Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich eines Abendessens für den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, im Schloss Bellevue

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 3. Juli 2000

Ich heiße Sie herzlich in Berlin willkommen und freue mich darüber, dass ich Sie so kurz nach unserer Begegnung in New York hier an meinem Amtssitz begrüßen kann.

Gestern haben Sie am Ehrentag der Vereinten Nationen die Expo 2000 in Hannover besucht. Wir Deutsche haben uns über die Teilnahme der Vereinten Nationen an der ersten Weltausstellung auf deutschem Boden sehr gefreut. In Hamburg haben Sie heute den Neubau des Internationalen Seegerichtshofs eingeweiht. Morgen werden Sie gemeinsam mit Bundeskanzler Schröder die URBAN 21 eröffnen. Wir sind stolz darauf, dass die Vereinten Nationen und internationale Organisationen sich immer stärker in Deutschland niederlassen. Ich versichere Ihnen, dass wir alles daran setzen werden, ihnen eine erfolgreiche Arbeit zu ermöglichen. Auch dadurch möchten wir dazu beitragen, dass die Vereinten Nationen sich den großen Herausforderungen stellen können, die das neue Jahrhundert für uns bereit hält.

Ich habe noch Ihre bittere Klage im Ohr, die Sie wohl nicht nur mir gegenüber in New York geäußert haben, als wir über den Horror des Bürgerkriegs in Sierra Leone sprachen: die Klage darüber, dass häufig nur die Länder zu friedenserhaltenden oder friedenschaffenden Missionen bereit sind, deren Truppen nach Ausbildung und Ausrüstung nicht in der Lage sind, mit einem Konflikt fertig zu werden, die Länder dagegen, die über gut ausgebildete und ausgerüstete Kräfte verfügen, oft nicht bereit sind, sie rechtzeitig bereitzustellen.

Ausgerechnet in denen hört man dann auch noch selbstgerechte Kritik am Versagen der Vereinten Nationen! Ich werde nicht müde, solcher Kritik Ihre Sorge um die Erfüllung des Mandats entgegenzuhalten, die ja ohne den politischen Willen und die praktische Einsatzbereitschaft der Mitgliedsländer nicht möglich ist.

Dieses Problem beleuchtet wie ein Schlaglicht die größte Herausforderung, vor der die Völkergemeinschaft steht: Den Frieden zu erhalten und Konflikten vorzubeugen. Dabei rückt eine sehr grundsätzliche Frage in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen: Wie kann die Völkergemeinschaft Sicherheit und Menschenrechte vor nationalstaatlicher Willkür schützen – insbesondere dann, wenn sich die Willkür hinter nationaler Souveränität versteckt?

Wie gehen wir mit Bedrohungen für Frieden und Stabilität um, wenn Konflikte innerstaatlich und nicht zwischenstaatlich sind? Wie kann sich die Staatengemeinschaft organisieren, um die Würde des Menschen so zu schützen, wie es die Charta verlangt?

Um Frieden zu schaffen und zu erhalten, ist nicht nur eine bisher beispiellose Kooperation nötig. Ich bin davon überzeugt, dass der Friede viele Bausteine braucht: An erster Stelle natürlich die Demokratie. Demokratie erlaubt Gesellschaften, zu atmen. Das erklärt die in 200 Jahren erstaunlich bewährte Erfahrung, dass Demokratien keine Kriege untereinander führen. Ohne Schutz der Menschenrechte ist Demokratie nicht denkbar. Die Geltung der Menschenrechte ist deswegen ein Weg zum Frieden. Nur durch Erinnerung und Vergebung können frühere Feinde die Geschichte des Krieges hinter sich lassen und aufeinander zugehen. Diese Erfahrung, die wir in Deutschland gemacht haben, bestätigt sich gerade wieder auf dem Balkan genauso wie in Afrika.

Die Kultur der Prävention braucht Überzeugungsarbeit und Vertrauensbildung für mehr gemeinsame Sicherheit. Sie muss der Gegenentwurf zur Kriegsmaschinerie vergangener Jahrhunderte sein. Soziale Marktwirtschaft hilft bei der Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten, die in der Geschichte immer wieder zu gewaltsamen Konflikten geführt haben.

Entwicklungshilfe ist auch Wohlfahrtsstrategie. Arbeitsplätze, die in den Entwicklungsländern entstehen, sind Plätze, die der Entwurzelung der Menschen und der unkontrollierten Migration entgegenwirken. Entwicklung fördert Demokratie, und Demokratie ist, wie gesagt, die beste Friedensstrategie.

Gute Nachbarschaft ist Quelle außenpolitischer Ideen. Willy Brandt wollte, dass die Deutschen "ein Volk guter Nachbarn werden". Die Deutschen sind gut damit gefahren. Gute Nachbarschaft empfiehlt sich auch als Muster der Friedenspolitik in anderen Regionen. Dazu brauchen wir auch das Gespräch zwischen den Kulturen der Welt.

Der interkulturelle Dialog kann Feindbilder und Vorurteile abbauen, er kann Gemeinsamkeiten der Kulturen aufdecken und Konflikten vorbeugen. Es gilt die allen Religionen eigene „Goldene Regel“: „Was du nicht willst, da man dir tu, das füg' auch keinem andern zu“.

Wie ich mich selber um den „Dialog Westen-Islam“ bemühe, habe ich Ihnen bereits in New York erläutern können. Das Besondere dieser Initiative ist, dass sie versucht, über den dogmatischen Dialog hinauszugehen und nach Möglichkeiten wirklich praktischer Zusammenarbeit zwischen den beiden Kulturkreisen sucht. Forschungsinstitute aus allen beteiligten Ländern bilden ein Netzwerk, um nach einem gemeinsamen ethischen Mindeststandard zu suchen; um Feindbilder in Schulen und Medien abzubauen, um Wege der Zusammenarbeit in Ökonomie und Ökologie zu erschließen. Ich wäre froh, wenn diese Initiative zum Jahr des Kulturdialogs 2001 der Vereinten Nationen beitragen könnte.

Herr Generalsekretär, überall da, wo Wege zum Frieden nicht eingehalten werden, sind die Vereinten Nationen gefordert. Die vielen Friedensmissionen, sei es im Kosovo, in Ost-Timor oder in Afrika zeigen das. Natürlich können die Vereinten Nationen nur so stark sein wie der gebündelte politische Wille ihrer Mitgliedsländer. Ohne ihn sind sie ebenso wenig global handlungsfähig wie ohne realistische Mandate und ohne zeitgemäße Strukturen. Wir sehen mit Schmerzen, welchen Autoritätsverlust der Sicherheitsrat erleidet, wenn er es nicht schafft, international Frieden und Sicherheit herzustellen.

In Ihrem Millenniumsbericht mit seiner globalen Agenda stellen Sie den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt. Er soll vor Gewalt geschützt werden. Seine Würde ist zu bewahren. Aber der einzelne Mensch muss auch an der Kultur der Prävention teilnehmen. Beim Millenniumsgipfel werden Regierungen, Organisationen der Vereinten Nationen und Mitglieder der „Zivilgesellschaft“ eine internationale Gemeinschaft präsentieren, die sich den globalen Herausforderungen geschlossen stellt. Das ist ein großer Schritt hin zu einer wirklichen Gemeinschaft der Völker.

Willy Brandt hat vor über 20 Jahren über den Umgang mit Hunger und Armut gesagt: „Die gewaltige Aufgabe lässt sich meistern, wenn der notwendige gemeinsame Wille mobilisiert wird.“ Das ist heute so aktuell wie damals. Und es gilt ebenso für die Erhaltung von Frieden und Stabilität. Eine bessere Losung kann ich mir für die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert nicht vorstellen. Noch einmal: Herzlich willkommen!