Rede beim Gründungskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di am 19. März 2001 in Berlin

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 19. März 2001

Anrede

I.

Vor 100 Jahren ist in Mailand der bedeutendste italienische Komponist gestorben.

Giuseppe Verdi hat mit seiner Musik europäische Musikgeschichte geschrieben.

Heute stehen wir an der Wiege einer neuen Gewerkschaft, der größten Einzelgewerkschaft der Welt. Ver.di wird zwar keine Musikgeschichte schreiben, aber hoffentlich deutsche Gewerkschaftsgeschichte.

Ver.di war keine leichte Geburt. Bei einem Kind dieser Größe war das auch nicht anders zu erwarten.

Ver.di soll zeigen: Die Gewerkschaftsbewegung ist und bleibt eine moderne Bewegung und kein Relikt von gestern, wie manche gerne glauben machen wollen.

Der Zusammenschluss, den Sie besiegeln, ist eine großartige Leistung. Ich weiß: viele haben über ihren Schatten springen müssen, um eine Organisation aufzugeben, die ihnen in Jahren oder gar Jahrzehnten an's Herz gewachsen ist. Ver.di ist ein Sieg der Vernunft.
Hinter Ihnen liegen jahrelange Bemühungen und harte Arbeit. Auf das Ergebnis dürfen Sie stolz sein, weil jeder und jede von Ihnen daran mitgewirkt hat.

Lassen Sie mich aus aktuellem Anlass hinzufügen - auch auf die Gefahr hin, dass das altmodisch klingen mag -: Man kann nur stolz auf etwas sein, wozu man selber beigetragen hat.

Ich bin stolz auf das, was wir in Deutschland in den Jahren seit 1949 und nach 1989 an Freiheit und Gerechtigkeit in Solidarität aufgebaut haben. Ich bin gerne Deutscher wie alle deutschen Patrioten und deshalb lehne ich Nationalismus ab.

Ein Patriot ist jemand, der sein eigenes Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.

Hüten wir uns daher vor allen nationalistischen Tönen - genauso wie vor der Versuchung, den politischen Gegner dadurch herabzusetzen, dass man ihn in die Nähe rechtsextremer Vorstellungen rückt!

II.

Ohne die Gewerkschaften wäre das deutsche Wirtschaftswunder nicht möglich gewesen, ohne die Gewerkschaften hätten wir heute nicht das Wohlstandsniveau für viele, um das uns andere Länder beneiden.

Heute glauben manche, die Gewerkschaften seien nur so etwas wie Tarifmaschinen. Das ist falsch und dass das falsch ist, das sollte man auch häufiger sagen.

Gewerkschaften sind ein Zusammenschluss zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen von Arbeitnehmern; sie sind aber auch gesellschaftliche Integrationsagenturen. Sie haben nach meinem Verständnis eine doppelte Aufgabe. Sie sind Ordnungsfaktor und Gegenmacht zugleich.

  • Sie kanalisieren Konflikte und tragen sie aus.
  • Sie stellen Forderungen und schließen Kompromisse.
  • Sie mobilisieren Mitglieder und binden sie.

Die jüngste Diskussion um die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes aus dem Jahr 1971 erscheint mir manchmal wie eine geschichtslose Debatte.

Gewiss kann und muss man über Details fast jeder Gesetzesnovelle streiten. Aber genauso gewiss ist, dass die Mitbestimmung große Erfolge gebracht hat und ein grundlegendes Element des sozialen Friedens in unserem Land ist, um den uns viele Nachbarn beneiden. Auch das sollte man manchmal deutlich sagen, damit das Bewusstsein dafür nicht verloren geht.

Ich zitiere aus einem Interview des Unternehmers Randolf Rodenstock vom 10. Dezember 2000:
"Es ist unbestritten: Mitbestimmung muss sein. Sie stellt einen wesentlichen Faktor für das gedeihliche Miteinander in den Betrieben dar. Dabei hat die Mitbestimmung die Rolle des Arbeitnehmers grundlegend verändert: Weg vom 'Underdog', dem Befehlsempfänger, hin zum verantwortlichen Mitgestalter und Entscheidungsträger im Betrieb."

Gewerkschaftliche Erfahrung und das Wissen der Arbeitnehmervertretung sind unverzichtbar für die Arbeitnehmer, und davon profitieren auch moderne Unternehmen.

Manch einer muss aber wohl noch oder wieder lernen, daß Gewerkschaften keine Schlechtwetterveranstaltung sind. Und manche Arbeitgeber müssten mit dem Vorurteil aufräumen, Gewerkschaften hemmten und bremsten nur.

Gewerkschaften sind im Interesse der Arbeitsplatzsicherung genauso am Bestand und am Erfolg eines Unternehmens interessiert wie die Eigentümer.

Ich kenne viele Beispiele, in denen die Rettung eines Unternehmens nur durch die gemeinsame Anstrengung von Eigentümern, Betriebsräten und Gewerkschaften möglich gewesen ist. Das gilt für viele große Unternehmen, aber für noch mehr kleinere.

Damit dieses Zusammenspiel auch in Zukunft erfolgreich funktioniert, brauchen wir aber nicht nur leistungsfähige und erfolgreiche Unternehmen, wir brauchen auch handlungsfähige Gewerkschaften.

III.

In den vergangenen Jahren war häufig zu hören, dass die jungen flexiblen Spezialisten in der "New Economy" keine Interessenvertretung brauchten. Sie seien selber ihres Glückes Schmied.

Gewiss: In manchen dieser Unternehmen wird außerordentlich gut bezahlt, sie bieten hervorragende Aufstiegsmöglichkeiten und die Chance, die eigene Arbeit stark selber zu gestalten.

Im vergangenen Jahr haben wir aber erlebt, dass auch neu gegründete und schnell gewachsene Unternehmen des neuen Marktes Anpassungsprobleme und Existenzsorgen bekommen können.

Das hat auch zu einer ganz neuen Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften in der "New Economy" geführt.
Auf einmal waren die Beschäftigten an einer Interessenvertretung interessiert, und es war ein sehr klassisches Thema, das sie bewegte: Die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes.

Auch hier ist ganz offenbar die Schutzfunktion der Gewerkschaften gefragt. Sie müssen sich aber auf die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe von Arbeitnehmern einstellen.

Die Arbeitsplatzsicherheit in den stark durch Wissen und Technik geprägten Unternehmen hängt eng mit der individuellen Qualifikation zusammen.
Darum gewinnen alle Fragen der Fortbildung und der Weiterbildung hier noch größere Bedeutung als in anderen Bereichen der Wirtschaft. Auch Fragen der sozialen Sicherung für Beschäftigte, die sich zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung bewegen, brauchen neue Antworten.

IV.

Der Zusammenschluss von fünf Einzelgewerkschaften zu Ver.di ist die folgerichtige Konsequenz aus zwei wichtigen Entwicklungen:

  • aus dem Weg Deutschlands in die Dienstleistungsgesellschaft und
  • aus der gesellschaftlichen Tendenz, dass Einzelinteressen immer stärker in den Vordergrund drängen.

Darunter leiden Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Verbände gleichermaßen.
Betroffen sind fast ausnahmslos alle Großorganisationen, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen und nicht nur Einzelziele verfolgen oder Partikularinteressen vertreten.

Gerade wegen ihrer umfassenden Verantwortung sehen sich die Großorganisationen häufig in der Pflicht, Kompromisse zu schließen, die manchmal schmerzhaft, aber im Grunde vernünftig sind. Das gehört zu ihren Aufgaben. Aber das ist auch Grund dafür, dass sie häufig bezichtigt werden, nur einen "Kuhhandel" zu betreiben.

Es gibt aber eben nicht nur faule Kompromisse - die gibt es gewiss -, es gibt auch faule Kompromisslosigkeit.

Darum bin ich der Auffassung, dass wir alles daran setzen müssen, die traditionellen großen Organisationen in unserer Gesellschaft wieder zu stärken. Das kann aber nur gelingen, wenn die großen Organisationen sich verändern: Verändern, nicht verleugnen. Sie müssen moderner werden und sich der veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeit stellen.
Sie dürfen nicht warten, bis die Menschen zu ihnen kommen, sie müssen die Menschen da abholen, wo sie stehen.

Das ist auch für die Gewerkschaften eine außerordentlich große Herausforderung.

V.

Tatsache ist, dass die Gewerkschaften heute nicht mehr in dem Maße Spiegelbild der Gesellschaft sind, wie sie das sein sollten und ja auch sein wollen.

  • 60 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sind Arbeiter, aber nur 35 Prozent aller Beschäftigten sind Arbeiter.
  • 30 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sind Frauen, aber inzwischen sind schon mehr als 40 Prozent aller Beschäftigten Frauen.
  • Das Durchschnittsalter der Gewerkschaftsmitglieder liegt deutlich über dem aller Beschäftigten.

Das schafft Probleme, die sich nicht von heute auf morgen lösen lassen.

Dafür genügt nicht die richtige Beschlusslage - jedenfalls nicht allein.

Die Gewerkschaften müssen mit ihrer praktischen Arbeit und mit ihren Beiträgen zur gesellschaftspolitischen Diskussion deutlicher machen, dass sie kein Verein wie viele andere sind und doch auch vieles von dem bieten, was Menschen heute von einem guten Verein erwarten.

Dienstleistungen gewinnen auch in Deutschland wirtschaftlich und gesellschaftlich immer größere Bedeutung. Die Gewerkschaften finden aber in den Dienstleistungsberufen bis heute deutlich weniger Zustimmung und Mitglieder als in der Industrie.

Zwischen 1985 und 1998 stieg der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor von 53,6 Prozent auf 62,3 Prozent.
Die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe ist in dieser Zeit um 4,2 Millionen gestiegen. Daran erkennt man einen gewaltigen Strukturwandel, auch wenn es hier natürlich auch statistische Verzerrungen gibt: Viele Industriebetriebe haben Betriebsteile ausgegliedert, die nun - statistisch gesehen - nicht mehr im industriellen Bereich geführt werden, sondern bei den Dienstleistungen.

Das zeigt übrigens, wie eng der Dienstleistungssektor mit dem produzierenden Sektor in unserem Land zusammenhängt und wie falsch es gerade in Deutschland wäre, industrielle Produktion und Dienstleistungen gegeneinander zu setzen.

Die Dienstleistungen werden weiter zunehmen. Darum kann ich Sie auch nur bestärken:
Deutschland braucht auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft eine funktionsfähige, eine kraftvolle Dienstleistungsgewerkschaft. Die Strukturen der Vergangenheit entsprechen nicht mehr den heutigen Bedürfnissen.

Ver.di ist die richtige Antwort der Gewerkschaften auf die zunehmende Dienstleistungsorientierung der Wirtschaft. Aber Sie hier wissen am besten, dass die neue Gewerkschaft auch ein noch nie da gewesenes Experiment ist. Nur wenn sich alle Beteiligten mit ganzer Kraft engagieren, wird das neue Ganze mehr und besser werden als die Summe seiner Teile.

VI.

Beim Thema Dienstleistungen hört und liest man häufig den Vorwurf, Deutschland sei eine Dienstleistungswüste.

Richtig ist gewiss, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern Nachholbedarf bei den Dienstleistungen hat. Das gilt quantitativ. Das gilt qualitativ.

Ich stimme auch denen zu, die sagen, man könne in Deutschland wüste Erfahrungen mit Dienstleistungen machen. Auch - oder vielleicht gerade - da , wo sie uns in der modernsten Form der Kundenwerbung und Kundenbetreuung begegnen: Bei den Call-Centern.

Da kann man manchmal den Eindruck gewinnen, es gehe mehr darum, Kunden abzuwimmeln als Kunden zu helfen.

Wer aber einmal auf Handwerker und Reparaturdienste in anderen Ländern angewiesen war, der sieht das eigene Land mit ganz neuen Augen.

Das gilt übrigens nicht nur für die Privatwirtschaft, sondern auch für die vielfältigen öffentlichen Dienstleistungen. Hier hat sich bei uns in den letzten Jahren vieles zum Besseren gewendet.

Genehmigungsverfahren brauchen zum Beispiel heute deutlich weniger Zeit als noch vor einigen Jahren und - das unterscheidet Deutschland wohltuend von manch anderem Land - die einmal erteilten Genehmigungen sind verlässlich. Das ist ein nicht zu unterschätzender Standortvorteil.

Nach meinem Eindruck ist die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen auch für die Bürgerinnen und Bürger in den letzten Jahren wesentlich besser geworden.

Wir scheinen auf gutem Weg, nach vielen Jahrzehnten Kurt Tucholsky zu widerlegen, der über das Verhältnis der Deutschen zur Bürokratie einmal geschrieben hat:
Der deutsche Traum: Hinter einem Schalter sitzen.
Der deutsche Albtraum: Vor einem Schalter stehen.

Ich meine nicht, dass man nicht noch vieles besser machen kann. Man muss es sogar. Aber so schlecht, wie sie manchmal gemacht wird, so schlecht ist die öffentliche Verwaltung bei weitem nicht.

Die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst haben diese Entwicklung alles in allem nicht gebremst, im Gegenteil: Sie haben eigene Ideen eingebracht und die Modernisierung aktiv unterstützt. Ich habe keinen Zweifel, dass Ver.di diesen Weg weitergehen wird. Davon werden wir alle profitieren.

Eine Aufgabe wird es sein, die Defizite zu beseitigen, die es bei den personenbezogenen Dienstleistungen in unserem Land in der Tat gibt. Hier haben wir noch einigen Nachholbedarf.

VII.

Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di organisiert Arbeitnehmer, die Dienstleistungen erbringen und sie bietet ihren Mitgliedern selber Dienstleistungen.

Die Spannbreite der neuen Gewerkschaft ist außerordentlich groß. Die Mitgliederstruktur ist sehr heterogen: Da gibt es ganz unterschiedliche Lebenslagen, Lebensstile und Arbeitsbedingungen. Es wird gewiss keine leichte Aufgabe werden, diese ganz unterschiedlichen Interessenlagen zu bündeln und zugleich ein unverwechselbares Profil zu gewinnen.

Das setzt die Fähigkeit und den Willen zum Kompromiss in der eigenen Organisation voraus und die Bereitschaft, solidarisch für die gemeinsam festgelegten Ziele zu arbeiten.

Je stärker Ver.di und den Gewerkschaften insgesamt die Integrationsleistung im eigenen Bereich gelingt, umso glaubwürdiger und umso wirkungsvoller können die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber privaten und öffentlichen Arbeitgebern vertreten.

VIII.

Es gibt viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen, auf die wir Antworten finden müssen, die auf der Höhe der Zeit sind: Antworten, die die unternehmerische Initiative fördern, die Interessen der Arbeitnehmer wahren und der ganzen Gesellschaft dienen.

Das gilt zum Beispiel für die Frage nach der Zukunft des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses.

Mit Blick auf manche öffentliche Debatte sehe ich hier durchaus Anlass, vor der geistigen Rückkehr zum Bild einer Tagelöhner-Gesellschaft oder zu einer Art moderner Arbeitsnomaden zu warnen.

Übrigens: Wer sich mit den Tatsachen beschäftigt, der stellt fest, dass die tarifvertraglich gestaltete Vollzeitarbeit noch immer für eine klare Mehrheit der Beschäftigten gilt.

Seit Ende der achtziger Jahre hat die Zahl der Vollzeitbeschäftigten nicht abgenommen, sondern zugenommen. Ihr relativer Anteil allerdings hat abgenommen, vor allem, weil die Teilzeitbeschäftigung stark gestiegen ist.

1988 haben 11,3 % aller Beschäftigen Teilzeit gearbeitet. 1998 waren es 17,3 %.
Und wir alle wissen, dass dieser Anteil in anderen europäischen Ländern noch deutlich höher liegt.
Am höchsten liegt der Anteil der Teilzeitbeschäftigten bei den Dienstleistungen.
Hier waren 1998 25,4 Prozent, in der Industrie dagegen lediglich 9,5 Prozent.

Teilzeit hatte und hat auch heute noch bei manchen einen Beigeschmack: Als wolle sich jemand nicht voll engagieren und schaffe nur mit halber Kraft.
Das ist ein Irrtum.

Die Verkürzung der allgemeinen Arbeitszeit ist gewiss nicht zu Ende.
Sie darf aber weder Ersatz noch Hindernis sein für viele unterschiedliche individuelle Lösungen, die der jeweiligen Lebenssituation, den Möglichkeiten und den Wünschen von Frauen und Männern entsprechen.

Wir brauchen neue, intelligente Formen der Arbeitsorganisation, die das Interesse der Unternehmen und Verwaltungen an mehr Effizienz und das Interesse der Beschäftigten an mehr Zeitsouveränität miteinander verbinden.

Dass das funktionieren kann, dafür gibt es schon heute gute Beispiele.

Ich hoffe, dass das neue Gesetz zur Förderung der Teilzeit dazu beiträgt, für die Beschäftigten und für die Unternehmen Flexibilität und Sicherheit miteinander zu verbinden.
Wahlarbeitszeit für möglichst viele sollte das Ziel sein.

Wir brauchen ein neues Gleichgewicht zwischen den Interessen der Beschäftigten und den betrieblichen Erfordernissen.
Wir brauchen mehr Flexibilität innerhalb eines festen Rahmens.
Stabilität, Verlässlichkeit und Sicherheit sind grundlegende Voraussetzungen für die Bereitschaft zur Veränderung.

Unsicherheit und Unberechenbarkeit in den beruflichen Verhältnissen wirken dagegen als Veränderungshindernis und als Innovationsbremse.

IX.

Nicht erst seit Einführung der Green-Card wissen wir: Die weiterhin viel zu hohe Arbeitslosigkeit ändert nichts daran, dass in bestimmten Wirtschaftsbereichen Fachleute, besonders qualifiziert ausgebildete Arbeitnehmer fehlen.

Unsere Antwort auf dieses Problem muss zunächst und vor allem anderen lauten:
Mehr für Ausbildung, mehr für Qualifizierung im eigenen Land, in den Unternehmen tun. Vom lebenslangen Lernen nicht nur reden, sondern es organisieren.
Wir brauchen Spitzenleistungen, aber wir dürfen darüber die Mehrheit nicht vernachlässigen, und wir müssen all jene besonders fördern, die sich mit dem Lernen und Begreifen schwerer tun als andere.

Gute Ausbildung, hervorragende Qualifikation reichen aber nicht aus, wenn andere notwendigen Bedingungen in der Gesellschaft nicht stimmen.

Das gilt vor allem für die beruflichen Chancen von Frauen.Noch nie waren die Frauen so gut ausgebildet und so gut auf den Beruf vorbereitet. Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass nicht nur die Abiturnoten der jungen Frauen im Durchschnitt besser sind. Auch im Beruf leisten immer mehr Frauen hervorragende Arbeit.

In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird die Zahl der Frauen und Männer im erwerbsfähigen Alter zurückgehen.

Dann können wir es uns noch weniger als heute leisten, dass viele gut ausgebildete Frauen nicht erwerbstätig sind, obwohl sie hervorragend ausgebildet sind und erwerbstätig sein wollen.

In anderen Ländern ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen weit höher als bei uns.
Andere Länder, z. B. die skandinavischen, zeigen uns auch, dass sich Berufstätigkeit und Kindererziehung keineswegs ausschließen.
Berufstätigkeit und Kinder - das funktioniert aber nicht von allein. Dafür muss in Deutschland mehr getan werden.

Wir in Deutschland leisten uns die wirtschaftlich und gesellschaftlich denkbar schlechteste Kombination: Geringe Berufstätigkeit von Frauen und besonders wenige Kinder.

Ich halte es nicht für ein Ziel des Staates, die Zahl der Geburten zu erhöhen.
Ich halte es aber sehr wohl für eine ganz wichtige Aufgabe des Staates, vom Steuerrecht bis hin zur Kinderbetreuung dafür zu sorgen, dass Frauen und Männer ihren Wunsch, Kinder zu haben, erfüllen können, ohne sich gesellschaftlich ins Abseits zu stellen.

Das halte ich für gesellschaftspolitisch richtig, und das wird in Zukunft auch volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich immer wichtiger.
Die Unternehmen erkennen mehr und mehr, dass sie auf die Qualifikationen und auf die Talente der Frauen nicht verzichten können.

Wir sollten nicht mehr steuerlich die kinderlose Ehe, sondern durch mehr Kindergeld und bessere öffentliche Angebote die Familien mit Kindern fördern.
Wir brauchen eine bessere Infrastruktur vom Hort bis zur Ganztagsschule.
Das sind beides öffentliche Aufgaben, damit Frauen und Männer Beruf und Familie besser miteinander vereinbaren können.
Dazu müssen vermehrte Anstrengungen der Unternehmen kommen, vor allem bei der flexibleren Arbeitszeitgestaltung.

Wenn die Gewerkschaften und die Betriebsräte sich in dieser Frage besonders engagieren, dann leisten sie einen ganz wichtigen Beitrag für eine kinder- und familienfreundlichere Gesellschaft.

X.

Für eine gute Zukunft brauchen wir innovative Unternehmer, dynamische Gewerkschaften und Rahmenbedingungen, die Wachstum und Wohlstand in sozialer Sicherheit und ökologischer Verantwortung fördern.

Die neue Gewerkschaft, die heute gegründet wird, kann und sollte dazu ihren Beitrag leisten. Dabei wünsche ich Ihnen viel Erfolg - im Interesse Ihrer Mitglieder, im Interesse aller Arbeitnehmer und im Interesse unseres ganzen Landes.