Festansprache bei der Preisverleihung des Förderwettbewerbs "Humanitäre Hilfe für Mittel- und Osteuropa" der Robert-Bosch-Stiftung

Schwerpunktthema: Rede

Potsdam, , 7. November 2000

Meine Damen und Herren,

vor einigen Monaten bewegte ein Bild die Leser fast aller großen Zeitungen: Mitten in Bukarest steht ein elfjähriger bettelnder Junge - weinend, nackt, elend. Ein Inbild der Armut und des menschlichen Leids, mitten in Europa.

Ein erschütterndes, aufrüttelndes Bild - und ein ungewöhnliches Bild. Ungewöhnlich, weil dieses Foto seinen Weg in die vorderen Seiten der Zeitungen fand, ohne dass es eine gerade ausgelöste Krise oder eine Naturkatastrophe illustrierte. Denn nur dann, so besagen die Gesetze des Medienmarktes, versprechen Bilder hohe Einschaltquoten oder hohe Auflagen. Das Interesse an Sensationsmeldungen erlahmt rasch; andere Themen beanspruchen die Schlagzeilen und drängen in den Vordergrund der Nachrichtensendungen.

Heute wollen wir Menschen würdigen, die gegen solche Trends arbeiten, Menschen, die nicht nur einmal hinschauen, sondern die sich auf Dauer einmischen, Menschen, die nicht wegsehen, sondern die handeln und die am Ball bleiben.

Ihre Initiativen lindern Not, sie helfen Menschen anhaltend und nachhaltig.

Genauso wichtig wie die Hilfe, die geleistet wird, ist die Brücke, die dabei zwischen Menschen geschlagen wird. Hier entstehen Partnerschaften. Sie korrigieren Klischees, sie bauen Vorurteile ab und sie bauen Vertrauen auf.

Vorbeugende Friedenspolitik ist ein noch viel zu selten erreichtes Ideal. Hier wird sie konkret, hier wird sie greifbar.

Anfang der achtziger Jahre schickten Tausende von Deutschen Pakete nach Polen, um Menschen zu helfen, die unter den wirtschaftlichen Folgen des Kriegsrechts litten. Viele Polen haben das damals - nach dem Kniefall Willy Brandts in Warschau - als zweite große Geste empfunden, die den Willen zu Aussöhnung und guter Nachbarschaft dokumentierte.

Willy Brandt wollte, dass die Deutschen ein Volk guter Nachbarn werden. Das ist auch mein außenpolitischer Leitgedanke. Ich glaube, dass bewusste gute Nachbarschaft immer da gefragt ist, wo ein einzelner Mensch oder ein Staat Herausforderungen begegnet, die er allein nicht bewältigen kann. Gute Nachbarschaft kann so verstanden die Quelle von Ideen für die Zusammenarbeit von Staaten werden.

Wir Deutschen haben versucht, diesem Grundsatz zu folgen, und wir sind gut damit gefahren. Nach Jahrhunderten des Streits und der Feindschaft leben wir mit vielen Nationen in guter Nachbarschaft. Die Bürger unserer Länder begegnen und verstehen sich, staatliche Institutionen arbeiten erfolgreich zusammen.

Dieses "Erfolgsmodell" guter Nachbarschaft wollen wir auch im Verhältnis zu den Ländern in Mittel- und Osteuropa lebendig werden lassen. Das ist in unserem eigenen, wohlverstandenen Interesse. Wir alle leben sicherer, wenn alle Europäer in Wohlstand und in stabilen Verhältnissen leben können.

Václav Havel, der tschechische Präsident, der einen großen und guten Namen auch in Deutschland hat, hat einmal gesagt: "Es kann nicht in der einen Hälfte des Zimmers warm sein, wenn es in der anderen kalt ist.". Das ist ein, wie ich finde, gutes und treffendes Bild.

Wir Deutschen vergessen auch nicht, dass der Freiheitswille, die Zivilcourage und der Mut der Menschen in den Ländern in Mittel- und Osteuropa entscheidend dazu beigetragen hat, die deutsche Teilung zu überwinden.

Die Menschen, die in Warschau und Riga, in Prag und in Budapest, in Bukarest und in Sofia für Freiheit und Menschenrechte auf die Straße gegangen sind, blickten in ihrem Kampf auf die Freiheitstraditionen der westlichen Demokratien. Ihr Aufbruch war der erste Schritt auf dem Wege zur weiteren Einigung Europas.

Eine gute Strecke Wegs haben wir schon hinter uns gebracht. Aber noch ist viel Arbeit zu leisten. Darum werde ich nicht müde zu betonen: Die Menschen in Mittel- und Osteuropa können sich dabei auf deutsche Unterstützung verlassen.

Wir selber haben vor fünfzig Jahren die Erfahrung gemacht, dass uns die Türen nach Europa wieder geöffnet wurden. Wie könnten wir unseren Nachbarn im Osten das vorenthalten, wovon sie all diese Zeit ausgeschlossen waren, all die Jahre, in der die Länder im Westen Europas die Früchte von Freiheit und Wohlstand haben genießen können?

Schon jetzt haben die Beziehungen zu unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn eine bemerkenswerte Qualität erreicht. Sie sind so intensiv geworden, wie das vor zehn Jahren nur schwer vorstellbar war.

Grundlegende Fragen sind nicht mehr offen. Die Aussöhnung ist entscheidend vorangekommen. Das ist vor allem auch den vielen menschlichen Begegnungen zu verdanken, die nach dem Fall des eisernen Vorhangs so viel leichter geworden sind als damals.

Das Geflecht menschlicher Kontakte ist die solide Grundlage guter Beziehungen.

Die unmittelbare Begegnung, das Interesse am anderen Menschen und die Neugier auf das andere Land - das alles trägt viel mehr als jede Politik dazu bei, dass wir uns besser kennen lernen. Wie könnte man Vorurteile besser abbauen und Vertrauen besser schaffen als durch das unmittelbare Gespräch?

Es sind genau diese Begegnungen und Beziehungen zwischen den Menschen unserer Länder, die in der Vergangenheit unsere unverwechselbare europäische kulturelle Tradition begründet haben. Diese große Tradition des Austauschs und der Begegnung wollen wir wiederbeleben und vertiefen. Wir wollen wieder ans Licht holen, was verschüttet war, und wir wollen stärken, was uns früher geeint hat. Wir wollen neue Wege bahnen und neue Netze knüpfen.

Unsere Tradition sollte uns auch den Mut geben, offen miteinander zu sprechen. Das ist nicht immer leicht, und Rückschläge bleiben dann nicht aus. Doch nur die offene Begegnung wird uns helfen, unsere Vorurteile zu überwinden. Nur im Dialog können wir Verständnis füreinander finden.

Ein wichtiger Wegbereiter der deutsch-polnischen Aussöhnung, Jan Jozef Lipski, hat dieses schwierige Ziel auf eine ganz einfache Formel gebracht. Er sagte: "Wir müssen uns alles sagen.". So hat Lipski die Grundlage jeder wirklichen Verständigung beschworen.

Niemand leistet mehr für die Verständigung zwischen unseren Völkern als jene Bürgerinnen und Bürger, die dem Wort die Tat folgen lassen. Sie bereichern die Begegnung um die Hilfe. Das sind Menschen, die helfen, weil sie sehen, wie viel besser es ihnen geht als dem Nachbarn.

Die Robert Bosch Stiftung, eine der großen privaten Stiftungen in Deutschland, hat es unternommen, solche ehrenamtlichen Initiativen zu würdigen. Ihre Arbeit, die ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig ist, trägt dazu bei, dass soziale Verantwortung und Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft nicht verloren gehen. Es ist gut, dass es in Deutschland viele private Stiftungen gibt. Durch sie, und hier zitiere ich Robert Bosch, wird "allerhand Not gelindert".

Es ist beeindruckend, wie viele solcher Initiativen es gibt und wie viele Auszeichnungen vergeben werden können. Hier wird deutlich: Europa wächst zusammen. Sie, die heute ausgezeichnet werden, geben anderen Menschen mit ihrer Hilfe eine bessere Zukunft, und sie fügen viele einzelne Steine in das große europäische Bauwerk ein.

Über jede ihrer Initiativen ließe sich eine Menge erzählen. Aber ich will den Würdigungen, die nachher vorgetragen werden, gar nicht vorgreifen. Doch ich will aus einigen Äußerungen zitieren, in denen Preisträger begründen, was sie zum Handeln bewegt hat. Sie stehen sicherlich für die Haltung aller, die heute ausgezeichnet werden:

An einer Stelle heißt es: "Es musste etwas getan werden, um der Lethargie der Menschen (...) entgegenzuwirken (...). Der Wille zur Veränderung der Situation war in vielen Menschen vorhanden, jedoch mussten realisierbare Ansatzpunkte gefunden werden, um die vorhandene Glut anzufachen (...).".

Und ein anderer Preisträger sagt: "Unsere Philosophie ist es, dass wir Völkerfreundschaft als Ergebnis vieler kleiner Bündnisse, Kontakte und persönlicher Erfahrungen sehen." Und in einer dritten Äußerung lese ich: "Viel zu häufig lassen sich hilfsbereite Menschen davon entmutigen, dass sie als Einzelne ja doch nicht viel bewegen können (...). Wir haben erleben dürfen, dass man (...) selbst scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten meistern kann.".

Ich möchte Ihnen für Ihren großartigen Einsatz danken. Sie beweisen, dass viele Einzelne, wenn sie zusammenstehen, eben doch vieles bewegen können. Sie vermitteln die Erfahrung, dass man scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten eben doch meistern kann. Sie fachen mit Ihrer Hilfe die Glut an, damit ein Lauffeuer der Selbsthilfe entsteht und damit die Menschen spüren: Uns wird geholfen, weil wir in dem einen Europa leben.