Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau zur Demonstration vor dem Brandenburger Tor am 9. November

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 9. November 2000

Bundespräsident Johannes Rau hat am Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 2000 vor dem Brandenburger Tor in Berlin auf einer Kundgebung gegen Rassismus und Gewalt eine Rede gehalten.

Bundespräsident Johannes Rau spricht am Jahrestag der Pogromnacht im November 2000 auf einer Kundgebung in Berlin gegen Rassismus und Gewalt

I.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Wir alle wären froh, wenn diese Demonstration nicht notwendig wäre. Aber leider ist sie notwendig.

Darum ist es gut, dass wir alle hier stehen.

Darum sagen wir: Wir stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz.

Jeder steht hier für sich. Wir stehen hier aber auch gemeinsam für die große Mehrheit der Deutschen und aller, die in Deutschland leben.

Ja, diese Demonstration ist ungewöhnlich.

Es geht heute nicht um Forderungen einer bestimmten Gruppe an den Staat.

Hier und heute demonstrieren Bürgerinnen und Bürger gemeinsam mit den Repräsentanten unseres Staates.

Wir wollen heute ein Zeichen setzen: Deutlich und unübersehbar.

Ein Zeichen für uns selber, ein Zeichen für unser Land.

Ein Zeichen aber auch für alle unsere Nachbarn und Freunde in der Welt, die sich - wie wir - Sorgen machen über Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache.

II.

Wir beklagen fast hundert Tote, die seit 1990 Opfer rechtsextremer Täter geworden sind.

Wir trauern mit ihren Angehörigen, die fassungslos sind. Sie müssen jede Unterstützung bekommen, die sie brauchen.

Fast einhundert Tote. Sie wurden umgebracht, weil sie anders waren:

Weil sie als Ausländer oder als Obdachlose als Freiwild angesehen wurden.

Manche starben als zufällige Opfer hemmungsloser Lust am Quälen.

Hass und Gewalt treten offen und schamlos auf.

Asylbewerberheime haben gebrannt, Wohnungen sind verwüstet worden, in öffentlichen Räumen sorgen Stiefel und Baseballschläger für Angst.

Menschenfeindliche Ideologen haben jugendliche Herzen und Köpfe vergiftet und verhetzt.

Junge deutsche Männer haben Ausländer, Behinderte, Obdachlose durch die Straßen gejagt, verletzt und zu Tode geprügelt.

Das ist eine Schande für unser Land.

III.

Die Täter glauben oder behaupten gern, sie handelten im deutschen Namen oder im deutschen Interesse. Das ist eine Beleidigung für unser Vaterland und für alle anständigen Deutschen.

Wer andere verfolgt oder erschlägt, der ist ein Feind des eigenen Landes.

Patriotismus kann nur da gedeihen, wo Rassismus und Nationalismus keine Chance haben.

Wir dürfen Patriotismus niemals mit Nationalismus verwechseln.

Ein Patriot ist einer, der sein eigenes Vaterland liebt. Ein Nationalist ist einer, der die Vaterländer der anderen verachtet.

Wir sagen heute: Wir stellen uns der Gewalt und dem Hass entgegen. Jeder an seinem Platz.

Wir stehen für die unantastbare Würde jedes Menschen.

Wir wollen, dass jeder Mann und jede Frau überall in Deutschland sicher sein kann vor Einschüchterung und vor Gewalt.

Wir sind ein Land der Toleranz und der Freiheit. Deshalb wollen und werden wir Barbarei und Gewalt nicht tolerieren.

Das klingt selbstverständlich.

Das ist auch selbstverständlich.

Aber das Selbstverständliche muss immer wieder neu gesagt und allen klar gemacht werden.

IV.

Wir suchen nach Erklärungen für Gewalt und Enthemmung.

Erklärungen können nichts entschuldigen.

Fremdenhass und Gewalt gegen Minderheiten und gegen Schwache sind unentschuldbar.

Aber wir müssen uns mit den Hintergründen und mit den Ursachen der Gewalt auseinandersetzen.

Gewalttäter mit dumpfen Parolen und Schreibtischtäter mit menschenfeindlicher Ideologie sind in unserem Land eine kleine Minderheit. Das ist kein Trost. Diese kleine Minderheit steht nicht außerhalb der Gesellschaft und auch nicht ganz am Rand.

Die Täter sind ja nicht vom Himmel gefallen. Ihr Hass und ihre Gewalt sind Teil unserer Gesellschaft. Es sind unsere Kinder und unsere Nachbarn, es sind Mitschüler und Kollegen.

Wir müssen fragen: Was läuft in unserer Gesellschaft falsch? Welche sozialen Probleme werden von rechtsextremen Ideologen für ihre Propaganda missbraucht? Welches geistige Vakuum füllen sie?

V.

Die Schläger kennen nur ein Recht: Das Recht des Stärkeren. Mit jeder Tat bedrohen sie den inneren Frieden in unserem Land. Es bleibt dabei: Das Recht des Stärkeren ist das stärkste Unrecht.

Wir dürfen nicht übersehen: In unserer Gesellschaft insgesamt haben wir zuviel Gewalt. Oft ist sie subtil. Das gilt für das Mobbing in der Arbeitswelt, das gilt für rücksichtsloses Verhalten im Alltag und auch in der politischen Auseinandersetzung. Das wird spürbar beim Kraftgeprotze im Straßenverkehr. Und vergessen wir nicht, wie erbarmungslos manche Fernsehsendungen oder Zeitungsbeiträge mit Menschen umgehen.

All das fördert eine gewaltbereite Atmosphäre.

VI.

Wir haben in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren vieles gewonnen: Mehr Freiheit, mehr Toleranz, mehr Selbstbestimmung. Das darf aber nicht dazu führen, dass Wichtiges verloren geht, vor allem Respekt und Anstand.

Wir können nur anständig miteinander umgehen, wenn wir Achtung vor uns selber und Achtung vor anderen haben.

Viele haben in den letzten Jahren ihr Selbstwertgefühl, ihre Selbstachtung verloren.

Sie müssen mit ansehen, wie nur noch der Starke, nur noch der Erfolgreiche, nur noch der Durchsetzungsfähige zählt. Sie fühlen sich zurückgesetzt, vergessen, verlassen, wertlos.

Wer sich ausgegrenzt fühlt, grenzt leicht andere aus. Wer Angst hat, keinen Platz zu bekommen, der will schnell andere weghaben.

Wir müssen jungen Menschen Perspektiven für ihr Leben geben. Sie brauchen Orientierung. Sie brauchen Zeit und Zuwendung. Sie brauchen glaubwürdige Erzieher, glaubwürdige Vorbilder. Sie brauchen Freiraum für ihre Entwicklung. Und sie müssen lernen, wo Grenzen sind.

VII.

Unsere Gesellschaft wird immer reicher. Aber viele Menschen haben Angst um ihr Auskommen, um die Zukunft ihrer Kinder. Diese materiellen Sorgen dürfen wir nicht als nebensächlich abtun. Wir müssen sie ernst nehmen und dafür sorgen, dass alle am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben können.

Gerechtigkeit und gleiche Lebenschancen - auch das ist eine Frage von Anstand und Menschenwürde.

Wir müssen für eine Gesellschaft arbeiten, in der jeder Achtung vor sich selber haben kann, in der jeder einen sinnvollen Platz einnehmen kann.

Anstand beginnt mit der Sprache. Unworte können Untaten hervorrufen.

Alle, deren Stimme in der Öffentlichkeit gehört wird, müssen achten auf das, was sie sagen.

Ganz gewiss müssen vor allem Politiker die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen, aber niemand darf diese Sorgen und Ängste schüren.

VIII.

Wir stehen vor dem Brandenburger Tor. Es steht für viele Stunden in unserer Geschichte, für dunkle und für helle.

Das Brandenburger Tor ist eingerüstet und wird gerade repariert. Unsere deutsche Geschichte kann man weder einrüsten noch reparieren.

Ein entscheidendes Datum unserer Geschichte ist der 9. November.

Der 9. November ist der Tag, an dem Philipp Scheidemann 1918 - heute vor 82 Jahren - dort drüben vom Reichstag aus die deutsche Republik ausrief.

Am 9. November 1923 - heute vor 77 Jahren - versuchte Hitler in München zum ersten Mal, politische Macht zu erlangen.

Der 9. November ist auch der Tag, an dem 1938 - heute vor 62 Jahren - organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand setzten; es ist der Tag, an dem Zehntausende Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens an diesem Tag konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren.

Häufig wird gesagt: Bei uns in Deutschland gibt es nicht mehr Fremdenhass und Antisemitismus, nicht mehr Ausländerfeindlichkeit als in anderen Ländern auch. Das stimmt ja - aber das entschuldigt gar nichts. Wir müssen uns gegen Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit im eigenen Land wehren.

Und es kommt hinzu: Wegen unserer Geschichte, wegen des 9. November, müssenwirganz besonders wach und wachsam sein. Jeder Anschlag auf eine Synagoge, jeder Anschlag auf eine jüdische Einrichtung ist ein Anschlag auf uns alle.

Am 9. November 1938 war die Barbarei vom Staat aus angestiftet. Diesmal hat sie den Staat gegen sich. Damit unser Staat aber mit aller Macht die Freiheit, die Unverletzlichkeit und die Würde eines jeden Menschen sichern kann, ist er darauf angewiesen, dass die Bürger sich engagieren.

Der 9. November erinnert uns auch an erfolgreichen Widerstand und Bürgermut. Wir erinnern uns an den Fall der Mauer vor elf Jahren und an die überglücklichen, feiernden Menschen gerade hier am Brandenburger Tor.

Deutsche haben sich gegen Diktatur und Unrecht gewehrt, Deutsche haben ein System der Unfreiheit überwunden. Wir haben gesehen: Freiheit und Menschenwürde sind stärker als Unterdrückung und Gewalt.

IX.

Wir setzen heute, am 9. November 2000, mit dieser Kundgebung ein Zeichen.

Zeichen sind wichtig, aber Zeichen können das praktische Handeln im Alltag nicht ersetzen.

In allen Teilen unserer Republik gibt es Tausende, Zehntausende von Menschen, die in kleinen und großen Initiativen etwas für das friedliche Zusammenleben in Deutschland tun.
Sie arbeiten in Verbänden und Initiativen, in Vereinen und Gewerkschaften, in Kirchengemeinden und Schulen.

Ihnen allen sage ich von hier aus meinen und unseren gemeinsamen Dank. Ihre Arbeit, ihr Engagement ist für unser Gemeinwesen unverzichtbar.

Ich bitte Sie alle: Lassen Sie in Ihrem Einsatz nicht nach.

Darum wende ich mich von hier aus auch an alle, die in den Städten und Gemeinden, in den Ländern und im Bund politische und gesellschaftliche Verantwortung tragen:

Die ehrenamtliche Arbeit für ein friedliches Zusammenleben in unserem Land braucht die Unterstützung durch öffentliche Stellen, durch Verbände und Unternehmen.

Oft geht es da um ganz wenig: Um einen Raum, in dem man sich treffen kann. Um Papier für Flugblätter. Um Platz für Plakate.

An der praktischen Unterstützung wird sich zeigen, ob wir nur reden oder ob wir wirklich handeln.

Ganz besonders wende ich mich an die jungen Menschen: Auf Euch kommt es an. Ihr prägt das Klima in den Schulen, in den Clubs, auf den Plätzen, wo Ihr Euch trefft. Wehrt Euch gegen rassistische Sprüche! Lasst Euch dumme Parolen nicht gefallen! Gebt dem Hass und der Gewalt keine Chance!

X.

Bei allen Unterschieden zwischen uns hier auf diesem Platz, bei allen politischen Differenzen auch zwischen denen, die zu dieser Demonstration aufgerufen haben:

Wir versprechen uns heute: Wir stehen und wir arbeiten gemeinsam für ein friedliches Deutschland.

Wir arbeiten für ein Deutschland, in dem niemand Angst haben muss, ganz gleich, wie er aussieht, ganz gleich, wo er herkommt, ganz gleich, was er glaubt, ganz gleich, wie stark oder wie schwach er ist.

Arbeiten wir für ein Deutschland, in dem wir alle zusammen gerne, frei und sicher leben können.

Arbeiten wir für ein Deutschland, in dem wir ohne Angst verschieden sein können.

Und das wir deshalb auch lieben können.

- Es gilt das gesprochene Wort. -