Rede anlässlich der 38. Kommandeurtagung der Bundeswehr

Schwerpunktthema: Rede

Leipzig, , 14. November 2000

I.

Für mich ist es immer noch etwas Besonderes, in Leipzig zu sprechen, zumal an einem Novembertag. Ich war am 9. November 1989 hier, und ich erinnere mich noch genau, welche Gedanken und Gefühle mich damals bewegt haben, als uns damals die Nachricht vom Fall der Mauer erreichte. Wir alle haben die Bilder jener Tage noch vor Augen, und ich habe auch noch immer nicht das Staunen darüber verloren, was am 9. November geschehen und was in den elf Jahren seither gelungen ist.

Es ist immer wieder wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, wie anders die Welt vor jenem Umbruch ausgesehen hat. Auf kaum einem einzelnen Feld der Politik haben sich seither derart einschneidende Veränderungen vollzogen wie im Bereich der Sicherheitspolitik:

  • Wer hätte vor zehn Jahren davon zu träumen gewagt, dass heute polnische und deutsche Soldaten in gemischten Verbänden im selben Militärbündnis als Kameraden miteinander arbeiten und füreinander einstehen?
  • Wer hätte zu hoffen gewagt, dass die Zahl der Atomwaffen innerhalb von zehn Jahren um die Hälfte reduziert werden würde?
  • Wer hätte gedacht, dass sich die Zahl deutscher Soldaten in so kurzer Zeit mehr als halbieren würde?

Sie sind heute in Leipzig zusammengekommen, um über die Reform der Bundeswehr zu diskutieren, die als Ergebnis der Veränderungen der zurückliegenden zehn Jahre notwendig geworden ist. Ich freue mich über die Gelegenheit zu einigen grundsätzlichen Anmerkungen.

Zunächst möchte ich kurz auf jene Bundeswehr zurückschauen, die uns in der "alten" Bundesrepublik wie man sagt, zum vertrauten, zum bewährten und anerkannten Sicherheitsinstrument geworden ist und die sich, in zehn Jahren so erfolgreich zur Armee der Einheit gewandelt hat.

Mir erscheint es wichtig, dass wir uns immer wieder neu vergewissern, wie die sicherheitspolitischen Koordinaten sich in den letzten Jahren verändert haben:

  • Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Konfliktvorbeugung und Konfliktlösung?
  • Welcher Instrumente sollen wir uns dabei am besten bedienen?
  • Welche Rolle kommt dabei unseren Streitkräften zu?
  • Wie können wir am besten sicherstellen, dass ihre Aufgaben und Einsätze breite Zustimmung in unserer Gesellschaft finden?

II.

Gestatten Sie mir einen kurzen Blick zurück:

Am 12. November 1955 hat der erste Bundesminister der Verteidigung, Theodor Blank, in der Bonner Ermekeil-Kaserne den ersten 101 freiwilligen Soldaten der Bundeswehr die Ernennungsurkunden ausgehändigt.

Der Tag war bewusst gewählt: Es war der 200. Geburtstag des preußischen Heeresreformers Gerhard von Scharnhorst.

Damit wollten die Gründer der Bundeswehr an Leitgedanken anknüpfen, die die preußischen Reformer im Zuge der Freiheitskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts begründet hatten. Ihre Vorstellung war es, dass nicht Söldner, sondern die Bürger für ihren Staat einstehen sollen; Freiheit sollte mit bürgerschaftlichem Engagement, Wehrpflicht mit Landesverteidigung verbunden werden.

Diese Ideen wurden in unserer Bundeswehr zur Grundlage einer in der deutschen Geschichte völlig neuen Konzeption: Die "Innere Führung" mit dem "Staatsbürger in Uniform" - das sind bis heute die tragenden Säulen der Bundeswehr.

Als erste deutsche Wehrpflichtarmee wurde die Bundeswehr fest in der parlamentarischen Demokratie verankert und als Armee des Parlaments in ein Bündnis freier Staaten integriert.

Schon im April 1957 rückten die ersten zehntausend Wehrpflichtigen zu den Einheiten des Heeres ein. Seither steht die Wehrpflicht für die Bereitschaft der Bürger, persönlich Mitverantwortung für den militärischen Schutz unseres Landes zu übernehmen. Mehr als acht Millionen junge Männer haben bisher als Wehrpflichtige ihren ganz persönlichen Beitrag für Frieden und Freiheit geleistet.

Sie alle wissen, dass ich zu den Anhängern der Wehrpflicht gehöre. Aus guten Gründen hat die Bundesregierung im Sommer diesen Jahres entschieden, an der Wehrpflicht festzuhalten. Gleichwohl wird in jüngster Zeit nicht nur in den Parteien über den Fortbestand der Wehrpflicht diskutiert. Wir alle wissen, dass diese Frage aus ganz unterschiedlichen Gründen auch zu Spekulationen einlädt. Zu den Auslösern solcher Überlegungen gehört auch die grundlegende Bundeswehrreform, mit der Sie sich auf dieser Tagung befassen und Fragen der Wehrgerechtigkeit.

Den breiteren Hintergrund dieser Debatte liefert der sicherheitspolitische Umbruch, der das Ende der Ost-West-Konfrontation bedeutet.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir uns Anfang der 90er Jahre über die Aussichten auf eine Friedensdividende gefreut haben.

Tatsächlich ist der Anteil der Militärausgaben weltweit gegenüber 1990 deutlich gesunken. Das haben damals viele nicht für möglich gehalten.

Manche sind damals aber einem anderen Irrtum erlegen: Sie glaubten, mit dem Ende des Ost-West-Konflikts sei das Ende jeglicher militärischer Bedrohung für Europa und jeglicher Kriege innerhalb Europas gekommen. Dass das nicht so ist, das ist für uns alle eine traurige und bittere Erfahrung.

Aus dieser Erfahrung erwächst die Einsicht, dass wir auch in Zukunft eine leistungsfähige Bundeswehr brauchen, obwohl wir zum ersten Mal in unserer Geschichte nur von Freunden und Verbündeten umgeben sind.

Angesichts dieser neuen Situation darf sich niemand darüber wundern, dass inzwischen die Frage lauter gestellt wird, ob und in welcher Form die Wehrpflicht fortbestehen soll.

Die Wehrpflicht gibt es ja nicht um ihrer selbst willen. Wenn die Gründe, die für sie sprechen, nicht mehr gelten sollten, dann müssen wir neu nachdenken. Wir würden uns unglaubwürdig machen, wenn wir an Positionen festhielten, die sich unter veränderten Bedingungen nicht mehr halten lassen. Unglaubwürdig würde sich die Politik aber genauso machen, wenn sie weiter gültige Einsichten, die für die Wehrpflicht sprechen, dem Zeitgeist opferte.

Mir scheint besonders wichtig, dass diese Frage, die für die Zukunft der Bundeswehr und für die Lebensplanung so vieler junger Männer so große Bedeutung hat, offen diskutiert wird.

Diese Frage verdient die politische Debatte, wenn nötig auch den politischen Streit und nicht nur öffentliche Spekulationen und Mutmaßungen. Die Zukunft der Wehrpflicht ist eine Frage, die politisch gestaltet und nicht durch Gerichte entschieden werden sollte. Die politische Bewertung und Entscheidung darf nicht durch vermeintliche oder tatsächliche Sachzwänge ersetzt werden.

III.

Nach zehn Jahren staatlicher Einheit blickt die Bundeswehr zu Recht mit Stolz auf eine zweite große Aufbauleistung in ihrer Geschichte zurück.

Sie hat Menschen zusammengeführt, die sich zuvor als Gegner an der Grenze mitten durch Deutschland gegenüber gestanden haben. Am 3. Oktober 1990 wurde die Nationale Volksarmee der DDR aufgelöst. 93.000 Soldaten und 48.000 Zivilbeschäftigte hatten ihr angehört. 300.000 Tonnen Munition, mehr als 1,3 Millionen Handfeuerwaffen, 140.000 Fahrzeuge gehörten zu den Hinterlassenschaften. Der "Staatsbürger in Uniform" und das Prinzip der "Inneren Führung" waren der NVA fremd.

Doch es ging nicht nur darum, zwei ganz unterschiedliche Armeen zusammenzuführen und zu einem Ganzen zu formen. Gleichzeitig wurden die Streitkräfte auf 370.000 Soldaten verringert. Als Ergebnis des KSE-Vertrages hat die Bundesrepublik Deutschland den Bestand an Panzern, Kampfflugzeugen und Geschützen um insgesamt 8.600 reduziert.

Die Aufgabe, eine gesamtdeutsche Armee zu schaffen, kam einem Neuaufbau gleich. Die Auflösung der NVA und die Integration von 11.000 ihrer ehemaligen Soldaten in die Bundeswehr ist eine Leistung, die nicht nur in der deutschen Geschichte ohne Beispiel ist.

Heute sind 50.000 Soldaten aus Ost und West ganz selbstverständlich gemeinsam in 120 Standorten in den neuen Bundesländern stationiert. Mehr als 400.000 Wehrpflichtige aus den neuen Ländern haben bis heute in der Bundeswehr gedient, viele davon im westlichen Teil Deutschlands. Sie haben erfahren, was den Wert einer Armee in der Demokratie ausmacht. Ihre Erfahrungen und ihre landsmannschaftlichen Prägungen haben die Bundeswehr bereichert.

Im Sommer 1997 haben 30.000 Soldaten aus allen Teilen Deutschlands gemeinsam mit Männern und Frauen der Hilfsdienste, der Polizei und des Bundesgrenzschutzes im Oderbruch ein Jahrhunderthochwasser erfolgreich bekämpft. Die Bundeswehr hat diese große Herausforderung vorbildlich bestanden. Sie ist zu einem Sinnbild für das zusammenwachsende Deutschland geworden.

Ich weiß, dass es ein ganz praktisches Problem gibt, das viele Soldaten der Bundeswehr umtreibt: Die Frage der unterschiedlichen Besoldung zwischen Ost und West.

Die Unterschiede der Bezahlung gibt es nicht nur bei der Bundeswehr. Aber sie werden besonders spürbar, wenn Soldaten aus Ost und West gemeinsam Dienst tun auf Schiffen, in Flugzeugen und als Panzerbesatzungen.

Ich bin sicher, dass der Bundesverteidigungsminister nichts lieber täte, als die ungleiche Bezahlung schon morgen zu beenden. Auch ich wünschte mir das. Ich kenne die Argumente des Wehrbeauftragten, mit dem ich vor kurzem gesprochen habe. Ich kenne aber auch die Argumente der Bundesregierung, denen ich mich nicht verschließen kann.

IV.

Während die neue Bundeswehr im Aufbau war, wurde sie mit einer völlig neuen Herausforderung konfrontiert: Die Bundeswehr nahm im Rahmen von Beschlüssen der Vereinten Nationen und der NATO an bewaffneten Einsätzen teil.

Meine ersten Truppenbesuche als Bundespräsident habe ich kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres bei den Soldaten des deutschen KFOR- und SFOR-Kontingents gemacht. Ich war tief beeindruckt davon, mit welchem Engagement und unter welchem Risiko unsere Soldaten sich im ehemaligen Jugoslawien für Frieden, für Menschenrechte und für Menschenwürde einsetzen. In Bosnien-Herzegowina und im Kosovo haben sie dazu beigetragen, dass ein grausamer Krieg mitten in Europa beendet werden konnte. Die Bevölkerung hat sie als Befreier von Terror und nationalistischem Wahn begrüßt.

Ich selber hatte dem NATO-Einsatz im Kosovo mit zerrissenem Herzen zugestimmt. Aber ich bleibe dabei: Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn es mehr als 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges mitten in Europa zu Terror und Vertreibung kommt. Wo Unrecht das Recht verdrängt, wo zynische Gewalt herrscht, da kann der Einsatz militärischer Mittel unvermeidbar werden.

Soldaten der Bundeswehr wirken seit 1992 daran mit, dass die Menschen im ehemaligen Jugoslawien sich Lebensverhältnisse schaffen können, in denen Menschenwürde und Menschenrechte überall und für alle gelten - ganz gleich, ob sie Christen oder Muslime sind.

Krieg, Vertreibung und Zerstörung sind ein Ende gesetzt, gegnerische Parteien werden entwaffnet, Minen geräumt. Humanitäre Hilfe und der Aufbau von Häusern und öffentlicher Infrastruktur machen hoffentlich die Rückkehr der vielen hunderttausend Flüchtlinge möglich, denen vor allem wir Deutsche Zuflucht gegeben hatten.

Der Schutz von Friede und Freiheit, von Recht und Menschenwürde geht uns alle an. Darum bin ich unseren Soldaten für all das dankbar, was sie im ehemaligen Jugoslawien dazu beitragen.

V.

Vor zehn Jahren wären solche Einsätze undenkbar gewesen. Die Koordinaten der Sicherheitspolitik haben sich grundlegend geändert. Auch künftig wird die Landes- und Bündnisverteidigung der Kern des Auftrages unserer Armee bleiben. Aber es ist - und wir dürfen sagen: zum Glück - sehr unwahrscheinlich geworden, dass sie tatsächlich, im wörtlichen Sinne, die Wehr des Bundes sein muss.

Das friedliche Ende des Kalten Krieges hat große Erfolge bei Abrüstung und Rüstungskontrolle möglich gemacht. Schon vor dem Ende des langen und bitteren Ost-West-Konflikts hatte sich immer stärker die Einsicht durchgesetzt, dass Sicherheit in Europa nur miteinander, nicht gegeneinander möglich ist:

  • Schon Ende der achtziger Jahre sind Verträge über das Verbot der nuklearen Mittelstreckenraketen geschlossen worden.
  • Die konventionellen Streitkräfte in Europa wurden erheblich reduziert.
  • Mit den beiden Abkommen START I und START II gelang es, zu Beginn der neunziger Jahre, tiefe Einschnitte in das nukleare Arsenal der beiden großen Atomwaffenstaaten zu vereinbaren.
  • Der Atomwaffensperrvertrag wurde unbefristet verlängert.

    Weitere Meilensteine auf dem Weg kooperativer Sicherheitspolitik sind gefolgt:
  • 1993 das Verbot der chemischen Waffen und 1996 das umfassende Verbot von Atomtests.
  • Mit dem vollständigen Verbot der Antipersonenminen konnte schließlich eine Kategorie von Waffen gebannt werden, die besonders hinterhältig ist und viele, vor allem zivile Opfer verursacht.
    Doch bleibt gerade in diesem Bereich noch viel zu tun: Immer noch gibt es große Probleme bei der Räumung von Minen und leider fehlen noch immer die Unterschriften wichtiger Staaten unter der Ottawa-Konvention.
  • Im November 1999 wurde der Vertrag zur Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa an die veränderten Sicherheitsverhältnisse angepasst.

Das sind eindrucksvolle Erfolge, aber wir müssen den Weg der Abrüstung weitergehen. Wir sollten alles daran setzen, zu weiteren internationalen Vereinbarungen zu kommen, damit wir Sicherheit mit noch weniger Waffen gewährleisten. Genauso wichtig ist es, dass alle Staaten die schon ausgehandelten Abkommen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung ratifizieren. Das gilt vor allem für den Vertrag zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und für das Ende der Atomwaffentests. Hier muss es weitergehen.

Jeder einzelne kleine Schritt muss dabei dem großen Ziel dienen: Eine Welt, in der es keine Massenvernichtungsmittel mehr gibt. Vor allem darf es keine neuen Waffensysteme geben, die gültige, bewährte Rüstungskontrollabkommen in Frage stellen. Das gilt vor allem für den ABM-Vertrag.

VI.

Das Ende des bipolaren Systems hat die Gefahr des großen Krieges gebannt. Aber die Welt ist nicht wirklich friedlich geworden. Und ich füge mit Willy Brandt hinzu: "Der Friede ist sicherer geworden, aber, wie wir leider wissen, nicht sicher." Moderne Sicherheitspolitik übersteigt immer mehr den Rahmen klassischer Verteidigungspolitik, weil wir uns heute Sicherheitsrisiken völlig neuer Art gegenüber sehen, denen mit militärischen Mitteln kaum begegnet werden kann. Sie entstehen aus Entwicklungen, für die ich einige Beispiele nenne:

  • Dem Bevölkerungswachstum in den Ländern des Südens.
  • Der Flucht vor Armut, Elend, Umweltkatastrophen und politischer Verfolgung.
  • Der Internationalen Kriminalität, den Drogen- und Waffenhandel.
  • Dem Fanatismus und dem religiösen Fundamentalismus.
  • Der ungleichen Verteilung von lebenswichtigen Ressourcen wie Wasser, fruchtbarem Boden und Rohstoffen.

All das sind Risiken, die nicht an nationalen Grenzen halt machen und die allein mit nationalen Mitteln nicht abgewendet werden können.

Traditionelle Sicherheitspolitik setzte sich mit den Gefährdungen des Friedens auseinander. Moderne Sicherheitspolitik muss in erster Linie an den Ursachen der Friedensgefährdung ansetzen. Die Sicherheitspolitik der Zukunft beugt vor. Sie bemüht sich, die Strukturen zu verändern oder zu beseitigen, die zu Konflikten führen können. Darum brauchen wir ein neues, ein erweitertes Instrumentarium. Krisen vorzubeugen und Konflikte zu dämpfen, das muss im Zentrum aller politischen Anstrengungen stehen. Streit friedlich zu schlichten und sich darum zu kümmern, dass Konflikte nicht neu aufbrechen - das muss unser Ziel sein.

Wenn es uns nicht gelingt, den neuen Risiken vorbeugend und gemeinsam zu begegnen, dann können sich Spannungen aufbauen, die sich schließlich mit Waffengewalt entladen. Auch in solchen Fällen kann militärischer Einsatz immer nur die ultima ratio sein, wenn alle aussichtsreichen zivilen Mittel ohne Wirkung geblieben sind. Wir dürfen uns an den Einsatz militärischer Gewalt nicht gewöhnen.

Wir müssen den Vätern und Müttern, den Ehefrauen und den Freundinnen unserer Soldaten sagen können: Ja, das ist ein unabweisbarer Einsatz äußerster Mittel, weil kein anderes Mittel es vermocht hat, dieser Krise vorzubeugen, diesen Konflikt zu verhindern oder beizulegen. Darum brauchen wir bessere Instrumente der zivilen Vorbeugung.

Unsere Streitkräfte müssen bei internationalen Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen vielfältigen Anforderungen gerecht werden können. Es kann doch nicht richtig sein, dass es länger dauert und schwieriger ist, eine bescheidene multinationale Polizeitruppe aufzustellen oder eine zivile Katastrophenhilfe zu koordinieren, als für den gleichen Zweck Streitkräfte einzusetzen.

Es kann doch nicht Sinn und Zweck einer Armee sein, Brunnen zu bauen, zivile Krankenhäuser zu betreuen oder Verwaltungs- und Polizeistrukturen zu ersetzen. Auch wenn wir mit unseren Partnern und Verbündeten vereinbart haben, dass unsere Streitkräfte in der Lage sein müssen, entsprechende Aufgaben zu übernehmen, so dürfen wir nicht in jedem Fall wie selbstverständlich auf Dauer für zivile Zwecke auf militärische Kräfte zurückgreifen.

Wir müssen zivile Einrichtungen und Organisationen stärken, anstatt die Bundeswehr für solche Zwecke einzusetzen.

Eine Strategie der Vorbeugung zu entwickeln - das ist die große Herausforderung moderner Sicherheitspolitik. Nur durch sie können wir die falsche Alternative zu vermeiden suchen, dass wir Schuld auf uns laden durch Wegschauen oder dass wir Schuld auf uns laden durch den Einsatz militärischer Mittel, die auch völlig Unschuldige treffen.

Probleme, die zu Konflikten führen können, müssen frühzeitig erkannt werden. Wir müssen an der Lösung der Probleme arbeiten, bevor das Gewaltpotential sich anstaut. Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sind zu allererst zivile Herausforderungen.

Wir müssen aber leider feststellen, dass die Anwendung militärischer Mittel in Extremsituationen die einzig verbleibende Möglichkeit sein kann, Leib und Leben von Menschen zu schützen, und die notwendigen Voraussetzungen für eine politische Lösung von Konflikten erst zu schaffen.

VII.

Nur mit internationalen Lösungen, die weit über militärische Mittel hinausreichen, können wir den neuen Risiken begegnen. Gustav Heinemann hat davon gesprochen, dass der Friede der Ernstfall sei. Erst nach dem Ende der Blockkonfrontation spüren wir die wirklich prophetische Kraft dieses Satzes. Damit wir diesem Ernstfall gerecht werden, sind einige Voraussetzungen unverzichtbar. Zu ihnen gehören Demokratie und Menschenrechte, eine leistungsfähige Marktwirtschaft und sozialer Ausgleich, eine aktive Nord-Süd-Politik und der Dialog zwischen Kulturen und Religionen.

Demokratie erlaubt Gesellschaften "zu atmen". Alle Erfahrung lehrt uns, dass Demokratien keine Kriege untereinander führen. Und die Demokratie ist die beste Gewähr für den Schutz der Menschenrechte und für eine wirtschaftliche Entwicklung, von der möglichst viele Menschen und nicht nur wenige profitieren. Eine Wirtschaftsordnung, die unternehmerische Freiheit mit sozialem Ausgleich verbindet, wird am besten Spannungen und Konflikte verhindern, die aus Ungerechtigkeit und Benachteiligung herrühren.

Bessere wirtschaftliche und soziale Bedingungen und bessere Umweltbedingungen, also lebenswerte Verhältnisse in den Entwicklungsländern wirken der Entwurzelung der Menschen entgegen und sind auf Dauer das wirksamste Mittel gegen unkontrollierte Migration, gegen die Flucht vor Not und Elend.

Der Dialog zwischen unterschiedlichen Kulturen schließlich kann Feindbilder und Vorurteile abbauen, er kann Gemeinsamkeiten der Kulturen aufdecken und auf diese Weise Konflikten vorbeugen und Konflikte zivilisieren.

VIII.

Die Friedens- und Sicherheitspolitik wird auch für die heute absehbare Zukunft auf militärische Mittel nicht verzichten können. Nur eine Politik, die über leistungsstarke, einsatzfähige und motivierte Streitkräfte verfügt, kann die zivilen Instrumente moderner Sicherheitspolitik so selbstbewusst und so erfolgreich nutzen, wie das nötig ist.

Mit den Rahmenbedingungen haben sich auch die Aufgaben unserer Bundeswehr verändert. Das muss Folgen haben für die Struktur, für den Umfang, für die Ausrüstung und die Ausbildung. Noch sind Strukturen und Ausrüstung der Bundeswehr zu sehr vom überholten Ost-West-Szenario geprägt. Das Reformprojekt, dessen Grundlinie Sie hier in Leipzig diskutieren, soll die Weichen für eine Bundeswehr stellen, die auf der Höhe der Zeit ist. Diese Reform ist eines der am tiefsten greifenden staatlichen Modernisierungsvorhaben, das in unserem Lande jemals angepackt wurde.

Das wird den Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr viel abverlangen. Bei vielen kleinen Fragen, die für den Einzelnen große Bedeutung haben können, geht es auch darum, neue Orientierung zu finden in einer Welt, in der der Wandel die einzige Konstante zu sein scheint und in der sich der Alltag und das Berufsbild des Soldaten einschneidend verändern.

Wir dürfen von den Soldaten und von den zivilen Mitarbeitern Flexibilität erwarten und auch fordern. Sie haben aber auch Anspruch auf politischen und gesellschaftlichen Rückhalt, auf Verständnis für ihre persönliche Situation und auf eine Ausstattung, die ihren Aufgaben entspricht.

IX.

Die Bundesregierung hat im Juni dieses Jahres die ersten Beschlüsse zur Zukunft der Bundeswehr gefasst. Das war wichtig, damit die dringend erforderliche Reform zügig beginnen kann. Mit der Bundesregierung bin ich der Auffassung, dass diese Entscheidungen zugleich Grundlagen für eine breite Diskussion über Fragen deutscher und europäischer Sicherheitspolitik sein sollen. Mir ist diese Diskussion außerordentlich wichtig. Warum ist das so? Wenige politische Entscheidungen haben so weitreichende Auswirkungen für unsere ganze Gesellschaft. Es geht ja nicht nur um die Höhe des Verteidigungsetats und um die Zahl der Soldaten.

Damit wir zu guten Ergebnissen kommen, brauchen wir eine breit angelegte Diskussion:

  • Es geht um die Sicherheit unseres Landes und um unsere Rolle im nordatlantischen Bündnis,
  • es geht um das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und um eine möglichst breite Verständigung über Aufgaben, Finanzierung, Ausrüstung und personelle Stärke der Streitkräfte,
  • es geht um die Zukunft der Wehrpflicht,
  • es geht um die Lebensplanung der Soldaten, der Zivilbediensteten der Bundeswehr und ihrer Familien. Sie haben Anspruch darauf, rasch Gewissheit über ihre Zukunft zu bekommen.
  • Es geht auch um Standortfragen mit regionalpolitischer Bedeutung,
  • es geht um die Rolle der Frauen in der Bundeswehr. Ich bin zuversichtlich, dass die Bundeswehr auch bei der Integration von Frauen beweisen wird, dass sie offen und anpassungsfähig, tolerant und modern ist.
  • Nicht zuletzt geht es um die Frage, welche Auswirkungen strukturelle Veränderungen der Bundeswehr für den Zivildienst haben. Wie können wir sicherstellen, dass die Arbeit der vielen sozialen Dienste, Verbände und Institutionen im Interesse hilfsbedürftiger Menschen auch künftig geleistet werden kann?


Diese Fragen verdienen weit mehr Aufmerksamkeit als bisher. Ich wünschte mir, dass sich daran nicht nur Parteien und Verbände, nicht nur die Medien und die Bundeswehr, nicht nur der Zivildienst und die Friedensforschung beteiligten, sondern auch möglichst viele Bürgerinnen und Bürger.

Manchmal staune ich darüber, wie wenig in der breiten Öffentlichkeit über Grundfragen der Sicherheitspolitik diskutiert und auch gestritten wird. In den zurückliegenden zehn Jahren hat sich das deutsche sicherheitspolitische Handeln grundlegend gewandelt. Und darum frage ich uns: Haben wir wirklich alles getan, damit ein tragfähiger gesellschaftlicher Konsens entsteht, den wir bei kaum einer Frage so brauchen wie hier? Nach meinem Eindruck sind diese Diskussionen und ihre bisherigen Ergebnisse in vielen Gruppen unserer Gesellschaft nicht in dem Maße angekommen, wie das bei diesem ernsten, existentiellen Thema notwendig wäre.

Sind sicherheitspolitische Weichen in den vergangenen zehn Jahren nicht zu oft durch die Rechtsprechung oder durch sogenannte Sachzwänge gestellt worden, statt durch politische Gestaltung und Entscheidung? Die künftige Ausrichtung und vor allem der Einsatz unserer Streitkräfte brauchen die breite Zustimmung der Gesellschaft.

Dem Anspruch der Gesellschaft entspricht der Anspruch der Bundeswehr: Wenn Soldaten aus unserem Land, das im Frieden lebt, Leib und Leben riskieren, um in anderen Ländern Menschenwürde und Menschenrechte zu verteidigen, dann muss die Gesellschaft hinter ihnen stehen. Und sie muss zu ihnen stehen, wenn sie verletzt und gezeichnet von ihrem Einsatz nach Hause zurückkehren. Sie muss den Familien und den Angehörigen zur Seite stehen, wenn Soldaten in einem solchen Einsatz ihr Leben verlieren.

Unsere Soldaten müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Einsätze nicht nur rechtmäßig, sondern auch ethisch legitimiert sind. Sie müssen willens und befähigt sein, unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit für Frieden, für Freiheit und für Menschenwürde zu kämpfen. Diese Bereitschaft verdient die Achtung und die Unterstützung der gesamten Gesellschaft.

Die Bundeswehr von morgen Schritt für Schritt neu aufzubauen, das ist eine gewaltige Herausforderung an Sie, die Kommandeure, und an alle, die in der Bundeswehr Verantwortung tragen. Ihre Fähigkeit, Menschen zu führen und zu motivieren, wird mehr denn je gefordert sein.

Darum bitte ich Sie: Sprechen Sie mit Ihren Soldaten und Zivilbediensteten über die Ziele und über die Auswirkungen der Reform. Werben Sie auch bei den Familien um Verständnis dafür, dass die Bundeswehr so grundlegend verändert wird. Je besser das gelingt, desto erfolgreicher kann die Reform sein.

Bei allen Veränderungen wird die Bundeswehr auch in Zukunft auf den beiden Prinzipien aufbauen, die die Armee der deutschen Demokratie so grundlegend von allen Streitkräften der Vergangenheit unterscheidet: Der "Inneren Führung" und dem "Staatsbürger in Uniform".

Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Auf der Grundlage ihrer bewährten Prinzipien und in Kooperation mit unseren Verbündeten und Partnern leisten unsere Streitkräfte dazu einen wichtigen Beitrag.

Ich danke den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr, dass sie sich für dieses Ziel einsetzen. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand und ich wünsche Ihnen Erfolg bei der großen Aufgabe, die Bundeswehr des 21. Jahrhunderts zu gestalten.