Weimarer Gespräch von Bundespräsident Johannes Rau und dem Präsidenten der Islamischen Republik Iran, Seyed Mohammad Chatami im Schloss Weimar

Schwerpunktthema: Rede

Weimar, , 12. Juli 2000

Teilnehmer:

Seyed Mohammad Chatami, Präsident der Islamischen Republik Iran; Johannes Rau, Präsident der Bundesrepublik Deutschland; Professor Josef van Ess Tübingen; Professor Hans Küng, Tübingen

Einleitende Worte von Bundespräsident Rau:

Herr Präsident, Herr Professor Küng, Herr Professor van Ess,

herzlich willkommen zu diesem Gespräch im Schloss in Weimar. Es ist ein ungewöhnlicher Abschluss eines offiziellen Besuches, dass der Präsident des Iran an einem Gespräch teilnimmt, in dem es um das Verständnis und das Verhältnis zwischen unseren Völkern und Religionen, zwischen unseren Lebensweisen und Lebensentwürfen geht.

Wir haben in diesen Tagen oft gesagt, dass wir durchaus wissen, dass der Iran und der Islam ihre Aufklärung gehabt haben. Ohne sie hätte es die Aufklärung in Deutschland nach dem Mittelalter nicht gegeben; bestimmte Schriften griechischer Philosophen sind erst zwischen dem neunten und dem elften Jahrhundert durch islamische Gelehrte bei uns bekannt geworden.

Wir haben von verschütteten Quellen miteinander gesprochen. Was wir jetzt miteinander bereden, ist nicht irgendein Glasperlenspiel unterschiedlicher Kulturkreise, sondern das sind Fragen, die uns in unseren Städten, in unserem Land bewegen - einem Land, in dem mehr als drei Millionen Muslime aus unterschiedlichen Richtungen des Islam leben.

Wir erleben eine Globalisierung in der Welt, die längst nicht mehr nur Güter, nicht nur Kapital, nicht nur Dienstleistungen umfasst, sondern die ein stückweit in das Leben von Menschen eingreift.

Da entsteht die Frage, wo es Orientierung gibt, wie sich persönlicher Glaube, wie sich religiöse Tradition mit Toleranz verträgt, wie wir vermeiden, dass aus Toleranz Beliebigkeit wird.

Deshalb sind wir froh darüber, in Ihnen, Herr Präsident, einen Menschen unter uns zu haben, der in den letzten Jahren verstärkt deutlich gemacht hat, dass es den Dialog der Zivilisationen, der Kulturen, der Religionen geben muss und dass man sich dabei selber in Frage stellen muss: dass man nicht glauben darf, man habe alle Weisheit bei sich, und diese Weisheit sei ein für allemal gesichert.

Darum sprechen Sie davon, dass Traditionen absterben, wenn sie nicht mehr lebendig, nicht auf die Zukunft gerichtet sind.

Wir möchten von Ihnen heute etwas darüber hören, wie Sie sich eine solche tolerante Welt vorstellen, in der die verschiedenen Glaubenswelten des Islam und des christlichen Abendlandes zusammen leben, wie Sie sich den Dialog vorstellen und wie wir Denken, Glauben und Leben zueinander bringen.

Diesen Dialog führen Sie als Muslime, wir als Christen, er wird aber auch von Menschen geführt, die sich weder zu den Muslimen noch zu den Christen rechnen, die von anderen möglicherweise als Agnostiker bezeichnet werden.

Wir danken Ihnen für die Bereitschaft zum Gespräch, und wir danken Ihnen auch für die Bereitschaft zum Zuhören. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sich Herr Professor Küng und Herr Professor van Ess zu diesem Gespräch zur Verfügung gestellt haben.

Wir wollen zuerst den Gast bitten, seine Position darzustellen, die wir dann miteinander befragen, diskutieren und zu bewerten versuchen wollen. Ich bitte, unsere beiden Gesprächspartner, Herrn van Ess und Herrn Küng, zuzugreifen, nach dem Motto: "Heute hat sie der Herr in unsere Hand gegeben". Dann wollen wir sehen, ob das Gespräch Konturen gewinnt und ob wir alle als Gewinner nach Hause gehen. Bitte, Herr Präsident Chatami, Sie haben das Wort.

Präsident Chatami:

Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes

Sehr geehrter Herr Präsident,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

für mich ist die Anwesenheit im Kreise der Denker und Kulturschaffenden stets ein Vergnügen. Doch dieses Treffen, das mit der besonderen Stellung des Denkens und der Kultur Deutschlands und dem hervorragendem Symbol Weimar in Zusammenhang steht, hat eine andere, unvergessliche Qualität.

Vor mehr als einem Jahr habe ich an der Universität Florenz von einer Notwen­digkeit in unserer Welt gesprochen, die ich heute aus einer anderen Perspektive behandeln möchte. Dort habe ich gesagt, dass der Dialog der Zivilisationen und Kulturen ein Begriff ist, der durch das stetige Bemühen entstanden ist, sich der Wahrheit zu nähern und zu einer Verständigung zu gelangen. Der Dialog ist die Logik des Sprechens und des Hörens. Er hat weder mit den Skeptikern zu tun, die nicht glauben, dass es eine Wahrheit gibt, noch mit denen, die glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Aus diesem Grunde bedarf der Dialog der Kulturen des Zuhörens gegenüber anderen Kulturen und Zivilisationen.

Die heutige Welt ist auf der Suche nach einer neuen Grundlage für die Regelung menschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen. Diese Grundlage ist nach unserer Ansicht der Dialog, in dem Ost und West keine Objekte der Erkenntnis, sondern Gesprächspartner sind. Dialog im Sinne einer klaren geographisch-kulturellen Kenntnis der Welt, des kritischen Blicks auf sich und andere, des Bemühens, das Erbe der Vergangenheit zu wahren und gleichzeitig nach neuen Erfahrungen zu suchen. Es geht um den Dialog über die Notwendigkeiten und Bedürfnisse des Menschen im Kontext des heutigen und des morgigen Lebens. Für einen wirklichen Dialog zwischen den Zivilisationen und Kulturen müssen neue Türen aufgestoßen werden, um die Realitäten der Welt zu erkennen und neue Einsichten in die östliche und westliche Welt zu gewinnen.

Die grundlegende Frage ist, wie eine gemeinsamer Aussichtspunkt für das Sehen, ein gemeinsamer Ort für das Hören und eine gemeinsame Sprache für das Sprechen gefunden werden können. Hinter trüben Scheiben, mit tauben Ohren und in fremden Sprachen kann man keinen Dialog führen. Wir müssen auf der Grundlage unserer östlichen und westlichen Herkunft und über den engen Rahmen der Sprachregelungen und professionellen Parolen der internationalen Begegnungen hinaus miteinander reden. Dialog ist vor allen Dingen die Suche nach einem mitfühlenden und vertrauensvollen Kontakt. Im gemeinsamen weltweiten Bemühen um die geistige Entfaltung und die materielle Entwicklung des Menschen werden die west-östlichen Verständigungsschleier immer dünner.

Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Kulturen assimiliert, aufgelöst und ihre Vielfalt und Unterschiede aufgehoben werden können. Die Menschen aus dem Orient und Okzident können trotz der Parallelität ihrer Kulturen verschiedene Geschöpfe sein, die einander ergänzen und sich im tiefen Bewusstsein mit ihrer angestammten Heimat verbunden fühlen. West und Ost sind nicht nur geographische Gebiete, sie sind auch Weltanschauungen und Seinsweisen. In einem wirkli­chen Dialog kommt, indem man diese Po­tenziale, Identitäten und Einstellungen in Ost und West anerkennt, der den Par­teien gebührende Anteil am Ge­spräch zur Geltung. Jeder Partner kann seine höheren Werte herausstellen, und man kann für die sich wandelnde Welt eine gemeinsame mensch­liche Essenz zwischen Mate­rialität und Spiritualität suchen.

Es besteht kein Zweifel, dass im Dialog der Kulturen die Gelehrten und Denker eine besondere Rolle spielen. Wissenschaftler, Künstler und die geistige Elite sind die hörenden Ohren und sprechenden Zungen des Volkes und Repräsentanten seines geistigen Lebens. Sie können neue Horizonte für den Dialog zwischen Ost und West öffnen.

Gestatten Sie mir, diese Stadt und diesen Kreis zum Anlass zu nehmen, um das Thema an einem Beispiel zu erläutern. Den Anlass für unser Gespräch bietet ein Wendepunkt in der Geschichte des Gedankenaustauschs zwischen dem Ori­ent und dem Okzident und zwischen Deutschland und dem Iran. Dieser Wendepunkt ist die Veröffentlichung des "West-Östlichen Diwans" von Goethe im Jahre 1819. Goethe hat im Titel dieses Buchs nicht nur das besonders bedeutsame WortDiwanals Zeichen des Orients benutzt, sondern auch den arabischen Titel "Östlicher Diwan des westlichen Autors" für diese Gedichtsammlung gewählt. Dieser Titel ist in gewissem Sinne noch ausdrucksstärker als der deutsche. Mehr noch als das Interesse des Verfassers an den geheimnisvollen Ländern des Orients, ihrer Sprache und Kultur zeigt der Titel, dass der große deutsche Dichter Ost und West nicht nur als zwei geographische Regionen begreift, sondern als zwei philosophische und kulturelle Pole der Welt und versucht, als westlicher Dichter mit dem Orient, insbesondere mit dessen Geistes- und Kulturgrößen, in Dialog zu treten. Die iranische Kultur und einige ihrer hervorragenden Vertreter haben in dieser VorstellungGoethes eine besondere Stellung.

Hafis ist ein Symbol islamisch-iranischen Denkens und seiner Identität. Er ist "die Sprache des Übersinnlichen". Er hat ein sicheres inneres Verhältnis zum Koran und zu Of­fenba­rungswahrnehmungen.Seine Wahrnehmung und sein Gefühl widerspiegeln das Übersinnliche an unserer Kultur. Er ist der Meister des Verborgenen. Daher spielt er in unserem Alltagsleben die Rolle des Weissagers.

Jeder Iraner entdeckt in Hafis einen unentdeckten Teil seines kulturellen Gedächtnisses. Goethe hat sogar durch die Schleier der Annäherungsübersetzungen "die Sprache des Übersinnlichen" verstanden und sich zu ihr in Beziehung gesetzt. Dies zeugt natürlich von Goethes Genie. Es ist aber auch ein Beispiel für das richtige Ziel und den entsprechenden Weg im Dialog der Kulturen, der Zivilisationen und der Völker.

Der große persischsprachige Dichter Iqbal aus Lahore hat im Jahre 1923 in seinem Gedichtband "Botschaft des Ostens" den Gruß Goethes an den Osten beantwortet. Iqbal wurde auf dem indischen Subkontinent geboren und verbrachte sein ganzes Leben außerhalb der geographischen Grenzen Irans. Er fühlte sich trotzdem mit der iranischen Kultur verbunden und dichtete in Persisch. Iqbal wusste genauso gut wie Goethe, dass der Dialog mit dem "Anderen" keine Anpassung bedeutet, sondern mit der Wahrnehmung der Unterschiede, ihrer Akzeptanz und der Kreativität ihrer Auswahl beginnt. Iqbal lebte zwar im kolonialisierten Indien und war, wie er sich ausdrückte, aus der "toten Erde" gewachsen, doch verkürzte er die westliche Kultur nicht auf ihren kolonialistischen Aspekt. Aus seiner Sicht war der Westen, ungeachtet dessen, ob man ihn ablehnte oder akzeptierte, die Heimat der Denker wie Schopenhauer, Nietzsche, Tolstoi, Hegel, Marx, Byron, Comte,Einstein, Petöfi,Locke,Kant und Browning. Er brachte sie mit den großen Denkern des Ostens wie Rumi und Hafis ins Gespräch und versuchte auf diesem Wege, die Unterschiede und die Anknüpfungsspunkte zwischen der westlichen und östlichen Denkweise gleichermaßen aufzuzeigen. Diese Zwiesprache zwischen Goethe und Hafis bzw. Iqbal ist ein hervorragendes Beispiel für den Dialog zwischen den Kulturen und Zivilisationen.

Dieser Dialog wird nicht nur zur Befriedigung der wissenschaftlichen Neugier geführt. Er ist auch zur Aufdeckung der Wahrheit und zum verständnisvollen Zusammenleben notwendig. Nach Ansicht von Hafis ist der Krieg die Folge von Wahrheitsblindheit.

Wirf den zweiundsiebzig Sekten

Nimmer ihr Gezänke vor:

Weil sie nicht die Wahrheit schauen,

Pochen sie ans Märchentor.

Goethe sieht die neue Welt so, dass er sagt:

Wer sich selbst und andere kennt,

Wird auch hier erkennen:

Orient und Okzident

Sind nicht mehr zu trennen.

Glücklicherweise haben viele westliche Denker bewiesen, dass die Erkenntnisse in Bezug auf Mensch und Natur unterschiedlich sind. Die Mitmenschen kann man nicht wie die Objekte der Natur als Dinge betrachten. Wenn der Mensch erkannt werden soll, bedarf man einer anderen Art der Erkenntnis, die man als Verstand bezeichnen kann.

Iranische und islamische Denker haben eine weitere Botschaft, und sie lautet: Die Erkenntnis des "Anderen" geht mit der Selbsterkenntnis einher. Die Erkenntnis des Anderen macht uns bewusster über uns selbst, und die Selbsterkenntnis verstärkt wiederum unsere Erkenntnis über das Andere, denn in der Welt der Menschen gibt es im Gegensatz zur Welt der Dinge kein absolutes "Anderssein". Solange wir die anderen menschlichen Wesen als "absolut anders" sehen und sie als materielle Objekte betrachten, können wir nicht zu einer Erkenntnis mit Verstand - die im Bereich der menschlichen Erkenntnis liegt - gelangen.

Aus diesem Blickwinkel können viele Hauptprobleme unserer Zeit in neuer Sicht betrachtet werden. Das Verhältnis zwischen Moderne und Tradition, Freiheit und Gerechtigkeit, Religion und Demokratie, Spiritualität und Fortschritt gehört dazu.

In vielen östlichen und westlichen Gesellschaften tritt heute der Diskurs "Moderne und Tradition" mit all seinen Voraussetzungen und Notwendigkeiten an die Stelle des Diskurses "Orient und Okzident" aus der Zeit von Goethe und Iqbal.

Der Gegensatz zwischen Tradition und Moderne, der eher eine kulturelle und zivilisatorische Bedeutung hat, ist in der heutigen Zeit im Vergleich zum Gegensatz zwischen Ost und West, der hauptsächlich politisch gemeint ist, das wichtigere Thema.

Einst sagten die propagandistischen Dichter der Kolonialzeit wie Rudyard Kipling in dichterischer Sprache: "Ost ist Ost, West ist West, sie werden nie zueinander kommen". Der Glaube an eine monopolare Welt und das Aufgehen aller Kulturen und Zivilisationen der Welt in einer herrschenden Kultur ist eine andere Variante dieser ethnozentrischen und fanatischen Sichtweise. Auch damals sprachen die Denker des Dialogs eine andere Sprache. Goethe dichtete: "Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident". Iqbal schmückte die erste Seite seiner "Botschaft des Ostens" mit dem Koranvers "Gottes ist der Osten und der Westen", um die Inspirationsquelle des deutschen Dichters zu zeigen.

Beide Dichter wollten den Ort zeigen, an dem der Osten und der Westen zueinander finden. Dieser gemeinsame Ort ist der göttliche Ursprung aller Menschen. Das Gefühl des Andersseins, das der Osten und der Westen füreinander haben, wird nur dann aufgehoben, wenn beide sich nicht als eine absolute Erscheinung betrachten, sondern sich im Verhältnis zum Anderen und beide im Verhältnis zu diesem gemeinsamen Ursprung sehen. So können Ost und West einander vervollkommnen.

Wie ich im vergangenen Jahr bei der UNESCO erklärt habe: "Wenn der Dialog ein neues Kapitel in den Beziehungen der Weltgemeinschaft sein soll, so muss er von der Phase der negativen Toleranz in die Phase der gegenseitigen Hilfe eintreten. Kein Volk der Welt kann mit irgendeinem philosophischen, politischen und wirtschaftlichen Argument an den Rand des Geschehens geschoben werden. Man muss die Anderen nicht nur tolerieren, man muss mit ihnen auch zusammenarbeiten".

Heute möchte ich jenes historische Beispiel und die heutige Notwendigkeit nutzen, um zu sagen: Solange Tradition und Moderne sich als absolut betrachten und sich selbst als das absolut Gute und die Anderen als das absolut Böse bezeichnen, solange können sie weder sich selbst noch das Andere erkennen. In unserer Welt ist die Kritik der Tradition ebenso unvermeidbar wie die Kritik der Moderne. Doch die Kritik der Tradition ist nicht ohne Kenntnis der Tradition, und die Kritik der Moderne nicht ohne Kenntnis ihrer Grundlagen und Ansätze möglich.

Glücklicherweise belegt die deutsche Geistesgeschichte erfolgreiche Ansätze bei der Betrachtung der Tradition und der Moderne. Die deutschsprachigen Denker haben nicht nur auf dem Gebiet der Theologie, des Religionsverständnisses und der religiösen Tradition neue Horizonte geöffnet. Der Entwicklungsprozess des modernen Denkens in Deutschland war darüber hinaus hauptsächlich mit dem Streben nach einer Erklärung seines Verhältnisses zur Tradition und nach dem Angebot einer umfassenden Sicht gepaart, die Tradition und Moderne in sich aufnimmt und ihren Gegensatz aufhebt.

Die historische Richtung des Denkens in Deutschland führte dazu, dass die deutsche Philosophie stets einen kritischen Ansatz hatte. Dass diese Kritik nicht nur die Tradition, sondern auch stets die Moderne einbezog, war die Quelle dieser großen geistigen Hinterlassenschaft. Wichtige Strömungen der Kritik der Moderne haben ihren Ursprung in diesem Sprachraum, obwohl auch sie die Betrachtung der objektiven Fragen und Bedürfnisse der Zeit nicht vernachlässigen. Diese Ansätze und Erfahrungen können für die heutige Welt wegbereitend sein, denn wir können uns weder der Tradition noch der Moderne unterwerfen, aber auch nicht die eine der anderen opfern.

Die Erfahrung der Islamischen Revolution im Iran hat ein neues Kapitel in diesem Bereich aufgeschlagen. Die neue religiös-gesellschaftliche Ordnung wurde im Iran etabliert, um auf die sich immer erneuernden Bedürfnisse und Fragestellungen des heutigen Menschen Antworten zu finden. Der Revolutionsführer, Imam Khomeini, bestand sowohl auf der Erhaltung der Grundlagen der Religion als auch auf der Rolle des Volkes in der Gesellschaftsordnung. Das ist eine Lösung, die im heutigen Iran als Experiment erprobt wird: die Etablierung der Demokratie im Einklang mit den traditionellen geistig-religiösen Grundlagen der Gesellschaft und gleichzeitig mit der Entwicklung einer modernen Zivilgesellschaft.

Diese Lösung kann einerseits den Islam aus dem Engpass der versteinerten und rückwärtsgewandten Ansichten befreien und andererseits den wahren Islam vor Eigensinnigkeiten und Isolationssucht schützen. Reformen im Iran sind Bestrebungen nach Verwirklichung von Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie im Einklang mit der Religion. Bei die­sem Experiment brauchen wir die Zusammenarbeit aller Denker und Gesellschaften, die den Dialog und die Verständigung suchen und hoffen, dass diese Bemühung zur Aufwertung der internationalen Dialoge und Beziehungen und zur Schaffung einer Welt ohne Gewalt, Diskriminierung und Vorherrschaft beitragen.

Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit!

Bundespräsident Rau:

Herzlichen Dank, Herr Präsident. Ich halte jetzt nicht auf, sondern gebe das Wort an meine beiden Gesprächspartner.

Professor van Ess:

Exzellenz, Sie haben den Dialog der Kulturen als ein Instrument zur Annäherung an die Wahrheit bezeichnet. Ich glaube, man muss hier sehr viel Gewicht auf das Wort Annäherung legen.

Ein Dialog wird nicht sofort zur Erkenntnis der Wahrheit führen. So wird er ja auch nicht definiert. Wenn wir vom Dialog der Kulturen sprechen, bedienen wir uns im Grunde nur einer Metapher. Kulturen reden nicht selber. Was wir meinen, ist, dass Menschen über die Grenzen ihrer eigenen Kultur hinaus miteinander reden oder reden sollten. Die Grundintention ist dabei das gegenseitige Verstehen, ein Begriff, der in der deutschen Philosophie und Religionswissenschaft eine große Rolle gespielt hat. Das Problem dabei ist nicht so sehr die Unwahrheit als das Missverständnis.

Ich kann mir in einem solchen Dialog Missverständnisse der verschiedensten Art vorstellen. Kulturen definieren sich ja nicht so sehr durch Wahrheiten als durch Werte, und man kann sich in den Werten über die Grenzen der Kultur hinaus missverstehen. Ich will darauf aber nicht näher eingehen, denn viel grundlegender sind im Allgemeinen die rein sprachlichen Missverständnisse. In welcher Sprache soll man denn diesen Dialog führen? Am besten natürlich in der jeweils eigenen Sprache. Das setzt aber einen komplizierten Apparat voraus, die Anwesenheit von Übersetzern; das ist nicht immer der Fall. Jedenfalls können wir den Dialog nicht dadurch globalisieren, dass wir alle Englisch reden. Denn wer seine Sprache abgibt, gibt in gewisser Hinsicht auch seine Seele ab. Werte, Begriffe, Gedanken sind sprachlich konditioniert und historisch gewachsen.

Nun ist es leider so, dass Europäer im Allgemeinen keine orientalischen Sprachen können - sehr im Gegensatz zu der sprachlichen Gewandtheit, die wir im Orient vorfinden, wo man meistens Englisch oder Französisch kann, manchmal sogar Deutsch. Sie, Exzellenz, sind dafür ein gutes Beispiel.

Ich meine deswegen, es sei uns hier in Deutschland zu wün­schen, dass ein paar Studenten mehr sich des Persischen an­nehmen, so dass jeder aus seiner eigenen Denkwelt heraus reden kann. Ich weiß, dass das seine Grenzen hat, aber man sollte zumindest versuchen, sich in die Sprache und das Denken des jeweils anderen hineinzuversetzen. Wenn wir den Dialog in einer Sprache führen, die uns fremd ist, sind wir sofort benachteiligt. Umgekehrt wird derjenige, der das Glück hat, den Dialog in seiner eigenen Sprache führen zu dürfen, immer berücksichtigen müssen, dass er seine ei­gene Sprache nicht ganz herrschaftsfrei gebraucht.

Präsident Chatami:

Erlauben Sie mir, ein paar Sätze zu den guten Ausführungen von Herrn van Ess zu sagen. Im Großen und Ganzen stimme ich ihm zu, auf einige Punkte möchte ich jedoch eingehen.

Ich habe gesagt, über den Dialog könnten wir an die Wahrheit herankommen. Diese Behauptung basiert natürlich auf einem Vorurteil, einer Maxime, die besagt, dass es eine Wahrheit gibt. Wenn wir von Anfang an von der Annahme ausgehen, dass es keine Wahrheit gibt oder die Wahrheit ihrem Wesen nach eine relative Größe ist, dann ist es sinnlos, an die Wahrheit herankommen zu wollen. Eine der Fragen, die man also besprechen sollte, ist die, ob es eine Wahrheit gibt oder nicht. Gewiss ist im Westen ist viel darüber diskutiert worden. Die Annahme der Wahrheit führt zu der Frage, ob man an die Wahrheit herankommen kann oder nicht. All die bekannten Ansichten, wie z.B. die von Kant, beziehen sich auf den Gültigkeitsgrad unserer Erkenntnis.

Wenn wir an eine Wahrheit glauben und zudem noch davon überzeugt sind, dass dem Menschen ein Anteil an diese Wahrheit zukommt - wie es z.B. in der spirituellen Philosophie und in unserem islamischen Denken und im Orient allgemein der Fall ist -, dann ist das Begreifen der Wahrheit generell möglich.

Ich bin jedoch auch der Meinung, dass der Mensch ein historisches und ort- und zeitgebundenes Wesen hat und ein Teil seiner Auffassungen und Wahrnehmungen diesen variablen Größen unterworfen, also veränderlich ist. Man kann also nicht sagen: Alles, was der Mensch versteht, ist Wahrheit. Aber wenn wir von den zwei Annahmen ausgehen, dass es eine Wahrheit gibt und dass der Mensch generell an sie herankommen kann, dann ist ein auf Verständnis basierender Dialog die richtige Herangehensweise; denn das Hauptziel des Dialogs ist das gegenseitige Verständnis.

Denn gerade das Missverständnis ist ein wichtiger Faktor für die Entfernung von der Wahrheit und natürlich auch eine Ursache dafür, dass selbst verständnisvolle und tolerante Menschen den Weg des Krieges einschlagen. Aber bei unseren auf Verständnis und Vertrauen aufbauenden Gesprächen können wir uns - so glaube ich - der Wahrheit ein Stück nähern.

Ein anderer Punkt, den Professor van Ess angeschnitten hat und dem ich auch zustimme, ist die Tatsache, dass Kulturen mit Werten zu tun haben. Ohne aber auf die Frage eingehen zu wollen, ob Werte aus Wahrheiten abstrahiert werden können oder nicht, bin ich der Ansicht, dass wir Soll-Werte aus Ist-Werten abzuleiten in der Lage sind; aber darüber wollen wir jetzt nicht diskutieren.

Auf jeden Fall bin ich davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen Werten einerseits und Realitäten und Wahrheiten andererseits gibt. Wer eine innere Bindung an einen bestimmten Wert hat, der hat vorher eine Überzeugung gehabt: vielleicht nur einen Aberglauben, vielleicht eine überlieferte Gewohnheit, vielleicht handelt es sich aber auch um Wahrheiten, die über Argumentation oder sogar Einsicht und Erleuchtung erlangt worden sind. Es gibt keine Werte ohne jegliche Erkenntnisgrundlagen - Erkenntnis im allgemeinen Sinne ist nicht notwendigerweise vernunftgemäße und philosophische Erkenntnis. Daher ist eine Diskussion über Werte in gewisser Hinsicht eine Diskussion über die geistigen Ursprünge dieser Werte, und es ist nicht ausgeschlossen, dass wir bei der Diskussion über die Kulturen, bei der es hauptsächlich um Werte geht, auch zu den gedanklichen Grundlagen gelangen und Wahrheit finden.

Das Problem der Sprache ist sehr wichtig. Ein westlicher Denker hat gesagt: "Übersetzen heißt Verraten. Man muss versuchen, den Verrat so gering wie möglich zu halten." Wenn es keine gemeinsame Sprache gibt, wird die Verständigung erschwert, obwohl ich meine, dass in der heutigen Welt auch die sprachliche Verständigung leichter geworden ist: Vor allem in den orientalischen Ländern haben viele Menschen die westlichen Sprachen erlernt. Wir haben allerdings auch Menschen im Westen, die orientalische Sprachen sehr gut beherrschen. Ich weiß, dass es unter den verehrten Anwesenden mindestens drei Personen gibt, die, auch wenn sie Arabisch oder Persisch nicht gerade besser als die Muttersprachler sprechen, doch keine Verständigungsschwierigkeiten in diesen Sprachen haben. Das Erlernen der Sprache der jeweiligen Kultur, mit der wir einen Dialog führen wollen, ist sehr wichtig; eine wertvolle Bemerkung von Herrn Van Ess, die seinem wissenschaftlichen und kulturellen Rang entspricht und der ich auch zustimme.

Professor Küng:

Herr Präsident, zuerst einmal möchte ich ein Wort des Dan­kes sagen und zwar aus einem ganz besonderen Grund.

Sie sind ja das Staatsoberhaupt gewesen, das den Vorschlag gemacht hat, in den Vereinten Nationen das Jahr des Dia­logs auszurufen. Das Jahr 2001 wird für die ganze Welt das Jahr des Dialogs der Zivilisationen sein. Das ist ganz wich­tig, aus zwei Gründen:

Erstens: weil wir vermutlich alle auf dem Podium einig sind darin, dass die Thesen von Professor Huntington un­richtig sind. Wir glauben, dass ein "Clash", ein Zusam­menprall der Zivilisationen, auf Deutsch also ein Zusam­menprall der Kulturen, vermeidbar ist, wenn auch im Ein­zelnen in einer Stadt, einer Straße, einer Schule, in einer Familie manchmal eine Gefahr bestehen mag. Aber dieser große Zusammen­prall, den Huntington in seinem Buch etwa zwischen dem Islam und der westlichen Welt ankün­digt, ist eine absurde These.

Das Zweite ist, und das ist mir besonders wichtig: Ihre Stimme hat in den Vereinten Nationen Gehör gefunden, weil sie aus dem Islam kam. Wäre das aus dem Westen ge­kom­men, hätte es praktisch nie eine Übereinstimmung, ein so vollständiges Votum fast aller Mitglieder der Vollver­samm­lung gefunden. Aus dem Islam ist die Stimme für diesen Dialog der Zivilisationen gekommen. Das scheint mir doch ein sehr wichtiges Ereignis zu sein.

Ich freue mich auch, dass Sie das Problem von Tradition und Moderne sehen, und zwar eben in diesem Kontext des Dia­logs. Diese Frage ist für alle drei abrahamitischen und pro­phetischen Religionen gegeben. Wir alle hatten die große Zeit im Mittelalter. Die Tradition, die wir haben, ist im We­sentlichen eine mittelalterliche Tradition. Das gilt für die katholische Tradition ganz besonders, aber auch für das Ju­dentum und auch für den Islam.

Nun haben wir ja die Moderne, und zwar im Widerspruch zu vielem, was die Geschichte gebracht hat. Die Moderne, wie wir sie verstehen, beginnend mit den Philosophen von Des­cartes bis Kant, aber natürlich auch mit Galilei, den Natur­wissenschaften, der neuen Staatsauffassung, der Vi­sion einer Demokratie: Diese Moderne hat im 17. Jahrhundert einge­setzt.

Meine Frage zielt auf folgendes: Das Christentum wird ja oft gefragt, warum die Moderne gerade im Christentum groß geworden ist. Es hätte ja auch in der islamischen Welt ge­schehen können. Die Moderne hätte im Buddhismus kom­men können, es hätte in Japan oder in China sein können oder eben im Iran. Es ist aber in Europa gesche­hen.

Ich glaube, ein Faktor, eine andere Umwälzung muss da un­bedingt berücksichtigt werden - und nicht nur, weil un­ser Bundespräsident evangelischen Glaubens ist, sondern weil das einfach die historische Wahrheit ist: Die Moderne wäre in dieser Weise nicht möglich gewesen ohne die Re­forma­tion, die ihr vorausgegangen ist.

Die Freiheit eines Christenmenschen war die Voraussetzung für die Freiheit des Individuums, wie es die Moderne ge­bracht hat mit allem Problematischen, das Sie ja zu Recht sehen. Meine Frage ist nun: Der Islam hat diese Reforma­tion nicht gehabt. Das Judentum hat sie zum Teil nachge­holt. Das Reformjudentum hat die Reformation nachge­holt. Moses Mendelssohn müsste hier genannt werden, der Freund von Lessing, er hat das ja eingeleitet.

Wie sehen Sie das im Islam? Ich verehre natürlich mit Ih­nen Iqbal, den Sie zitiert haben. Es gibt auch einzelne Re­former, aber aufs Ganze gesehen ist eigentlich der Islam als Religion so geblieben, wie er war.

Das, was Sie herausgehoben haben, dass wir in Europa eine kritische Befragung der Tradition durchgeführt haben, bis hin zur Bibel, sogar im Grunde angefangen mit der Bibel, das alles ist im Koran, ist im Islam nicht möglich gewesen. Es scheint, dass man gewisse Fragen bezüglich des Koran gar nicht stellen darf, wenn man sich nicht sehr heftigen An­griffen ausgesetzt sehen will. Wie steht es um die Re­form der Religion, also des Islam, und wie sehen Sie die Zukunft dieser ganzen Entwicklung?

Präsident Chatami:

Hier bin eigentlich ich derjenige, der von den Professoren lernen muss, und ich halte es nicht für richtig, wenn hier die großartigen Wissenschaftler, die in spiritueller Hinsicht meine Lehrer sein könnten, Fragen stellen und ich sie beantworte. Das ist selbst eine Art Dialog, wir sollten also bei einer anderen Gelegenheit von diesen Meistern lernen.

Nun geht es hier auch nicht um Frage und Antwort, sondern um das Aufwerfen von Fragen. Es ist unmöglich, über solch komplizierte Themen in einer ein- oder zweistündigen Sitzung zu diskutieren.

Herr Professor Küng hat interessante Bemerkungen gemacht. Ich möchte nun kurz auf "Tradition und Moderne" eingehen und anschließend versuchen, die Situation in der islamischen Welt zu charakterisieren.

Tradition ist unsere historische Vergangenheit, d.h. jeder, der sein eigenes "Selbst" bewahren möchte, muss seine eigene Tradition kennen und auch daran festhalten, sonst kann er auch nichts von anderen übernehmen, weil er kein Selbst besitzt, das etwas übernehmen könnte. Traditionen sind Teil unseres Daseins.

Traditionen können manchmal neben Gewohnheiten und all dem, was sich im Laufe der Zeit und nach den Erfordernissen der Zeit und des Raums in einer Gemeinschaft entwickelt hat, über die Grenzen der Zeit und des Raumes fortbestehen, dogmatische Gestalt annehmen und uns Probleme bereiten. Gewohnheiten lassen sich durchaus abschaffen; sie lassen sich jedoch nicht durch Rundschreiben oder Anweisungen eines Präsidenten oder des Parlaments abschaffen. Aber Gewohnheiten, deren Zeit vergangen ist und die einer früheren Epoche der menschlichen Geschichte angehören, bilden Hindernisse auf dem Weg zum Fortschritt des Menschen, wenn sie unverändert weiterbestehen.

Tradition weist aber auch eine Wahrheit auf, die eine Beziehung zum Dasein hat. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel und zu welcher Dimension der Wahrheit diese Beziehung hergestellt wird, können sich unterschiedliche Traditionen entwickeln, die über die gleiche Wurzel verfügen, vorausgesetzt, man glaubt an die Wahrheit.

Auch im Westen bedeutete die Moderne nicht eine Abwendung von der Tradition; sie hatte allerdings Auseinandersetzungen mit der mittelalterlichen Tradition, die sie dann durch die Renaissance zu überwinden suchte. Das war eine Art Rückkehr zur Tradition als eigentliche Wurzel des Westens in Griechenland und im alten Rom. Sie wurde durch das Mittelalter mit der Moderne verknüpft; die Moderne entstand aus dem Mittelalter und in Auseinandersetzung mit der Tradition.

Ich bin der Meinung, dass das Mittelalter in mancher Hinsicht zu Unrecht kritisiert wird; es gab nämlich beachtenswerte Punkte im Mittelalter, die die Menschheit abgelehnt hat, wodurch die Menschheit selbst zu Schaden kam.

Es gab im Westen ein Problem: Da die herrschende Einstellung im Mittelalter in der Absage an die Welt und in der übertriebenen Beachtung der Spiritualität und des Geistes bestand, verlor der Mensch sein Gleichgewicht an der Grenze zwischen Spiritualität und Materialität. Die Moderne entstand also durch die Negation der ausschließlichen Hervorhebung von spirituellen Gesichtspunkten und der Ignorierung der menschlichen, sozialen und materiellen Faktoren. Durch diese absolute Negation fiel der Mensch von einem Extrem ins andere, und er wurde geblendet vom Materiellen und von der Weltlichkeit.

Ich bin der Meinung, dass der Westen sich auch jetzt in einer Phase des Ungleichgewichts befindet; die Postmoderne ist ein Beweis für diese Krise. Die Postmoderne ist eine Kritik an der Moderne und nicht unbedingt eine Ablehnung der Moderne. Wie im Mittelalter, wo bestimmte Werte verabsolutiert und Teile des Menschseins vergessen worden waren, wodurch der Mensch sein Gleichgewicht verlor, so wurden auch auf dem Höhepunkt der Moderne bestimmte Anschauungen und Werte verabsolutiert und bestimmte menschliche Bereiche außer Acht gelassen. Auch das hatte weitere Zustände des Ungleichgewichts zur Folge. Schon die Existenz der Postmoderne, die ihre Wurzeln kritisch betrachtet, ist ein Zeichen für eine Krise.

Das gleiche Problem haben wir im Verhältnis zwischen der Tradition und der Moderne gehabt. Ich habe auch früher bereits erwähnt, dass wir zweierlei Kritiken benötigen: die Kritik der Tradition und die Kritik der Moderne.

Denn die Tradition ist doch auch eine menschliche Angelegenheit. Selbst wenn wir davon überzeugt sind, dass der Mensch ein Verhältnis zur absoluten Wahrheit haben kann, so ist er trotzdem nicht nur mit spirituellen, geistigen und erhabenen Aspekten ausgestattet; er ist ein irdisches, ein historisches Wesen. Seine Auffassungen von der Wahrheit und den Problemen ändern sich nach Raum und Zeit, daher muss er seine Anschauungen und seine Traditionen ständig der Kritik unterziehen. Wir müssen andererseits aber auch die Moderne kritisieren.

Ich glaube, wir sollten uns im Osten von manchen fanatischen Einstellungen distanzieren, denn die Vorstellung, die man im Osten vom Westen hat, ist leider verknüpft mit dem kolonialistischen Gesicht des Westens. Deshalb haben viele im Osten ihre Unzufriedenheit mit der praktischen Politik des Westens gegenüber dem Osten auf die geistigen und zivilen Grundlagen des Westens selbst übertragen. Dadurch ist statt einer antikolonialistischen Haltung eine antiwestliche Haltung entstanden. Wo Kampfbereitschaft, Hass oder übertriebene Leidenschaft vorherrschen, wird der Mensch seine Kritikfähigkeit und die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, verlieren. Wenn der Osten dieses Problem beheben, und die geistigen und Wertfragen der westlichen Zivilisation von ihren politischen Fragen trennen kann, dann bin ich der Meinung, dass die Menschen im Osten die westliche Zivilisation besser kritisieren können - vorausgesetzt eben, dass sie selbst nicht dem Fanatismus verfallen und dass sie auch ihre eigene Tradition kritisch betrachten.

Jeder Wandel vollzieht sich durch die Kritik des Status Quo. Die Moderne entstand durch die Reformation und durch die Kritik der Tradition. Kritik war also die Voraussetzung für Innovation und Moderne. Jede Innovation setzt auch die Kritik der Innovation voraus. Ich glaube, dass der Islam in einer Hinsicht wie das Christentum ist: Es gibt unter den Muslimen aufklärerische, kritische und zeitgemäße Denkweisen und neue Anschauungen; es gibt unter ihnen aber auch fanatische und reaktionäre Anschauungen.

Wir können nicht behaupten, dass alle Muslime gleich denken. Es gibt in manchen Bereichen des Islam, vor allem im Schiitentum, dasIjtihad (selbständiges Bemühen um Rechtsfindung. Anm. d. Übers.),das es uns ermöglicht hat, auch die Vergangenheit zu kritisieren und mit einer neuen Sichtweise an unsere Probleme heranzugehen. Mit demIjtihadwurde es möglich, nicht nur Grundsätze und Vorschriften zu wahren, sondern auch den Problemen von heute und morgen zeitgemäß zu begegnen.

Diese Denkweise ist im Islam nicht Neues. Vor allem in un­serem Iran ist dieses Denken seit 100 Jahren sichtbar; seit der Zeit von Seyed Jamal-od-Din Assadabadi und der kon­stitu­tionellen Bewegung im Iran hat es sowohl einen poli­tischen Kampf gegen kolonialistisch orientierte Mächte als auch eine geistige Auseinandersetzung und Innovationen gegeben.

Ich glaube, dass die Innovation zu den Zielen der islamischen Revolution gehört, eine Art Erneuerung der religiösen Anschauung. Es gab einen Unterschied zwischen den gedanklichen Ansätzen, die zu dieser Revolution geführt haben, und anderen Denkweisen, denen diese Revolution vielleicht nicht ganz entsprach; dieses Denken existiert heute noch.

Sie haben gefragt, ob man den Koran kritisieren kann oder nicht. Ich glaube, man kann neuere Auffassungen vom Koran und von der Religion haben. Wir haben im Laufe der Zeit beobachtet, dass bisweilen mildere, bisweilen auch radikalere Auffassungen und Auslegungen entwickelt wurden. Es gibt aber einen grundsätzlichen Unterschied, der auf die Wurzel des Glaubens zurückzuführen ist: Die Muslime sind der Überzeugung, dass der Koran, den wir heute in unseren Händen haben, der gleiche Koran ist, der dem Propheten offenbart worden ist. Das Christentum dagegen hat niemals die Behauptung aufstellt, dass alles, was in der Bibel steht, als Gottes Wort Jesus Christus offenbart worden ist; das bedeutet, dass bei der Zusammenstellung oder beim Verständnis der Bibel auch menschliche Entscheidungen mitgewirkt haben. Dadurch wird die Kritik der Bibel oder der Thora in der christlichen Welt viel einfacher als die Kritik des Korans in der islamischen Welt.

Der Glaube daran, dass es sich beim Koran um die Offenbarung Gottes handelt - und fast alle Muslime sind der Überzeugung, dass der Koran ganz genau mit der Offenbarung Gottes übereinstimmt -, legt für die Muslime eine Verpflichtung in diesem Rahmen fest. Es sei denn, man ist selbst kein Muslim, dann kann man ja - wie viele es getan haben - Einwände gegen den Islam und Koran erheben; viele bestreiten ja sogar die Existenz Gottes.

Es gibt - wie gesagt - diesen Unterschied zwischen Islam und Christentum. Aber auch neue Auffassungen und Interpretationen sind jedenfalls erlaubt. Es gibt ja eine Überlieferungen unseres Propheten, wonach der Koran ein Inneres hat, und dass das Innere wieder ein Inneres hat und wieder ein Inneres ... und das kann man bis zu siebzig Mal fortsetzen. Nach einer anderen Überlieferung soll unser Prophet gesagt haben, verschiedene Köpfe haben verschiedene Auffassungen über uns. Mit anderen Worten, das islamischeIjtihadist ein wichtiges Instrument für die Erneuerung der islamischen Gesellschaft.

Bundespräsident Rau:

Wir haben Sie gut verstehen können, Herr Präsident, und ich möchte auf das, was Sie gerade gesagt haben, noch einmal eingehen: Es gibt auch in der christlichen Frömmigkeitsgeschichte eine Schriftauffassung von der Verbalinspiration, die bis in die heutige Zeit hineingeht, wie es ja in allen Religionen Auseinandersetzungen zwischen fundamentalistischen und liberaleren oder offeneren Sichtweisen gibt.

Mir scheint eine Frage noch wichtig zu sein. Als Sie am Schluss Ihrer faszinierenden Einleitung davon gesprochen haben, was die iranische Revolution nun gebracht hat und bringen soll, da haben Sie gesagt, es geht um die Abwendung von einem versteinerten, rückwärts gewandten Islam hin zu einem Staat, der ein islamisches Fundament hat und der zur Volksherrschaft führt.

Meine Frage ist: Was geschieht, wenn diese beiden Prinzipien, die islamische Fundierung und die Volksherrschaft, kollidieren? Was geschieht dann national, und was geschieht dann international? Wie ist das Verhältnis zwischen einem sich selber religiös definierenden Staat und einer immer pluralistischer werdenden Welt? Die Welt wird ja nicht nur säkularer, sie wird auch pluralistischer, das heißt, die Informationsstränge, die Zugangsmöglichkeiten, damit aber auch die Gefahren der Profillosigkeit, werden größer.

Wie verhält sich in einer solchen Gesellschaft ein Staat, der seine religiöse, seine islamische Fundierung nicht verlieren will, der sich aber messen lassen muss an bestimmten Prinzipien des Miteinanderlebens, etwa der UNO-Charta, etwa dem Grundrechtskatalog, etwa den Prinzipien von Meinungs- und Pressefreiheit, etwa dem Minderheitenschutz? Wie verhält er sich demgegenüber, ohne seine eigene Identität aufzugeben, ohne ein säkularer Staat im westlichen Sinne zu werden?

Gibt es dafür Zukunftsmodelle? Gibt es dafür Entwürfe? Gibt es darüber Diskussionen innerhalb des Islam, und sind die Muslime bereit, solche Entwürfe auch mit den Angehörigen anderer Weltreligionen, zuerst einmal der drei Offenbarungsreligionen, zu diskutieren, und wenn ja, auf welchem Forum, wo geschieht das und mit welchen Mitteln?

Präsident Chatami:

Herzlichen Dank, Herr Bundespräsident. Ich möchte zunächst darauf aufmerksam machen, dass das Akzeptieren eines Wandels und die Initiierung des Reformprozesses in einer Gesellschaft nicht unbedingt die vollständige Annahme anderer Wertsysteme voraussetzen. Das würde bedeuten, wir als Menschen im Westen stellen uns vor, dass wir bestimmte Werte und Grundsätze haben; wer unser Wertsystem übernimmt, ist also reformorientiert, sonst ist er reaktionär und "verloren". Das widerspricht der notwendigen Voraussetzung für einen Dialog, die besagt, man soll zuerst unterschiedliche Realitäten akzeptieren und niemals versuchen, jemandem einen Wert als absoluten Wert oder absolute Wahrheit zu diktieren. Man soll den Anderen ermöglichen, neue Erfahrungen zu machen. Der Westen hat in der Geschichte die Möglichkeit zu bestimmten Erfahrungen bekommen und konnte dadurch zu einer Reihe von Begriffen und Werten gelangen.

Warum müssen wir überhaupt sagen, dass die säkularen Werte die höheren Werte sind und dass die Welt sich in einem Säkularisierungsprozess befindet? Ist das nicht auch die gefährliche und zerstörerische Behauptung von Herrn Fukuyama am Schluss seines Buches vom Ende der Geschichte, wonach der Westen, die Welt und die Geschichte im Westen im Liberalismus ihre Vollkommenheit erreicht haben? Er verkündet das Ende der Geschichte, und die ganze Welt muss die westlichen Werte akzeptieren. Diese Verabsolutierung und die dadurch entstehende Anmaßung bereiten der Menschheit enorme Probleme. Sie verliert dadurch ihren Bezug zur Wahrheit. Werte, die Reformen zugrundeliegen, müssen nicht unbedingt der westlichen Welt gefallen. So wie wir den Westen respektieren, soll der Westen auch den Osten respektieren, dann können wir ins Gespräch kommen. Wir können sowohl den Westen als auch unsere eigenen Werte berücksichtigen. Man soll die Vorstellung aufgeben, dass Reform und Wandel ausschließlich nach westlichen Wertnormen erfolgen müssen. Ich bin nicht der Meinung, dass Säkularisierung die Vollendung des menschlichen Lebens ist. Auch im Westen gibt es nicht selten Kritik an der Säkularisierung.

Wenn Unterschiede zwischen realen und Wertfragen auf­tau­chen, sind wir gerne bereit, nachzugeben. Darüber kann man ausführlich diskutieren. Meiner Ansicht nach können sich die Sichtweisen im Laufe der Zeit ändern: Haben Frauen und ihre Rechte in den heutigen islamischen Län­dern den glei­chen Stellenwert wie vor fünfzig oder hundert Jahren? Ist heute der Stellenwert der Frauen und ihrer Rechte in der Is­lamischen Republik Iran der gleiche wie im Nachbarland Afghanistan, wo die Taliban mit Denkwei­sen herrschen, die vor vierhundert oder fünfhundert Jahren üblich waren? Sol­che Entwicklungen sind also möglich, und die Änderungen vollziehen sich in Raum und Zeit.

Ich möchte hier auf einen besonderen Punkt in der Islamischen Republik Iran hinweisen, und zwar auf eine Sichtweise des verstorbenen Führers der Islamischen Revolution in Iran. Er sagte: Der islamische Staat ist eine wichtige Angelegenheit, aber Grundlage eines islamischen Staates ist auch das Interesse des Volkes. Der islamische Staat wird hier im allgemeinen Sinne verstanden, d.h. eine islamische Gesellschaft, die ihr System nach dem Islam aufbauen will. Wenn das öffentliche Interesse unbestreitbaren islamischen Vorschriften widerspricht, sollt ihr auf sie zu Gunsten des öffentlichen Interesses verzichten.

Das ist eine sehr wichtige Sichtweise: Wenn wir eine bestimmte religiöse Überzeugung haben, die den wirtschaftlichen, politischen und internationalen Interessen der Gesellschaft nicht angemessen ist oder widerspricht, dann können wir in unserem System, das natürlich auch seine Gegner hat, zu Gunsten dieser Interessen von der jeweiligen Überzeugung abweichen. Deswegen können nach unserer Theorie nicht einmal die unbestreitbaren religiösen Urteile Vorrang beanspruchen gegenüber den unbestreitbaren Interessen der Gesellschaft, in der wir leben.

Professor Küng:

Das würde doch heißen, dass die Scharia da korrigiert wer­den müsste, wo sie gegen die Interessen der Menschen spricht, wo sie in einem modernen System - ich rede nicht von einem säkularistischen System - unter Umständen ge­wissen Kategorien von Menschen nicht die Rechte gibt, die ihnen zukommen.

Sie haben die Frage der Frau genannt. Uns sind natürlich auch die Minderheiten sehr wichtig. Ich glaube, es würde niemand verstehen, wenn wir hier auf dem Podium - ge­rade als Freunde des Iran - nicht auch die Frage aufwerfen wür­den, wie mit diesen Minderheiten umgegangen wird.

Ich kann nicht beurteilen, was an diesem Prozess gegen die Juden war, die verurteilt worden sind, aber man hat das Ge­fühl, dass es doch eine Rolle gespielt hat, dass das Juden wa­ren.

Wir haben hier in Deutschland - das werden Sie auch nicht als Polemik verstehen - viele Gemeinden, die ja ursprüng­lich aus Ihrem Lande kommen und die Bahai sind. Ich weiß, dass die Bahai eine schwierige Frage sind für alle Muslime. Wir hatten ja schon vor fünfzehn Jahren Gele­genheit, über diese Sache zu diskutieren. Mich würde sehr freuen, wenn die To­leranz, die aus Ihrer Auffassung spricht, eben auch dieser kleinen Gruppe entgegengebracht wird, die deshalb schwie­rig ist, weil sie nach dem Prophe­ten Mo­hammad noch ein­mal einen neuen Propheten Baha Ullah ge­bracht hat. Das kann ein orthodoxer Muslim auf keinen Fall akzeptieren. Aber es sind ja doch, wie wir sie kennen, fried­liche Men­schen, und sie haben sehr viel lei­den müssen. Es sind sehr viele hingerichtet worden.

Ich will das nicht vertiefen. Ich möchte das einfach als Wunsch mitgeben. Ich hoffe, dass diese Minderheiten, ob es nun Juden sind oder Bahai und zum Teil auch Christen, dass die in Ihnen als dem Präsidenten des Iran einen Für­sprecher haben.

Präsident Chatami:

Vielen Dank! Das ist natürlich auch keine schlechte Erfahrung, dass ein hervorragender Denker wie Herr Professor Küng wie ein Außenminister spricht. Die Reden von Herrn Küng sind stark geprägt von Gerüchten und Propagandaaktionen, die leider überwiegend im Westen und in der ganzen Welt gegen die Islamische Republik Iran durchgeführt werden. Ich wollte eigentlich in diesem Kreis nicht über dieses Problem diskutieren; darüber müssen wir in Fernsehinterviews und auf Pressekonferenzen sprechen. Es war mein Wunsch, hier über den Dialog der Zivilisationen und ähnliches zu sprechen. Herr Küng hat seine Meinung nicht einmal als Frage geäußert, sondern als eine Feststellung, dass die Verurteilten im Iran wegen ihres jüdischen Bekenntnisses vor Gericht erscheinen mussten oder die Bahais wegen des Bahaismus verfolgt wurden. Ich würde mich freuen, wenn er das als ein Professor, der eigentlich immer alles mit handfesten Beweisen belegen muss, nachweisen würde. Sollte diese Behauptung nachgewiesen werden, dann müssten wir uns unbedingt korrigieren. Aber die Wahrheit sieht anders aus.

Ich möchte zuerst auf den letzten Teil Ihrer Rede eingehen. Das islamischeIjtihadmacht es möglich, je nach Zeit und Raum sogar die islamischen Vorschriften zu ändern. Imam Khomeini - Gott schenke ihm Barmherzigkeit - hat Zeit und Raum als zwei bestimmende Faktoren im islamischenIjtihadgenannt. Der Gegenstand bleibt der gleiche, aber weil die Zeit, die Verhältnisse und die Zusammenhänge sich geändert haben, werden andere Vorschriften möglich.

Wenn wir also die Scharia als eine Sammlung von religiösen Vorschriften und Rechten sowie in der Gesellschaft vorhandenen praktischen Regeln verstehen, dann können wir feststellen, dass sie auch in vergangenen Zeiten Wandlungen, und Änderungen ausgesetzt war; in unserer Zeit ist dieser Prozess beschleunigt worden. Wir sind also nicht der festen Überzeugung, dass alles, was wir als islamische Vorschriften haben, mit der Wahrheit übereinstimmt. Wir glauben fest daran, dass ein islamischer Gelehrter sich irren kann. Er kann für eine gewisse Zeit eine Meinung vertreten, aber dann kann ein anderer Gelehrter mit einer neuen Sichtweise, mit besseren Gedanken und Erkenntnissen zu der Überzeugung kommen, dass das, was bis jetzt als Vorschrift gegolten hat, nicht ganz korrekt gewesen ist und deshalb durch eine neue Vorschrift ersetzt werden muss. Wenn auch nicht eine Änderung der Scharia, so ist doch eine Umgestaltung von Vorschriften, Anschauungen, Rechts- und Zivilfragen durch das islamischeIjtihaddurchaus vertretbar.

Und nun zu den zwei oder drei Problemen, die Herr Küng über die Juden thematisiert hat: Wir haben bis jetzt viele Spione verhaftet, und ich kann mich nicht erinnern, dass dar­unter Nichtmuslime waren. In der Regel sind sie hinge­richtet worden oder haben eine lebenslängliche Haftstrafe erhalten. Ich kann mich noch an die Zeit nach der Revolu­tion erin­nern, als Spione verhaftet und hingerichtet wur­den. Es hat sogar eine ranghohe politische Persönlichkeit gegeben, die später Kabinettsmitglied war: Sie wurde wegen Spionage verhaftet und bekam eine lebenslängliche Haft­strafe, später bekam sie eine mildere Strafe. Es gab andere, ähnliche Fälle.

Auch unter den von Ihnen angesprochenen Spionen, die vor kurzem verhaftet worden sind, sind einige Muslime. Wenn ich nun nach den Juden gefragt werde, lautet meine Antwort so: Wenn die im Iran inhaftierten Menschen Christen oder Buddhisten gewesen wären, wäre die Islami­sche Republik Iran dann ebenso stark unter Druck geraten? Wenn wir z.B. einen Afrikaner oder einen Iraner verhaftet hätten, der sich zu einer anderen Religion als dem Juden­tum bekannt hätte, einen Muslim oder einen Nichtmuslim, hätte man dann so­viel Druck auf die Islamische Republik Iran ausgeübt? Die­ser Druck ist durch das jüdische Be­kenntnis der Angeklagten entstanden. Der Prozess gegen die Juden und die im Iran ge­fällten Urteile unterscheiden sich keinesfalls von anderen Fällen etwa wegen des Glau­bensbekenntnisses der Juden. Unsere Justiz ist unabhängig von der Exekutive; sie ist selbstständig und wird von ande­ren Organen nicht beein­flusst. Wir mischen uns in ihre Angelegenheiten auch nicht ein. Der eine findet vielleicht die Urteile gut, der andere nicht. Diese Leute sind wegen Spionage verhaftet worden, und die Urteile sind - soweit ich mich erinnere - viel milder ausgefallen als ähnliche Ur­teile bei muslimischen Spionen. Sie haben darüber hinaus die Möglichkeit, Berufung einzule­gen, und danach wäre es durchaus möglich, dass sie noch mildere Strafen bekämen.

Ich wiederhole nochmals, dass Bahaismus im Iran keine of­fiziell anerkannte Religion ist. Aber die Bahais und die Nicht-Bahais sind alle iranische Staatsbürger, deren Rechte gewahrt werden müssen. Ein Staatspräsident ist für die Si­cherung der Rechte von Muslimen wie Bahais als Staatsbür­ger verantwortlich. Es ist klar, dass niemandem die Todes­strafe gefällt, aber in vielen Ländern werden Menschen aus verschieden Gründen zum Tode verurteilt; im Iran wurden Bahais wie Nicht-Bahais wegen ihrer Straftaten zum Tode verurteilt. Ihre andere - unpolitische - Frage nach der Än­de­rungsmöglichkeit der Scharia habe ich zu Beginn meiner Rede beantwortet.

Professor Van Ess:

Es besteht kein Zweifel, dass der Iran das Recht hat, seinen eigenen Weg zu gehen. Das kann auch gar nicht anders sein; jedes Volk geht seinen eigenen Weg. Es besteht auch kein Anlass dafür, dass der Iran westliche Werte über­nimmt; dazu hat der Islam viel zu viel eigene Werte zu bie­ten. Wir haben im Übrigen viele Werte gemeinsam im Christentum und im Islam; das würde sich bei näherem Gespräch sicherlich her­ausstellen. Das Problem liegt gar nicht so sehr in den Werten an sich; Diskussionen kom­men auf, wenn man nach der Werthierarchie fragt. Werte stehen ja nicht isoliert nebenein­ander; sie formen ein Netz, eine Wertpyramide. Es gibt einen Spitzenwert, und ich habe selber immer den Eindruck ge­habt, dass die Spitzen­werte in den beiden Religionen und Gesellschaften ver­schieden sind, zumindest heutzutage. Der Spitzenwert des Westens (ich vermeide hier das Wort Chri­stentum) ist die Freiheit. Der Spitzenwert des Islams ist - so glaube ich - die Gerechtigkeit, die soziale Gerechtigkeit. Ob die Freiheit, von der man im Westen spricht, identisch ist mit der Frei­heit des Christenmenschen, von der Herr Küng ge­spro­chen hat, das ist wieder eine Frage für sich. Aber wenn es Spannungen gibt, gibt es sie meist auf dieser Ebene.

Ähnliches gilt für den BegriffSäkularisationoderSäkulari­tät. Nach unserer deutschen Auffassung setzt Säkularität Re­ligion frei; dazu ist der Staat da. Ein Muslim würde das u.U. anders sehen. Wir sollten aber nicht übersehen, dass es auch innerhalb des Westens, innerhalb Europas schon ver­schie­dene Modelle gibt. Das französische Modell ist vom deut­schen Modell verschieden. Frankreich hat eine Phase des ag­gressiven Laizismus durchlaufen, zu Ende des 19. Jahrhun­derts im Positivismus; das hat historische Folgen gehabt.

Aber lassen Sie mich noch einmal zu meinen anfänglichen Bemerkungen zurückkehren. Im Gegensatz zu den primär kulturanthropologischen Problemen, bei denen wir jetzt an­gekommen sind, habe ich dort eher instrumentell gefragt; mir ging es um die Durchführbarkeit des Dialogs. Ich habe da gesagt: Die Sprache kann durch die Assoziationen, die sich mit ihr verbinden, in Missverständnisse und Probleme hin­einführen. Darum überlege ich nun, ob es nicht auch einen Dialog gibt, bei dem die Sprache in den Hintergrund tritt. Der geplante Dialog hat ja aufklärerische Funktion; dazu ist er erdacht worden, und darum soll er möglichst breite Schichten erfassen. Wer soll diesen Dialog führen? Sicher­lich die Theologen und die Philosophen, sicherlich auch die Kulturwissenschaftler. Aber ich glaube, man sollte das ihnen nicht alleine überlassen; dazu sind wir manchmal zu selbst­verliebt. Wie also kommt man an die breiteren Schichten heran?

Ich frage mich, ob man nicht Dialog auch führen kann mit den Künsten, und dort vor allem mit dem Bild statt mit der Sprache. Was die Künste angeht, so sind Goethe und Ha­fis ja ein gutes Beispiel. Zwar war Hafis zu Goethes Zeit längst tot; aber Goethe hat Hafis sehr gut verstanden, weil er ein Dichter war. Und wenn ich nun von der Sprache weggehe und an das Bild denke: Der iranische Film ist - soviel ich weiß - recht gut. Er zeigt, wie Menschen im Iran leben und denken, ohne dass man das lange durch das Me­dium der Sprache mitteilen müsste. Ich weiß nicht, ob es vergleichbare Filme heutzutage noch in Deutschland gibt; aber es gab sie zumindest früher. Könnte man nicht solche Filme im Fernsehen des jeweils an­deren Landes zeigen, damit man die Menschen selber einmal sieht, ohne das gleich mit Theorien zu verbinden? Der Weg zum Verstehen ist lang; aber vielleicht würde er auf diese Weise zumindest etwas einfacher.

Präsident Chatami:

Sie haben das Thema ausführlich dargestellt. Es ist tatsäch­lich so, dass die Kunst bei der Darstellung der inneren Wirk­lichkeit des Menschen aufrichtiger ist als die Sprache, die eher Rollen spielt. Die Kunst kann den Rezipienten leichter beeinflussen, verglichen mit der Sprache, die man ja mühsam erlernen muss. Die Künstler und die Kunst spielen in der Be­ziehung der Völker und Kulturen eine wichtige Rolle und haben einen großen Wert im Dialog.

Professor Küng:

Also zunächst einmal, ich habe nicht als Außenminister ge­sprochen.

Präsident Chatami:

Nein, Sie sind viel zu schade, um Außenminister zu wer­den, Sie müssen Professor Küng bleiben.

Professor Küng:

Ich weiß nicht, ob die Übersetzung genau war. Ich wollte nicht unterstellen, dass die Juden als Juden verurteilt wur­den. Ich wollte nur ein Fragezeichen setzen. Aber das soll­ten wir jetzt nicht weiter diskutieren.

Ich hätte noch eine positive Frage: Mir hat sehr gefallen, dass Sie in Ihren eigenen Ausführungen festgestellt haben, dass die heutige Welt auf der Suche ist, Sie sagten: nach ei­ner neuen Grundlage des Zusammenlebens. Das ist natür­lich etwas, was uns alle sehr beschäftigt.

Wir werden im Zeitalter der Globalisierung, von der Sie ja gestern in Berlin gesprochen haben, ohne eine Globalisie­rung auch der ethischen Standards nicht durchkommen. Es braucht eine Globalisierung des Ethos.

Mich würde interessieren, wo Sie jetzt gerade zwischen Is­lam und Christentum gemeinsame ethische Standards se­hen, die es ermöglichen, dass nicht zuletzt die Muslime hier in Deutschland, die drei Millionen Muslime, in die­sem Land leben können, ohne sich selber zu verleugnen. Sie haben ja selber in unserem Lande gelebt, haben da eine ge­waltige Er­fahrung, und mich hätte doch interessiert, wie Sie die Frage, auch aus dem Abstand heraus und von Ihrem Amt her, heute beantworten würden.

Präsident Chatami:

Vielen Dank, Herr Professor Küng, für Ihre wertvollen Aus­führungen. Erlauben Sie mir eine Feststellung zum Thema "Globalisierung". Durch die heutigen Kommunikations­mög­lichkeiten und auch dadurch, dass die Mauern Tag für Tag fallen, können natürlich Länder und Systeme einander stär­ker beeinflussen, im wirtschaftlichen, politischen und kultu­rellen Bereich, und dadurch nähern sich auch die Bewusst­seinsformen und Lebensarten einander an. In die­sem Sinne werden Menschen tatsächlich globaler und be­wegen sich in eine ähnliche Richtung.

Es gibt aber auch eine andere Auffassung von Globalisie­rung, von der wir uns ernsthaft distanzieren sollten: Es gibt eine philosophisch-wissenschaftliche Auffassung, dass die Welt sich eine einzige Kultur aneignet und die kulturelle Vielfalt verschwindet, was den Tod der menschlichen Evo­lution und des menschlichen Fortschritts bedeuten würde. Ich bin der Meinung, wir wünschen uns eine Welt mit Ge­meinsamkeiten, mit Koexistenz, aber auch mit Vielfalt und Buntheit. Wir sollten versuchen, Konflikte zwischen diesen "Farben" zu vermeiden. Wie ich glaube, ist es ein Problem, dass es neben der Globalisierung von Wirtschaft und Poli­tik in der Welt auch ein wachsendes Interesse an nationa­len, re­ligiösen und lokalen Kulturen gibt.

Es ist durchaus möglich, dass die Menschheit sich durch die Zusammenschlüsse der Länder und die Annäherung der wirt­schaftlichen und politischen Interessen und Aktivitä­ten einer gewissen Gefahr der kulturellen Assimilation aus­gesetzt sieht. Deshalb beobachtet man in der heutigen Welt eine Art Rückkehr zum Selbst und eine Stärkung der ein­heimischen kulturellen Grundlagen. Heute zeigen die Fran­zosen z.B. in Bezug auf ihre Kultur eine viel stärkere Sensi­bilität als vor dreißig oder fünfzig Jahren. Ähnliches gilt für das kulturelle Identitätsgefühl in den neuen Staaten Mittelasiens und des Kaukasus, in Afrika, Asien und an­derswo. Ich bin also der Meinung, dass Globalisierung im Sinne von Assimilation der Kulturen der menschlichen Na­tur widerspricht und keines­falls im Interesse der Mensch­heit ist.

Es gibt aber noch eine andere, politische Auffassung von Globalisierung, die sehr gefährlich ist. Sie lautet: Die Erd­ku­gel dreht sich nach den Interessen der Macht, die die meisten wissenschaftlichen, materiellen, informationstech­nischen und militärischen Möglichkeiten zur Verfügung hat. Die Welt entwickelt sich zu einem Pol, der Befehle er­teilt, und alle anderen sollen gehorchen. Ein derart defi­nierter Begriff der Globalisierung, der eigentlich ein Verrat an der Globali­sierung bedeutet, existiert im Hinterkopf mancher Politiker in der Welt. Um die Menschheit vor Po­litikern zu retten, die nur an ihr eigenes Interesse denken, und um die Katastrophe zu verhindern, müssen alle den­kenden und nachdenklichen Menschen aktiv werden. Diese Katastrophe wird aber nicht passieren; die Menschen wer­den sich den großen Mächten nicht deswegen fügen, weil sie weniger technische und mate­rielle Möglichkeiten zur Verfügung haben.

In Bezug auf Globalisierung in den Bereichen der Ethik und Spiritualität nähern sich die Werte von selbst oder sie sollen sich einander näherkommen. In einer Welt ohne Grenzen können Menschen und Völker nicht mit völlig unterschiedli­chen moralischen Werten leben. Wir müssen zu einer Reihe von Normen kommen, innerhalb derer alle Menschen mit Verständnis füreinander und in Gemein­samkeit leben. Die Menschen können gleichzeitig ihre Ei­genart und ihre Werte bewahren; diese Eigenart und diese Werte dürfen aber nicht zu Zusammenstößen und Konflik­ten führen.

Die Frage, wie man zwischen Protestantismus und Islam vermitteln kann, können Sie als Theologieprofessor und an­dere qualifizierte Religionswissenschaftler in den Bereichen Islam und Christentum besser beantworten. Die Gemein­sam­keiten der Religionen und die Religionswissenschaft im All­gemeinen sind nicht mein Spezialgebiet, daher weiß ich nicht genau, welche Lösungswege man zwischen Protes­tantismus und Islam, zwischen Katholizismus und Islam, zwischen Buddhismus und Islam oder zwischen Judentum und Chri­stentum finden könnte. Das ist eine Aufgabe der Religions­wissenschaftler.

Ich glaube allerdings, dass es zwischen den Offenbarungsre­ligionen oder Buchreligionen viele Gemeinsamkeiten gibt. Wir Muslime haben es leichter, mit Ihnen als Christen zu­rechtzukommen als Sie mit uns. Das liegt daran, dass wir Je­sus Christus als einen Propheten Gottes anerkennen und sein Wort als Gottes Offenbarung akzeptieren. Nach unse­rer Überzeugung haben alle Religionen die gleiche Wurzel; alle abrahamitischen Religionen besitzen eine einzige Sub­stanz. So wie wir unseren Propheten respektieren, respektie­ren wir auch Jesus Christus, Moses und Abraham als die Propheten Gottes, die die gleiche Wahrheit verkündet ha­ben, die unser Prophet verkündet hat. Von unserer Seite ist also das Chri­stentum trotz aller Unterschiede als eine Re­ligion Gottes ak­zeptiert; wir haben gemeinsame Werte und können daher miteinander zurechtkommen.

Für die Christen, die an einen Propheten nach Jesus Chris­tus nicht glauben, oder für die Juden, die immer noch glauben, Jesus Christus sei noch nicht gekommen, ist das eine schwie­rigere Angelegenheit. Sie sollten versuchen, die Muslime an­zuerkennen, so wie die Muslime die Christen anerkennen, um eine Grundlage für das gegenseitige Ver­ständnis und - so Gott will - für eine Annäherung und für die Erreichung ge­meinsamer Normen zu schaffen.

Bundespräsident Rau:

Meine Damen und Herren, wir stehen nicht nur am Schluss einer Diskussion, der Sie hoffentlich die eine oder andere Einsicht verdanken, sondern gleichzeitig am Schluss des Besuchs des iranischen Präsidenten in der Bundesrepublik Deutschland. Ich denke, dass es nicht zu viel gesagt ist, wenn ich sage, dass dies ein fruchtbarer, ein hilfreicher, ein nützlicher Besuch war. Ich hoffe, er war ein Doppelpunkt, was die Beziehungen zwischen unseren Ländern und unseren Völkern angeht. Ich hoffe, dass wir einen neuen Gesprächsfaden begonnen haben auf allen Ebenen und in allen Feldern: in dem der Kultur, in dem der Religionen, auch in dem der politischen Diskrepanzen und Übereinstimmungen, auch im wirtschaftlichen Austausch.

Und ich hoffe, dass dieser Besuch, für den wir Ihnen, Herr Präsident, herzlich danken, unsere Völker näher zueinander bringen wird. Wir haben jetzt die Übersetzungsarbeit dessen zu tun, was Sie am Schluss gesagt haben über die Gemeinsamkeiten der Offenbarungsreligionen. Wir haben jetzt mitzuhelfen, damit die Menschen spüren, dass das, was wir gesagt haben, auch stimmt. Sie sollen spüren, dass es nicht um irgendeine weltfremde Ideologie geht, sondern dass wir es in den Alltag übersetzen wollen: in die Art, wie wir miteinander leben, statt gegeneinander zu leben, wie wir einander respektieren, ohne das eigene Profil aufzugeben, und wie wir die Globalisierung nicht missverstehen als die Uniformierung der ganzen Welt, sondern als die Darstellung der Vielfalt einer Schöpfung, die nicht dem Menschen allein gehört, aber für die die Menschen überall Verantwortung tragen.

Ich wünsche Ihnen einen guten Heimweg nach Teheran, uns eine gute Reise nach Berlin, allen ein gutes Nachhausekommen, und ich sage Gottes Segen für den Iran und für Deutschland.