekommen, die zum sechsten Mal eine ökumenische Woche ist. Mich bewegt das Motto dieser Woche: "Leben als Gottes Bild". Ein sperriges Motto, auch ein mutiges, das etwas anderes meint, das anders klingt und quer steht zu einem Leben für 100 Tage vor laufender Kamera.

Was für ein Unterschied: Dort steht alles im Dienste des Augenblicks, des kurzen Glücks, des gewollten und erzeugten Glanzes. Und hier wird die Frage nach dem Bleibenden gestellt. Da kommt einem der Satz in den Sinn, den Thomas von Aquin einmal gesagt hat: "Wer über den Augenblick herrscht, der herrscht über das Leben."

II.

Eine Woche lang wird es in vielen Städten und Dörfern Deutschlands Veranstaltungen, Initiativen, Themenabende, Diskussionen geben zu der Frage, wie wir leben sollen: nicht bloß für 100 Tage, sondern auf Dauer. Nicht im Container, sondern in Gemeinschaft, nicht so, dass jede Woche jemand abtreten muss, sondern so, dass alle eine Chance haben, Männer und Frauen, Alte und Junge, vermeintlich Starke und Schwache.

Die Antworten, die die Kirchen geben, sind orientiert am biblischen Menschenbild. Sie schreiten Themen ab vor dem Hintergrund christlicher Ethik, messen sie aus. Sie tun das dialogbereit, im Gespräch mit den Naturwissenschaften und der Philosophie, im Gespräch auch mit der Medizin und der Jurisprudenz. Sie tun das nicht, um andere zu belehren, sondern sie sind dabei selber bereit, von den Argumenten anderer zu lernen.

Viele halten das für nicht zumutbar, sehen darin eine Einmischung der Kirchen in Bereiche, die sie nichts angehen. Denen will ich sagen: Wir brauchen die Diskussion möglichst vieler zur Verantwortung bereiter und fähiger Menschen aus verschiedenen Disziplinen und Überzeugungen.

Wir brauchen Diskussionen und Impulse, die quer stehen zum Trend und zur Tagesmeinung.

Wir brauchen diese Diskussionen angesichts drängender Fragen, die unser aller Leben berühren und beeinflussen.

Deshalb sage ich den Kirchen: Ihr Mitdenken ist nicht nur erlaubt, es ist erwünscht.

Ich halte es für nötig.

Die einzelnen Themen und Fragen sind jeweils für sich so komplex und kompliziert, dass eine Wissenschaft allein nur schwer alle relevanten Dimensionen im Blick haben kann. Immer neue technische Möglichkeiten erfordern unser Verhalten in immer kürzerer Zeit. Das macht interdisziplinäre Arbeit noch wichtiger. Nur dann haben wir eine Chance, uns darüber zu verständigen, welche neuen technischen Möglichkeiten wir nutzen und wie wir das tun wollen.

III.

Ich beobachte bei der Diskussion um die Entwicklung neuer Wege etwa in der Medizin mit Sorge eine zunehmende Spaltung in zwei Lager: Hier die Bedenkenträger und dort die Handlungsbereiten. Hier die Bremser und dort die Beschleuniger.

Die Entwicklung neuer Techniken und Methoden etwa in der Genforschung verspricht in vieler Hinsicht neue Chancen etwa bei der Therapie von Krankheiten, denen der Mensch bisher ausgeliefert war. Andererseits wissen wir aber auch, dass die Gefahr des Missbrauchs dieser Methoden mit ihren Möglichkeiten wächst.

Deshalb sind Gesetze und Regeln nötig. Aber sie sind nicht hinreichend. Wir brauchen vielmehr nachhaltige Initiativen, wir brauchen Institute und Organisationen, die über mögliche Gewinne, über wirtschaftliche Interessen und persönliche Karrierechancen hinaus das Ganze im Blick behalten und dabei nicht müde werden, Begriffe wie Verantwortung, Ethik, Gerechtigkeit und Solidarität ins Spiel zu bringen, damit qualifizierte Wissenschaft und Forschung zugleich mündige Wissenschaft und verantwortungsbewusste Forschung ist.

IV.

Zehn Jahre "Woche des Lebens". Der Rückblick gibt Mut für die Zukunft: Am Anfang stand mehr das Leben des ungeborenen Kindes im Mittelpunkt und die Hilfe für Mütter in Not- und Konfliktsituationen.

Später kamen weitere Felder des Lebensschutzes hinzu: Sorgen und Probleme behinderter Menschen, Hilfe bei und Schutz vor Suchtkrankheiten, verantwortlicher Einsatz der Pränataldiagnostik, Bedeutung des Leitbildes von Ehe und Familie für Staat und Gesellschaft,

Natur- und Umweltschutz ...

Viele Gemeinden, Akademien und Verbände haben sich beteiligt, haben sich engagiert und aktiv für den Schutz des Lebens eingesetzt - weit über die Initiative der "einen Woche" hinaus. Dass dabei die Gespräche oft auch an Grenzen stießen, liegt in der Natur der Sache. Das Leben ist alle Male das Streiten wert. Streitbarsein für Leben und Lebensqualität ist ja etwas anderes als streitsüchtig sein. Vom Lateinischen können wir lernen, das Streit nicht gleich Streit ist. In der lateinischen Sprache gibt es ungefähr 20 verschiedene Begriffe für das Wort "Streit". Also sage ich: Wir brauchen weniger Konflikte, aber mehr Kontroversen .

Deshalb begrüße ich auch die Mündigkeit, die Eigenverantwortlichkeit und den Mut einzelner Verbände und Vereine innerhalb der Kirchen. Ich nenne ausdrücklich "donum vitae", die am schwer gefundenen Kompromiss der Beratungsregelung aus Verantwortung festhalten wollen.

V.

Leben als Bild Gottes. Unser Arm bleibt zu kurz. Und das Leben fordert uns vielfach Entscheidungen ab, für die ein "richtig" oder "falsch" nicht gilt.

Wohl kaum ein Satz hat so zum Widerspruch provoziert wie der von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Ich nenne nur zwei Beispiele: Lichtenberg etwa drehte diesen Satz um. Er bedeute in Wahrheit, der Mensch habe Gott nach seinem Bild erschaffen. Und Goebbels folgerte aus der Ebenbildlichkeit die Vergöttlichung des Menschen, wie wir wissen: eines bestimmten Menschen. An den Folgen dieses Wahnes müssen viele immer noch tragen.

Hier kommt den Kirchen ein Wächteramt zu, das sie am besten wahrnehmen im Dialog mit Experten und in der Verantwortung vor ihrer Lehre.

Unser aller Verantwortung für diese Welt und ihre Menschen gebietet es, dem Augenblick zu widerstehen und alle Kraft daran zu setzen, das Leben menschlicher zu machen.

Deshalb stimme ich Augustinus zu, der einmal gesagt hat, den einen Tag habe uns Gott verborgen, damit wir Acht haben sollen auf alle Tage. Das gilt in dieser Woche des Lebens besonders, aber es gilt darüber hinaus an jedem Tag.