Grußwort an die Teilnehmer des Kongresses "kunst.macht.politik" der Kulturpolitischen Gesellschaft

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 7. Juni 2001

Worüber reden kluge Leute in Deutschland gern, wenn sie Zeit haben? Über grundsätzliche Fragen. Welche grundsätzliche Frage war zu vielen Zeiten besonders beliebt? Die Frage nach dem Zusammenhang von oder dem Konflikt zwischen Geist und Macht. Unendlich viel Kluges und weniger Kluges ist dazu schon gesagt worden. Das will ich jetzt nicht fortsetzen. Immerhin zeigt die Unermüdlichkeit, mit der über die Begriffe Geist und Macht geredet werden kann, so etwas wie einen immerwährenden Konflikt an.

Nun hören sich die Begriffe "Geist" und "Macht" aus unterschiedlichen Gründen heute etwas antiquiert an. Man könnte sie vielleicht ersetzen durch die Begriffe Kultur und Politik.

Auch in dieser Gegenüberstellung kann man zweifellos Dissonanzen, Eigengesetzlichkeiten, ja Konflikte und Gegensätze schnell erkennen und benennen. Aber offensichtlich gibt es hier auch eine Schnittmenge, gibt es zumindest gemeinsame Interessen. Sonst wäre der Begriff Kulturpolitik ja ein Widerspruch in sich - und sonst könnte eine kulturpolitische Gesellschaft nicht existieren.

Die kulturpolitische Gesellschaft existiert und sie schafft es, wie man sehen kann, gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung, mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Akademie der Künste, einen großen kulturpolitischen Bundeskongress auf die Beine zu stellen. Dieser Kongress hat, wie ich höre, so viel Interesse gefunden, dass über hundert Teilnahmewünsche gar nicht mehr berücksichtigt werden konnten.

Es gibt also Kulturpolitik - und es gibt ein großes Interesse daran.

Großes Interesse ehrt den Veranstalter, weil er augenscheinlich ein wichtiges Thema getroffen hat. Großes Interesse kann allerdings auch ein Krisensymptom sein: es kann anzeigen, dass es viele Fragen gibt und ein Bedürfnis nach Orientierung. Es zeigt an, dass man miteinander diskutieren will und muss, weil etwas sich nicht oder nicht mehr von selber versteht.

So ist es wohl, wenn ich mir Programm und Fragestellung des Kongresses ansehe. Sie haben die drei Begriffe: Kunst, Macht, Kulturpolitik durch Punkte voneinander getrennt, als seien es abgeschlossene Hauptsätze, als stünden sie beziehungslos nebeneinander. Sie wollen versuchen, sie in eine neue Beziehung zu setzen. Kulturpolitik sucht ein neues Selbstverständnis und eine neue Orientierung.

Ich bin froh darüber, dass das so ist. Ich bin froh, dass Sie miteinander und mit den hochkarätigen Referenten auf die Suche gehen nach einer neuen Ortsbestimmung.

Ich bin überzeugt davon, dass die Fragen, die Sie sich stellen für uns alle wichtig sind. Sie dürfen nicht nur Themen einer kleinen Gruppe von Insidern und im Feuilleton sein. Was immer Kulturpolitik im einzelnen sein mag: Wir brauchen sie doch deshalb, weil die Kultur bei den Leuten ankommen soll, bei möglichst vielen.

Zugänge zu öffnen: Das ist für mich der - in allem Wandel - bleibende Auftrag der Kulturpolitik.

Welche Zugänge brauchen wir? Welche müssen wir erhalten, welche müssen wir neu eröffnen?

II.

Wir brauchen den Zugang zum Erbe.

Das Verschwinden des bildungsbürgerlichen Kanons wird nun schon ziemlich lange festgestellt. Es gab Zeiten, da wurde dieses Verschwinden eher begrüßt oder gar betrieben, heute wird es eher beklagt. Niemand wird diesen Kanon wiederherstellen können. Aber ich glaube, es bleibt eine Pflicht, zum Beispiel den Zugang zu den großen Werken der dramatischen Kunst immer wieder zu öffnen. Sie sind ja nicht einfach von gestern, in vieler Hinsicht verhandeln sie immer noch unsere Sache: unsere Probleme und Fragen, unsere Hoffnungen und Sehnsüchte.

Ich kenne die Schwierigkeiten der Stadttheater. Vom Geld will ich heute Abend einmal gar nicht sprechen. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, die Menschen immer wieder zu begeistern, ins Theater zu gehen. Ich weiß aber von vielen, dass sie die großen Stücke einfach einmal sehen und kennen lernen wollen - die Stücke, und nicht in erster Linie phantasievolle Dekonstruktionen, die manche Theatermacher aus ihnen machen.

Natürlich ist der Satz "Keine Experimente!" als Motto für die Kulturpolitik ganz ungeeignet. Aber ein Kunstbegriff, der in erster Linie Überraschung, Schock und Provokation bedeutet, ist, wenn mich nicht alles täuscht, inzwischen doch etwas angestaubt.

Zugang zum Erbe ermöglichen: Das bedeutet für mich immer noch und immer wieder, dass Maßstäbe erkennbar werden. Es geht weder um Musealisierung noch um Beweihräucherung. Es geht in den Begegnung mit den alten Meistern - und ich fasse darunter jetzt Dramatiker, Poeten, Komponisten, bildende Künstler und Filmemacher zusammen - um das Entdecken der großen Form, der gelungenen Gestalt und eines Sinns, der sich immer wieder neu erschließt.

Kino macht dumm, meinte einst Theodor W. Adorno. Da hat er sich - das zeigen die vielen großen Filme, die es gibt - getäuscht. Auch Unterhaltung macht nicht per se dumm. Aber es gibt Formen von Unterhaltung, die man uns auf allen Kanälen anbietet, die sind dumm und die machen dumm. Um das zu durchschauen, muss man allerdings das Bessere kennen gelernt haben. Wer einen Zugang zum großen künstlerischen Erbe gefunden hat, der hat auch einen Zugang zu Maßstäben, einen Zugang zu kritischem Bewusstsein, zu einem eigenen, aufgeklärten Urteilsvermögen.

III.

Wir brauchen, zum zweiten, auch den Zugang zum Neuen.

Zur Kulturförderung und zur Kulturpolitik gehört selbstverständlich die Förderung des Neuen, die Entdeckung dessen, was sich noch nicht "durchgesetzt" hat, wie man sagt. Es ist wichtig für die "Produzenten", aber auch für das Publikum, dass Neues entstehen kann.

Das Neue, das trägt und (vielleicht) bleiben wird, die Avantgarde, die wirklich zukunftsweisend ist: die sind gewiss nicht einfach zu finden. Dazu sind die Milieus heute zu unterschiedlich, die Szenen zu unüberschaubar, die Subkulturen zu zahlreich.

Dazu kommt: Wo die Klassiker nicht mehr bekannt sind, wird auch der Antiklassiker obsolet. Wo es den Bürger nicht mehr gibt, wird der Bürgerschreck zur komischen Figur.

Vielen Dingen, die eine ganze Zeit lang Kennzeichen von künstlerischer Avantgarde waren, begegnen wir heute auf ganz anderen gesellschaftlichen Feldern:

  • "Veränderung von Sehgewohnheiten" lehren uns die Naturwissenschaften fast täglich,

  • "Innovation" ist zu einem Schlagwort der Wirtschaft geworden,

  • die Diskussion um ethische und moralische Grenzen wird durch Reproduktionsmedizin eher eröffnet als durch "sittenwidrige" Theaterstücke

  • und bei "Tabuverletzung" und "Provokation" denken wir heute leider eher an Skinheads und Neonazis als an Aktionskünstler.

Was ist also Avantgarde heute in einer beschleunigten Zeit? Was bedeutet das kritisch Neue, das Unerhörte in einer Zeit der Beliebigkeit?

Ich habe darauf auch keine fertige Antwort. Ich vermute aber, dass das wirklich Neue, wie immer, die Gegenwart in Frage stellen wird. Ich bin mir fast sicher, dass das wirklich Neue nicht darin besteht, die Beliebigkeit der Gegenwart durch Kunst noch einmal zu verdoppeln.

Vielleicht wird das Neue etwas zu tun haben

  • mit Stille inmitten von Getöse,
  • mit Bedeutungsanspruch inmitten von Beliebigkeit,
  • mit Sinn inmitten von Sinnverzicht und Besinnungslosigkeit,
  • mit Denken inmitten von Gedankenlosigkeit,
  • mit Anstrengung und Stil inmitten von Fun,
  • mit Freude inmitten von Frohsinn.

Das sind natürlich nur Vermutungen. Aber vielleicht ist es doch ein Zeichen, wenn ausgerechnet Harald Schmidt aufhört, in seiner Sendung Polen-Witze zu erzählen und stattdessen den Aufbau einer Verdi-Oper erklärt, um nur ein Beispiel zu nennen.

Ich weiß nicht, ob er recht hat mit seiner These, dass auf die Spaßgesellschaft das Pathos folgen wird. Eines scheint mir aber klar zu sein: das Neue von heute und morgen, das Sie entdecken und für das Sie ein Publikum suchen werden, wird eine ganz andere Gestalt haben als das Neue von Gestern. Es wird uns überraschen. Vielleicht wird es so paradox sein, wie der Titel einer kürzlich erschienen CD: "Quiet is the new loud" oder wie es Herbert Grönemeyer schon vor einiger Zeit formuliert hat: "Bleibt alles anders".

IV.

Wir brauchen einen Zugang zum Erbe, wir brauchen einen Zugang zum Neuen und wir brauchen, drittens, einen Zugang zu Fremdem.

Durch Kunst und Kultur finden wir zu unserer Identität und durch sie verstehen wir uns selber besser. Kunst und Kultur haben aber auch immer mit dem Fremden, dem Anderen zu tun. Kultur, die nur bei sich selber bleibt, verödet und wird steril. Kultur ist immer schon Begegnung, Dialog, Austausch, wechselseitige Befruchtung, Vermischung gewesen.

Wenn wir heute allerdings vom Dialog der Kulturen reden - nicht nur im internationalen Maßstab, sondern auch im eigenen Land - dann meinen wir etwas anderes als die bloße Übernahme fremder Stilelemente. Wir meinen damit den wirklichen Austausch mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, von denen viele inzwischen schon seit Jahrzehnten bei uns leben.

Natürlich können Kulturen keine Dialoge führen. Das können nur Menschen. Aber indem wir diese Begegnung "Dialog der Kulturen" nennen, wird klar, dass wir nicht nur ein intellektuelles Gespräch meinen und schon gar nicht Integration mit schlichter Assimilation verwechseln.

Wir meinen eine echte Begegnung mit all dem, was den anderen bestimmt, was ihn ausmacht, was seine Hoffnungen und Sehnsüchte, was seine Angst und seine Ehrfurcht ausdrückt.

Als die 'Kulturpolitische Gesellschaft' vor 25 Jahren gegründet wurde, hat kaum einer geahnt, wie notwendig ein solcher Dialog der Kulturen eines Tages werden würde. Ich glaube, dass es zu den ganz wichtigen kulturpolitischen Aufgaben gehört, diesen Dialog vor Ort, in Stadt und Land, mit all den Initiativen, die es überall gibt, möglich zu machen und dann auch zu führen.

Wir brauchen einen Zugang zum anderen, der über Herz und Verstand führt, über Kunst und Musik, über Literatur und Theater. Ich glaube, dass es hier sehr viele Möglichkeiten gibt, die bei weitem noch nicht alle genutzt werden und ich glaube, dass das eine der lohnendsten Aufgaben von Kulturpolitik ist.

V.

Kulturpolitik ist dazu da, Zugänge zu eröffnen oder offen zu halten, neue zu schaffen und verschüttete freizulegen. Kultur muss unter die Leute. Ich habe von drei Zugängen gesprochen - notwendigerweise ein wenig allgemein.

Ich weiß, dass Sie alle mit den Mühen der Ebene zu tun haben. Im alltäglichen Kampf um Geld und um Aufmerksamkeit, um Räume oder Personal wird in oft nur sehr kleinen Schritten verwirklicht, was mit dem wortgewaltigen Titel des Kongresses: 'Kultur Macht Politik' beschrieben wird.

Gerade Kulturpolitiker vor Ort, in den Städten und Gemeinden, erfahren oft mehr Ohnmacht als Macht - und sie haben mindestens so oft mit Haushaltstiteln und Kontoständen zu tun wie mit Kultur.

Das Erbe ist groß, doch es lastet schwer auf den Haushalten.

Das Neue meldet sich, doch es ist oft schwer vermittelbar.

Und die anderen Kulturen sind da, aber man schafft es noch nicht genug, zueinander zu kommen.

Gerade darum möchte ich Sie ermutigen, Ihre Arbeit weiterzumachen. Meine Einladung heute Abend hier ins Schloss Bellevue soll ein Zeichen sein für Sie alle, ein Zeichen des Dankes, des Respekts und der Ermutigung: Wir brauchen Ihre Arbeit, wir brauchen Ihre Phantasie und Ihre Entdeckerfreude, wir brauchen Ihr Engagement und Ihre Zähigkeit.

Über Macht und Geist reden wir vielleicht ein anderes mal. Zunächst soll es uns darum gehen, wie Kultur- auch durch politisches Handeln - lebendig bleiben und zu den Menschen kommen kann.